Vögel singen im grünen Grenzstreifen zwischen der Türkei und Syrien - ein schmales Band des Friedens zwischen zwei Kriegen. Drüben tobt der syrische Bürgerkrieg, und auch hier, auf der türkischen Seite, in dem kurdischen Städtchen Nusaybin, hat es noch im vergangenen Jahr schwere Kämpfe gegeben zwischen der kurdischen Terrororganisation PKK und der türkischen Armee. Derzeit ist es ruhig in Nusaybin, doch der Grenzübergang nach Syrien bleibt geschlossen. Nur die Vögel können die römischen Säulen im 300 Meter breiten Niemandsland zwischen den beiden Ländern besuchen. Es sind die Überreste des Eingangs zur Schule von Nisibis, der ersten Universität der Welt, wie sie hier sagen.
Das Herzstück der Schule aber ist auch für Menschen zugänglich, denn es steht 250 Meter weiter auf türkischem Gebiet: die frühchristliche Jakobskirche, erbaut zu Beginn des vierten Jahrhunderts von Jakob, dem ersten Bischof von Nisibis und Begründer der gleichnamigen Schule. Nur selten führt der Küster Besucher an den uralten Altar und stellt sich vor:
"Ich heiße Daniel und bin Christ - der einzige Christ in dieser Stadt. Ich kümmere mich hier um die Jakobskirche, den Sitz der Schule von Nisibis."
Einst im Herzen der Welt
Nisibis, so hieß Nusaybin im Altertum. Die Stadt lag damals im Herzen der Zivilisation. Die Kirche ist älter als die Hagia Sophia im heutigen Istanbul. Jakob, ihr Erbauer, wurde schon im Jahr 309 zum Bischof von Nisibis ernannt - also noch bevor das Römische Reich das Christentum legalisierte. Von hier aus reiste Jakob im Jahr 325 quer durch Anatolien ins 1.400 Kilometer entfernte Nicäa zum Ersten Ökumenischen Konzil, auf dem die theologischen Fundamente des Christentums gelegt wurden. Und hier begründete er die Schule von Nisibis, die vielen Gelehrten als erste Hochschule der Welt gilt. Es war für damalige Verhältnisse eine große Institution, berichtet der Küster, und wissenschaftlich anspruchsvoll:
"Damals wohnten hier zwischen 800 und 1000 Schüler. Gelehrt wurden die aramäische Sprache, Theologie, Philosophie, Logik, Literatur, Geometrie, Astronomie, Medizin und Recht."
Aramäisch war damals die führende Sprache dieser Weltgegend. Es war die Sprache von Jesus Christus und es ist auch die Muttersprache von Daniel: Der Küster zählt zu einer winzigen Minderheit orthodoxer Christen, der Syrisch-Orthodoxen Kirche von Antiochien, die hier im Südosten der Türkei ihre historische Heimat hat. Heute leben ihre Mitglieder überwiegend in Deutschland, Schweden und anderen westlichen Ländern. Rund 2.000 harren noch in ihrer Heimat aus, in einer Landschaft namens Tur Abdin, die nördlich von Nusaybin liegt und mit uralten Klöstern und Kirchen übersät ist. Leicht hatten es die Christen hier nie, erzählt Daniel:
"Im Jahr 363 ist Nisibis von den Sassaniden erobert worden. Da ist die Schule nach Urfa geflohen. Dort ist die Schule 140 Jahre lang geblieben, bevor sie hierher zurückgekehrt ist."
Eine umkämpfte Stadt
Jahrhundertelang ist um Nisibis immer wieder gekämpft worden - von Römern und Persern, von Artukiden und Ayyubiden, von Byzantinern und Osmanen. Das ist mit der Zeit nicht besser geworden. Erst im vergangenen Jahr lieferten sich kurdische PKK-Milizen und türkische Sicherheitskräfte monatelang erbitterte Kämpfe um Nusaybin; ganze Stadtviertel wurden in Schutt und Asche gelegt. Ein Artilleriegeschütz der Armee war genau vor der Jakobskirche postiert, erzählt Daniel:
"Sie haben von hier aus geschossen, direkt vor der Kirche. Ich musste fort und bin zu Verwandten in mein Heimatdorf geflohen. Aber weder der Kirche, noch der Moschee gegenüber ist etwas passiert."
Ein paar Kugeln stecken noch im Wasserspeicher auf dem Kirchendach, ansonsten ist die Kirche bei den Kämpfen unversehrt geblieben. Fast wie ein Wunder scheint das angesichts der Verwüstung rings umher - einige Stadtviertel wurden so zerstört, dass sie nun komplett abgerissen werden. Weniger Glück als die Kirche hatte allerdings der Küster selbst. In seinem christlichen Heimatdorf, 80 Kilometer von hier, wurde er von Bombensplittern verletzt, als die PKK dort einen Armeeposten angriff. Daniel wurde am Rücken getroffen, sein Schwager am Bein:
"Von hier bis da war das Bein aufgeschlitzt wie von einem Messer. Aber den Kindern ist nichts passiert."
Trotz seiner Verletzung kehrte der Küster nach Nusaybin zurück, als die Kämpfe vorüber waren. Die uralte Kirche brauche ihn, sagt er und zeigt auf verblasste Spuren von grünem Graffiti an der Außenwand, die er trotz aller Mühe nicht vollständig abgeschrubbt bekommt.
"Hier kann man es noch sehen. Da haben sie auf Türkisch und auf Arabisch hingeschmiert: Haut ab aus unserem Land. Dieses Land gehört uns."
Nur wenige Bewohner von Nusaybin stehen dem christlichen Kulturerbe so feindselig gegenüber, sagt Daniel, auch wenn die Bevölkerung der Stadt heute komplett moslemisch ist. Sein Monatslohn als Verwalter der Kirche wird seit einigen Jahren sogar von der kurdischen Stadtverwaltung bezahlt; daran hat sich auch nichts geändert, seit die Stadt nach den jüngsten Kämpfen unter Zwangsverwaltung der türkischen Regierung gestellt wurde. Ob und von wem er bezahlt werde, sei ihm egal, sagt der Küster, den die Syrisch-Orthodoxe Kirche hierher entsandt hat: Den Schutz und die Pflege der Jakobskirche von Nisibis sieht er als seine Lebensaufgabe.