Sie rufen "Care", zu deutsch: "Hoffnung" - und dann seinen Namen: Mustafa Sarigül, der Istanbuler Bürgermeisterkandidat der oppositionellen Republikanischen Volkspartei CHP. Ihm werden gute Chancen eingeräumt, die Metropole am Bosporus von der AKP zurück zu erobern. Umfragen sagen ein Kopf-an-Kopf-Rennen voraus.
Sarigül ist heute nach Arnavutköy gekommen, ein Vorort weit vor den Toren der Stadt. Früher war es ein Armenviertel, heute entstehen vielerorts moderne Mehrfamilienhäuser. Auch hier haben sie von dem wirtschaftlichen Aufschwung der vergangenen zwölf Jahre unter Erdogan profitiert. Doch auch Sarigül hat als Bürgermeister des Istanbuler Innenstadtbezirks Sisli Erfolge vorzuweisen. Und: der Mann, der stets sorgfältig frisiert und in feinem Zwirn gekleidet auftritt, schlägt versöhnliche Töne an. Nach Monaten der politischen Schlammschlacht kommt das bei vielen Menschen an:
"Wir wollen ein Istanbul, wo niemand mehr ausgeschlossen wird. Zu uns gehört die Frau mit Kopftuch genauso, wie die Frau ohne. Derjenige mit Arbeit genauso wie der ohne. Wir stehen alle zusammen, wir lassen uns nicht auseinanderbringen!"
Ein paar Schritte weiter, am Stand der AKP gibt man sich unbeeindruckt. Die Wahlhelfer zeigen einen Stapel Beitrittsunterschriften - angeblich die Ausbeute eines Vormittags. Die Stimmung ist gereizt: Die Korruptionsvorwürfe seien Teil einer Verschwörung des In- und Auslandes, ruft eine junge Wahlhelferin mit eng gebundenem Kopftuch:
"Unser Herz gehört unserem Ministerpräsidenten. Er hat unser Land auf den 16. Platz der stärksten Wirtschaftsnationen geführt. Dieses Volk steht zu mehr als 50 Prozent hinter ihm."
Erdogan-Gegner wollen Wahlbeobachter schicken
Mustafa Sarigül, die Hoffnung der Erdogan-Gegner, verteilt derweil Parteischals und Wangenküsse an die Passanten. Er verspricht, in nur fünf Jahren 200 Kilometer U-Bahn bauen zu wollen. Solche unrealistischen Sprüche bringen ihm den Vorwurf ein, ein Populist vom Schlage Erdogans zu sein. Aber Sarigül verspricht auch mehr Bürgerbeteiligung und Transparenz. Etwa bei der Frage über die Zukunft des Gezi-Parks und anderer Großprojekte:
"Würden sich die Bürgermeister von Berlin oder München von der Regierung vorschreiben lassen, was mit ihren Innenstädten passiert? Aber hier ist das so. Überall ist auch nur der Ministerpräsident plakatiert, die lokalen Kandidaten spielen gar keine Rolle. Er kontrolliert alles, sorgt dafür, dass die Zeitungen für ihn schreiben und wir im Fernsehen nicht zu viel Redezeit bekommen."
Bei dieser Wahl geht es nicht mehr nur um neue Bürgermeister. Es ist eine Richtungswahl – Regierungschef Erdogan selbst hat sie dazu erklärt. Seit Wochen tourt er durch das Land, als stünde er selbst zur Wahl. Unter dem Druck der Korruptionsenthüllungen teilt er immer wütender gegen seine Gegner aus. An den beiden Städten Istanbul und Ankara wird sich so vermutet der Publizist Yavuz Baydar, die politische Zukunft des Landes entscheiden:
"Wenn Erdogan Istanbul und Ankara wieder gewinnt, dann stehen uns schwere Zeiten bevor. Er wird dies als Zustimmung zu alledem interpretieren, was er seit Mitte Dezember gesagt oder getan hat. Wenn er aber Istanbul und/oder Ankara verliert, dann wird seine Machtposition innerhalb der Partei geschwächt werden. Und die Oppositionsparteien werden es gleichzeitig als Triumph über Erdogan feiern. So oder so: Die bitter-geführten Auseinandersetzungen um die Macht werden weitergehen. Auf Kosten der politischen Stabilität im Land."
Die Erdogan-Gegner wollen am Sonntag im ganzen Land Zehntausende Wahlbeobachter neben den Urnen platzieren. In oppositionellen Medien gehen bereits Gerüchte um von verschwundenen Wahlzetteln und zahllosen mehrfach gemeldeten Wählern. Die Anspannung steigt von Stunde zu Stunde.