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Türkische Medien
Der Putsch und seine Helden

Eine Frau versucht, Soldaten auf der Bosporusbrücke aufzuhalten und wird angeschossen. Ein Restaurantbesitzer stoppt mit seinen Nachbarn eigenhändig die Panzer. Die türkischen Medien sind nach dem vereitelten Putsch voller Heldengeschichten. Der Personenkult um Präsident Recep Tayyip Erdogan nimmt zu.

Von Daniel Heinrich |
    Polizisten und Erdogan-Anhänger scharen sich um einen Panzer vor der Bosporusbrücke in Istanbul.
    Polizisten und Erdogan-Anhänger scharen sich um einen Panzer vor der Bosporusbrücke in Istanbul. (picture-alliance / dpa / Str)
    Safiye Bayat weint. Sie schluchzt. Tränen laufen ihr Gesichter herunter, benetzen das untere Ende Ihres Kopftuches. In der Coup-Nacht stand sie auf der Bosporusbrücke: Videoaufnahmen zeigen, wie sie alleine vor schwerbewaffneten Soldaten steht, sie beschimpft. Im Hintergrund sind Panzer zu sehen. Eine zierliche Frau, die sich waghalsig den Putschisten entgegenstellt. Das suggerieren die TV-Bilder. Das ganze Land ist zu Tränen gerührt.
    "Als ich die Nachrichten im Fernsehen gesehen habe, bin ich sofort zur Brücke gefahren. Ich habe überhaupt nicht nachgedacht. Wenn man sein Land liebt, dann muss man es doch beschützen. Ich bin direkt auf die Soldaten zugelaufen. Die Leute, die hinter mir auf der Brücke standen, haben geschrien: Komm zurück! Tu das nicht! Komm wieder her! Die bringen dich um! Die werden dich erschießen! Ich habe gar nicht auf die gehört. Ich wollte einfach nur wissen, was die Soldaten da tun. Und dann haben sie tatsächlich auf mich geschossen. Haben mir ins Bein geschossen. Danach kann ich mich an nichts mehr erinnern. Jemand hat mich ins Krankenhaus gebracht. Seitdem bin ich hier."
    Die 43-Jährige ist zur Heldin geworden in der Türkei, sie wird zur Heldin gemacht. In ihrem Krankenhauszimmer gibt sie inzwischen ein Interview nach dem anderen.
    Kleidung in die Auspuffrohre der Panzer gestopft
    Auch Mehmet Sükrukintas hat nicht viel Zeit. Das nächste Interview wartet schon. Der 37-Jährige empfängt vor seinem Restaurant. Es liegt in Basaksehir, 20 Kilometer vom Taksim-Platzt entfernt, eingezwängt zwischen Ausfallstraße, Tankstelle und Shoppingmall.
    "Als ich von dem Coup gehört habe, habe ich sofort meine Freunde und meine Nachbarn zusammengetrommelt. Tayyip Erdogan hatte uns doch dazu aufgerufen. Hatte gesagt, dass wir auf die Straßen gehen sollen. Dass wir diesen Coup stoppen sollen. Wenn der Präsident dich ruft, dann musst du doch folgen. Kurz bevor wir am Flughafen angelangt waren, haben wir die Panzer gesehen. Die Straße vor ihnen war blockiert. Sie kamen nicht weiter. Wir haben unsere T-Shirts ausgezogen. Wir haben unsere Hosen ausgezogen. Alle haben wir unsere Kleidung ausgezogen und haben unsere Sachen in die Auspuffrohre gestopft. Und tatsächlich nach fünf Minuten haben die Panzer angehalten. Die Soldaten haben die Heckklappe geöffnet und wir haben sie einfach rausgezogen."
    Auch Amnesty International steht am Pranger
    Eine Frau, die sich alleine Soldaten entgegenstellt. Ein Mann, der mit seinen Freunden eigenhändig Panzer aufhält. Die Narrative in der Türkei scheint klar: Helden auf der einen, Verräter auf der anderen Seite. So lautet der Tenor in einem Land, das derzeit nur Schwarz und Weiß zu kennen scheint. Andrew Gardner leitet das Büro von Amnesty International in der Türkei. Für ihn ist die Regierung mittendrin im großen Gegenschlag:
    "Es scheint so als ob die Regierung momentan eine Art Säuberungsaktion durchführt gegen alles und jeden, der in irgendeiner Art und Weise mit Fetullah Gülen in Verbindung gebracht werden könnte, egal wie weit hergeholt diese Anschuldigungen auch sein mögen. Dazu kann gehören, dass man auf eine bestimmte Schule geht, das man an einer bestimmten Schule unterrichtet. Das Ganze findet auf einer so breiten, so willkürlichen Art und Weise statt. Das ist nicht nur ein Risiko für diejenigen, die vielleicht sogar zum Gülen-Netzwerk gehören. Das ist auch ein Risiko für diejenigen, die rein gar nichts damit zu tun haben."
    Auch Amnesty International wird inzwischen von regierungsnahen Medien an den Pranger gestellt, wird beschuldigt die Putschisten unterstützt zu haben.
    Wütende Menge vor Sitz von Satirezeitung
    Wie gefährlich sich öffentliche Anschuldigungen auswirken können, das hat Zafer Aknar am eigenen Leib zu spüren bekommen. Aknar ist der Chefredakteur von "Leman", einem der berühmtesten Satiremagazine der Türkei. Das Magazin nimmt alle aufs Korn. Ob US-Präsident Obama, der türkische Präsident Tayyip Erdogan oder der Prediger und vermeintliche Drahtzieher des Putsches, Fetullah Gülen. Sie alle haben in letzter Zeit ihr Fett wegbekommen. Und dennoch: Ein paar Tage nach dem gescheiterten Putsch versammelte sich ein wütender Mob vor den Redaktionsräumen:
    "Diese Leute waren außer sich. Die haben geschrien: Wisst ihr nicht, was mit den Leuten von 'Charlie Hebdo' passiert ist? Wollt Ihr, dass Euch dasselbe angetan wird? Es war reiner Zufall, dass uns in dieser Nacht nichts passiert ist. Die Polizei war pünktlich zur Stelle und hat die Straße abgeriegelt. Wie fragil die Lage aber wirklich ist, ist uns bewusst geworden als die Polizei Razzien in unseren Druckereien durchführte. Die haben einfach alle Ausgaben unseres Magazins einkassiert."
    Journalist: Widerstand gegen Putsch wurde von oben organisiert
    Ecevit Kilic hat als investigativer Journalist unter anderem für die regierungskritische Zeitschrift "Cumhurriyet" gearbeitet. Er hat mehrere Bücher über den Einfluss der Regierung geschrieben:
    "In der Türkei reagiert nicht 'das Volk' auf einen Coup. Das hat einzig und alleine mit der Regierung zu tun. Und die jetzige Regierung hat ihre Schlüsse aus dem letzten Coup 1997 gezogen. Sie wissen ganz genau, wie man die Meinung der Öffentlichkeit steuern kann. Sie haben den Leuten direkt gesagt: Geht auf die Straße! Stoppt die Putschisten! Haltet sie auf! Ihr habt das in der Hand! Ihr, das Volk, habt die Macht! Die Leute auf der Straße, die wären niemals alleine in der Lage gewesen einen solchen Widerstand zu organisieren."
    In der Coup-Nacht bekam jeder Besitzer einer türkischen SIM-Card eine SMS auf sein Handy mit dem Aufruf, den Putschisten Widerstand zu leisten. Von den Minaretten der Moscheen wurden die Bürger im Halbstundentakt zum Widerstand, zum "Dschihad" gegen die Putschisten aufgerufen. Laut Andrew Gardner sind die Folgen der Regierungshandlungen eine Katastrophe für das ganze Land:
    "Die Regierung hält sich momentan nicht an das Gesetz, sie schert sich nicht um Menschenrechte. Und das wird langfristige Folgeschäden nach sich ziehen. Mehr als 20 Prozent der Judikative wurden zwangsbeurlaubt oder in Gewahrsam genommen. In vielen Ministerien, zum Beispiel dem Bildungsministerium, dem Finanzministerium wurden so viele Leute suspendiert. Diese Ministerien funktionieren überhaupt nicht mehr."
    Noch sind die Folgen dieser Handlungen nicht wirklich sichtbar. Man steht beispielsweise vor verschlossenen Türen, wenn man eine der Gülen-Bewegung nahe Schule besuchen möchte.
    Stolz auf "einen Anführer wie Tayyip Erdogan"
    Viele Türken stehen hinter den Handlungen der Regierung. Mehmet Sükrukintas kommt ins Schwärmen, wenn er an die Staatsspitze denkt.
    "Wenn man einen Anführer wie Tayyip Erdogan hat, dann sollte, dann darf man sich keine Sorgen um die Zukunft des Landes machen. Er hat versprochen, uns unter den führenden Ländern der Welt zu etablieren. Wir glauben daran. Wir vertrauen ihm. Wir müssen unserer Bürgerpflicht nun nachkommen. Er hat uns gesagt: Ihr müsst auf die Straßen gehen! Und sogar, wenn er uns sagt: Bleibt ein ganzes Jahr auf der Straße, dann werden wir ein Jahr auf der Straße bleiben!"
    Zurück am Krankenbett bei Safiye Bayrat bekommt die Interpretation des Putsches eine religiöse Note:
    "Bitte fangt an, den Allmächtigen zu glauben, bitte findet den Weg zu Gott, den Weg zum Islam! Das ist die einzige Art und Weise, wie wir gerettet werden können! Aber ich spreche vom wahren Islam. Ich meine nicht den Islam, dem die Gülen-Leute folgen. Ich meine den echten Islam. Die Regeln des Koran und des Propheten Mohammed sind das, worauf es ankommt! Alles andere verwässert die Religion! Versucht nicht, eure Lösung in anderen Interpretationen zu finden!"
    Brücke soll neuen Namen bekommen
    Die Geschichten von Safiye Bayat und Mehmet Sükrukintas. Die Verehrung der beiden. Es sind nur zwei Beispiele dafür, wie eine Mehrheit der türkischen Öffentlichkeit die Ereignisse der Putschnacht bewertet. Die Regierung arbeitet unterdessen weiter an der Geschichtsschreibung. Der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim hat angekündigt, die Bosporusbrücke in "Brücke der Märtyrer des 15. Juli" umzubenennen.