"Mittlerweile sind fast 500 Akademiker dekretiert. Das heißt, sie dürfen jetzt in der Türkei nicht arbeiten. Denen geht's natürlich sowohl finanziell als auch existenziell nicht so gut. Aber sie versuchen, durch Solidaritätsakademien, durch Straßenvorlesungen sich aufrecht zu erhalten, wenigstens in psychologischem und emotionalem Sinne. Aber es ist eine schwierige Lage."
Die Soziologin Aslı Vatansever erzählt von der Situation türkischer Wissenschaftler ein Jahr nach dem Putschversuch. Sie selbst war noch vor diesem Militäraufstand als Gastdozentin nach Berlin gekommen. Jetzt lebt sie hier in Exil.
"Ich hatte erst mal ein Kurzzeitstipendium für vier Monate im Zentrum Moderner Orient. Dann wurde mein Stipendium um weitere drei Monate verlängert."
"Ihr Abgesang der Erleuchteten, ihr seid die Dunkelheit"
Die 37-jährige Wissenschaftlerin hatte in der Türkei mit mehr als 1.000 anderen Akademikern einen Friedensaufruf unterzeichnet, der die Regierung aufforderte, den Krieg gegen die Untergrundorganisation PKK im Südosten des Landes zu beenden und die Kurdenfrage politisch zu lösen. Ihre Hochschule entließ sie sofort aus dem Dienst. Später ließ der türkische Präsident Erdogan etwa die Hälfte der Unterzeichner suspendieren und ihre Pässe für ungültig erklären. Vatansever war aber bereits in Berlin. Den Friedensappell verurteilte Erdogan als eine terroristische Aktion.
"Unter denen, die sich vermeintlich mit der Würde von Akademikern und Wissenschaftlern schmücken, gibt es eine Bande. Der Staat, der die Bevölkerung und den Boden gegen die Terrororganisation verteidigt, wird angegriffen. Hey, ihr Abgesang der Erleuchteten, ihr seid die Dunkelheit."
"Es geht hauptsächlich ums Überleben"
Diese diffamierende Vorverurteilung sprach Erdogan noch vor dem Putschversuch gegen die Friedensakademiker. In der Türkei gelten seit dem Putschversuch vor einem Jahr Notstandsgesetze. Erdogan regiert per Dekret allein. Aslı Vatansever kennt persönlich etwa 60 türkische Akademiker, die nach dem Putschversuch nach Deutschland geflüchtet sind. Die meisten von ihnen seien in Berlin. Seitdem sie hier sei, werde sie von deutschen Medien gefragt, wie sie sich hier fühle. Diese Frage möchte sie nicht mehr beantworten, sagt sie.
"Das ist eine Frage, die wir exilierten Wissenschaftler vorsichtig zu vermeiden versuchen, weil sobald man sich diese Frage stellt, gerät man in eine depressive Stimmung. Momentan geht es hauptsächlich ums Überleben."
Netzwerk unterstützt verfolgte Wissenschaftler
Überleben im beruflichen Sinne, ergänzt Vatansever, die in der Türkei eine deutsche Schule besucht und später in Hamburg promoviert hat. In die Türkei kann sie nicht zurückgehen. Ihr Pass wurde für ungültig erklärt. Sie würde bei der Einreise sofort festgenommen werden und das Land nicht mehr verlassen können. Viele ihrer Mitstreiter seien in dieser Situation, erzählt Vatansever.
"Natürlich versuchen viele, ins Ausland zu gehen, weil sie in der Türkei keine Möglichkeit haben, ihr Leben zu bestreiten und ihre Forschungen fortzusetzen. Da versuchen wir durch unser Netzwerk zu vermitteln."
Alle Friedensakademiker stünden in engem Kontakt und versuchten, einander zu helfen - zum Beispiel, indem sie die Kollegen, die ausreisen dürfen, über Stipendien informieren. Aktuell unterstützt die Humboldt-Stiftung 41 deutsche Hochschulen mit Mitteln, damit sie verfolgte Wissenschaftler aufnehmen können. 41 der 56 Stipendiaten kommen aus der Türkei.
Aslı Vatansever meint, Erdogan wolle seine Macht zu einer Alleinherrschaft ausbauen. Eine baldige Aussicht auf eine Rückkehr in die Türkei sieht sie derzeit nicht. Ab August wird sie für ein Jahr an die Universität in Padua wechseln. Dann kommt sie zurück nach Berlin, dorthin, wo immer mehr türkische Künstler und Wissenschaftler ein neues Zuhause finden.