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Türkisch-kurdischer Konflikt eskaliert erneut

Bei den türkischen Parlamentswahlen Mitte Juni wurden auch Politiker der kurdischen Opposition gewählt, die in Untersuchungshaft sitzen. Üblicherweise kommen sie bei einem Wahlsieg frei - doch dieses Mal wurden sie nicht zugelassen. Die Kurden toben.

Von Gunnar Köhne |
    Es war ein beeindruckender Wahlerfolg: Mit rund 78.000 Stimmen hatte Hatip Dicle in der südostanatolischen Stadt Diyarbakir ein Direktmandat errungen - und das, obwohl der Kurdenpolitiker wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in einer PKK-nahen Organisation seit Monaten in Untersuchungshaft sitzt. Zur Wahl zugelassen wurde Dicle trotzdem - doch nun befand der Hohe Wahlrat in Ankara, dass der Politiker sein Mandat nicht antreten dürfe. An seiner statt ist mittlerweile eine Politikerin der regierenden AKP ins Parlament nachgerückt.

    Fünf weitere Mandate von kurdischen Parlamentariern sind ebenfalls in Gefahr. Die Kurden sind empört. 30 Abgeordnete ihrer Partei BDP, die in den kurdisch dominierten Wahlbezirken durchschnittlich über 60 Prozent der Stimmen erreichte, boykottieren seitdem die Parlamentsarbeit. Und auch die 135 Männer und Frauen der linksnationalen CHP sind dem Parlament bis lang ferngeblieben, weil auch zwei ihrer Kollegen ihr Mandat nicht wahrnehmen dürfen – sie sitzen wegen mutmaßlicher Beteiligung an Putschvorbereitungen in Untersuchungshaft. Regierungschef Erdogan scheint der Boykott der Opposition kalt zu lassen, Appelle, auf den politischen Gegner zuzugehen, ließ er bisher an sich abprallen. Dabei, so der Istanbuler Politikwissenschaftler Cengiz Aktar, sei auch Erdogan auf die Opposition angewiesen:

    "Erstmals in der Geschichte der Republik Türkei gibt es die Möglichkeit, gemeinsam eine neue Verfassung auszuarbeiten. Eine neue Charta des Zusammenlebens könnte man es auch nennen. Damit könnte das Problem Nummer eins in diesem Land, die Kurdenfrage, endlich gelöst werden. Die Regierung will eine neue Verfassung. Aber ich sehe nicht, wie sie eine neue Verfassung - und damit eine Lösung des Kurdenproblems - ohne die Opposition erreichen will."

    Statt einen parteiübergreifenden Konsens zu suchen – etwa über den Schutz von Minderheiten – provoziert die Regierung neue Spannungen.
    Die PKK erklärte, die Entscheidung der Wahlkommission komme einer "Kriegserklärung" gleich. Jüngste Anschläge auf Militärfahrzeuge und Polizeistationen im Südosten des Landes werden der PKK zugeschrieben.
    Dabei standen Regierung und Rebellen mehrfach vor einem Friedensschluss. Das legt jedenfalls ein aufsehenerregender Bericht zur Kurdenfrage vor, den der Publizist Cengiz Candar im Auftrag einer Istanbuler Politikstiftung erstellt hat. Candar verletzt darin die bisher übliche Sprachregelung zur PKK. Statt von "Terror" oder "Separatismus" spricht er von "Isyan", zu Deutsch: einer "Rebellion".
    Nicht bloß sprachlich dürfte der Bericht die Regierung reizen. Auch Candars Enthüllungen kommen Ankara ungelegen:


    "Jahrzehntelang sagte die türkischen Regierung: Mit Terroristen verhandeln wir nicht. Aber alle Regierungen der vergangenen 20 Jahre haben geheim mit der PKK und Abdullah Öcalan über einen Waffenstillstand und über die Kurdenfrage verhandelt. Man muss endlich akzeptieren, dass es keine andere so machtvolle kurdische politische Organisation gibt wie die PKK. Es gibt keine andere."

    Der Bericht schildert, wie Abgesandte der Regierung, aber auch der Armee, bis vor kurzem regelmäßig zur Gefängnisinsel Imrali übersetzten, um dort mit dem verurteilten PKK-Chef Öcalan zu verhandeln. Vor zwei Jahren sollen beide Seiten kurz vor einem Durchbruch gestanden haben. 35 Mitglieder der PKK durften aus ihrem Exil im Nord-Irak straffrei in die Türkei zurückkehren. Es sollte der Auftakt einer umfassenden Amnestie für PKK-Kämpfer sein, an deren Ende Öcalan seine schwer bewachte Einzelhaft mit einem lockeren Hausarrest hätte eintauschen dürfen. Doch die PKK inszenierte die Rückkehr ihrer Kämpfer als Triumphzug, die türkischen Nationalisten kochten vor Wut, der Deal zwischen Staat und PKK platzte.

    Seit dem Rauswurf ihres Abgeordneten Dicle aus dem Parlament zeigt die Kurdenpartei BDP nur noch wenig Bereitschaft zum politischen Dialog. Statt in Ankara, halten die BDP-Abgeordneten nun ihre Fraktionssitzungen in der Kurdenhochburg Diyarbakir ab. Dort wolle man weiter an einer kurdischen Autonomie arbeiten heißt es.

    Im türkisch-kurdischen Verhältnis stehen wieder einmal alle Zeichen auf Sturm. Ministerpräsident Erdogan sonne sich derweil im Erfolg der Wirtschaftsdaten, empört sich Cengiz Aktar, der Istanbuler Politologe; rund zehn Prozent hat die türkische Wirtschaft im ersten Halbjahr dieses Jahres zugelegt:

    "Wenn die Regierung glaubt, sie könne die politischen Probleme dieses Landes lösen, indem sie neue Straßen, Hochhäuser und Einkaufszentren bauen lässt – na dann viel Glück. Die Türkei wird dann einen schweren Rückfall in die Zeiten der Gewalt erleben."

    Deutschlandradio aktuell vom 13. Juni 2011: Erdogan gewinnt Türkei-Wahl