"Viele der älteren Leute haben geweint. Ihnen fiel das besonders schwer." Afise Ibrachimova erinnert sich an den Tag, als die Miliz mit schweren Geländewagen in ihr Dorf Malinovo im Norden Bulgariens vorrückte. Die Menschen wurden zum Rathaus getrieben, wo sie neue Ausweise und Papiere bekommen sollten.
Am 24. Dezember 1984 hatte die Regierung mit einer großen Operation zur Zwangsbulgarisierung begonnen: Angehörige der türkischen Minderheit sollten neue Namen bekommen - bulgarische und slawische Namen. Nichts mehr sollte an ihre türkische und muslimische Herkunft erinnern.
Zwangsbulgarisierung: neue Namen für die Toten
Afise war damals 24 Jahre alt: "Es war schwer. Auf einmal sollten wir unsere eigenen Kinder mit bulgarischen Namen ansprechen. Unsere Pluderhosen wurden verboten. Mein Mann musste ein Strafgeld zahlen, weil er sich einmal auf Türkisch unterhielt."
Zwischen Dezember 1984 und Februar 1985 wurden mehr als 800.000 ethnische Türken in Bulgarien gezwungen, ihre Namen zu ändern. Sogar die Toten bekamen nachträglich neue Namen. Grabsteine wurden abgeschliffen, Todesurkunden umgeschrieben.
Der damalige Versuch, die türkische Minderheit zu assimilieren und der darauffolgende Exodus vieler Türken wirkt bis heute nach im Verhältnis der ethnischen Türken zur bulgarischen Mehrheitsgesellschaft. Doch die Wurzeln dieses ethnisch-religiösen Konflikts reichen viel weiter zurück, bis ins 14. Jahrhundert – als Bulgarien Provinz des Osmanischen Reiches wurde. Und für fast 500 Jahre blieb.
Konflikt mit langer Geschichte
"Für die Beurteilung der Lage der türkischen Minderheit in Bulgarien nach der Etablierung des bulgarischen Staates 1878 bis ungefähr zum Zweiten Weltkrieg ist dieser Gründungsmoment, die Befreiung Bulgariens ganz wichtig", sagt Ulf Brunnbauer, Historiker und Direktor des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg.
Mit der Befreiung Bulgariens meint Brunnbauer den Aufstand gegen die Türkenherrschaft im 19. Jahrhundert, den russisch-osmanischen Krieg mit dem Sieg Russlands und die Gründung des Fürstentums Bulgarien, festgeschrieben im Berliner Vertrag von 1878. Darin werden die bulgarischen Türken als ethnische und religiöse Minderheit anerkannt.
Auch nach dem Ersten Weltkrieg wurden den Muslimen in Bulgarien Minderheitsschutzklauseln zugesichert. Eingehalten wurden sie nicht immer. Es gab Phasen der Diskriminierung und Unterdrückung.
Muslime sollten gute Kommunisten werden
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Bulgarien zur realsozialistischen Volksrepublik und Teil des Ostblocks. 1948 erklärte der damalige Chef der Bulgarischen Kommunistischen Partei, Georgi Dimitrov: "An unserer südlichen Grenze haben wir eine nichtbulgarische Bevölkerung - ein chronisches Geschwür in unserem Körper."
Die Kommunistische Partei sah in den bulgarischen Türken einen verlängerten Arm von Ankara und die Gefahr der Einflussnahme. Von diesem Misstrauen wird die bulgarische Minderheitenpolitik bis 1989 geprägt. Als Ergebnis verließen in mehreren Wellen hunderttausende Türken das sozialistische Bulgarien. Die Kommunistische Führung unterdessen hatte es sich zum Ziel gesetzt, den ökonomisch rückständigen Balkanstaat zu modernisieren. Dazu gehörte auch die Idee, die überwiegend traditionell lebende türkische Minderheit zu guten Kommunisten zu machen.
Der Historiker Ulf Brunnbauer: "Das Ziel der kommunistischen Regierung bis in die 1950 Jahre hinein war eine loyale türkische kommunistische Elite heranzuziehen. Es gab eine türkische Tageszeitung, die im kommunistischen Sinne schrieb. Es gab gezielte Förderprogramme für die türkische Jugend."
So wurden türkische Jugendliche etwa in Internate geschickt, um sie dem religiös konservativen Umfeld der Eltern zu entziehen. Bulgarische Türken, die der Kommunistischen Partei beitraten, wurden aufgefordert, gegen Kopftücher und andere islamische Symbole zu agitieren.
"Die Ehefrauen türkischer Parteifunktionäre wurden in Traktor-Anhängern durchs Dorf kutschiert. Sie trugen keine Kopftücher und sangen türkische Lieder, mit denen sie den Kommunismus priesen. Die Botschaft an alle anderen muslimischen Frauen war, dass die Moderne den Schleier verdrängen wird", erzählt Mehmet Yumer. Der Journalist gehört selbst der türkischen Minderheit in Bulgarien an; er ist ein ausgewiesener Kenner der Geschichte und Situation der Türken in Bulgarien.
Propaganda der bulgarischen Kommunisten
Nachdem 1956 Todor Schiwkow Chef der Bulgarischen Kommunistischen Partei geworden war, änderte sich der minderheitenpolitische Kurs. Auf wirtschaftliche und politische Stagnation antwortete die Parteiführung mit nationalistischer Propaganda, dazu gehörte es, die osmanische Vergangenheit als Unterdrückung der Bulgaren hervorzuheben und von erzwungener Islamisierung zu sprechen.
Stefan Detschev ist Professor für Geschichte an der Universität in Blagevgrad im Südwesten Bulgariens: "Zwei Thesen schienen damals gut für die Propaganda: Erstens habe das Osmanische Reich ganz gezielt die christliche Bevölkerung islamisiert und zweitens sei das mit Gewalt durchgesetzt worden."
Parteidokumenten zufolge sollte die nationale Rückbesinnung nur den "natürlichen historischen Prozess der Überwindung ethnischer Unterschiede" beschleunigen. Selbst in den kleinsten Kinosälen des Landes wurden Filme über grausame erzwungene Bekehrungen der Christen gezeigt. Tatsächlich hatte es während der Osmanischen Herrschaft in Bulgarien Phasen der Gewalt und Zwangsislamisierung gegeben. Von der kommunistischen Propaganda aber wurden sie aus Sicht von Historikern verstärkt und in manipulativer Weise dargestellt.
Stefan Detschev: "Auf diese Weise wurde der spätere Kurs der bulgarischen Kommunisten, der auf Namensänderung und Assimilation hinauslief, legitimiert."
Sorge vor Separatismus
Trotz Integrationsprogrammen und Bildungsoffensiven blieben die türkisch geprägten Regionen Bulgariens allerdings in ihrer sozio-ökonomischen Entwicklung hinter dem Rest des Landes zurück: Die bulgarischen Türken waren ärmer und schlechter ausgebildet als die Mehrheitsgesellschaft, und sie waren religiöser und lebten traditioneller. Der kommunistischen Staatsführung war das ein Dorn im Auge.
Der Historiker und Bulgarien-Experte Ulf Brunnbauer: "Es gab besonders im Kopf vom Parteichef Todor Schiwkow die Befürchtung, dass es unter den Türken separatistische Tendenzen geben könnte, weil sie relativ kompakt gelebt haben."
Anfang der 70er Jahre stieg der Druck auf die türkische Minderheit merklich. Regimetreue Bulgarisch-Lehrer wurden in die sogenannten "gemischten" Wohnkreise entsandt, um dort die Sprache zu unterrichten und den Einfluss des Islams zurückzudrängen. Dies war das Vorspiel für die Zwangsbulgarisierung, die dann im Winter 1984 begann, beschlossen im engsten Zirkel von Staatschef Schiwkow. Das Regime hatte bereits Erfahrung mit Namensänderungen in anderen muslimischen Bevölkerungsgruppen gemacht – bei den Pomaken und den Roma. Der Zeitpunkt für die Bulgarisierung der Türken schien strategisch gut zu sein: Die Türkei war mit aufständischen Kurden und der Zypernfrage beschäftigt. Und die Sowjetunion erlebte zu jener Zeit eine tiefe politische Krise. Die bulgarischen Kommunisten sahen darin eine Gelegenheit zum Handeln.
"Wiederhergestellte Bulgaren"
Der Historiker Stefan Detschev erforscht die totalitäre Vergangenheit Bulgariens: "Im Kurs der bulgarischen Kommunisten entfaltete sich schließlich die gesamte totalitäre Ideologie, die zum Ziel hatte, eine absolut homogene Gesellschaft zu schaffen. Für Minderheiten gab es in dieser Vorstellung und auf dieser demographischen Karte keinen Platz mehr."
Im Dezember 1984 gab Innenminister Dimitar Stojanov grünes Licht für die Operation der Zwangsumbenennung. Die Menschen wurden in die Rathäuser und Meldeämter gebracht, wo sie sich von einer Liste einen neuen slawisch-christlichen Namen aussuchen sollten.
Der heute 68jährige Mustafa Karnobatla hat diese Zeit miterlebt: "Mein Sohn war damals in der zweiten Klasse. Nach der Namensänderung wollte er nicht mehr zur Schule gehen. Alle kannten ihn doch unter seinem türkischen Namen!"
Offiziell war von wiederhergestellten Bulgaren die Rede. Die Geschichte einer ganzen Bevölkerungsgruppe sollte durch einen administrativen Akt überschrieben werden.
Wer dagegen protestierte, musste mit der Härte der kommunistischen Diktatur rechnen: Hunderte Aufständische landeten im Arbeitslager oder wurden abgeschoben, erzählt der Zeitzeuge Osman Oktaj. "Die Regimegegner in die Türkei abzuschieben, war für die Kommunisten gefährlich - sie hätten dort nämlich weitererzählen können, was sie in Bulgarien erlebt hatten. Deshalb wurden viele nach Wien abgeschoben. Doch über Radio Free Europe haben wir ihre Berichte trotzdem gehört."
Menschenrechtsorganisationen meldeten sich zu Wort, berichteten über die Vorgänge in Bulgarien. Harsche Kritik kam aus der Türkei, etwas diskretere auch aus Moskau.
Türken sollten ausreisen
Im Mai 1989 suchte Staatschef Todor Schiwkow nach einem Ausweg. Im bulgarischen Fernsehen kündigte er an, was fortan als "großer Ausflug" bezeichnet wurde: Er forderte die ethnischen Türken indirekt auf, das Land freiwillig zu verlassen. Das war auch deshalb bemerkenswert, weil die bulgarische Mehrheitsbevölkerung keine Reisefreiheit genoss.
Mehr als 300.000 Menschen folgten der Aufforderung. Kilometerlang stauten sich überfüllte Autos und Lastwagen vor dem türkischen Grenzübergang Kapitan Andreewo.
Abseits der Straße entstanden Lager, erzählt Zeitzeuge Mustafa Karnobatla: "Ich bekam Gänsehaut, als ich das alles sah. Das Feld war hart wie Beton. Auf dem Boden lagen Babys, auch alte Menschen. Als eine Feuerwehrsirene ertönte, sprangen die Frauen auf und wollten weglaufen. Sie hatten Angst."
Die Türkei aber war mit den vielen Neuankömmlingen überfordert. Ende August schloss sie die Grenze. Ihre Situation war nun verheerend, denn viele hatten vor der geplanten Ausreise ihren gesamten Besitz zu Spottpreisen verkauft.
Im November 1989, zu jener Zeit, als die Berliner Mauer fiel und der sozialistische Ostblock ins Wanken geriet, da stürzte auch Bulgariens Staatschef Todor Schiwkow. Sein großes Ziel, Bulgarien zu einem homogenen sozialistischen Staat zu machen, hat aus Sicht von Experten nur zu einem Erstarken des Nationalismus geführt und die Spannungen zwischen den ethnischen Türken und der bulgarischen Mehrheitsbevölkerung verstärkt. Auch eine enorme Protestbewegung unter den bulgarischen Muslimen hat er befeuert: Im Dezember 1989 gehen sie zu Tausenden auf die Straße und fordern ihre türkischen Namen zurück.
Ihr Protest war erfolgreich. Am 29. Dezember 1989 gab das Zentralkomitee der Bulgarischen Kommunistischen Partei den Forderungen der Muslime nach Wiederherstellung ihrer ursprünglichen Namen nach.
Eine Partei für die türkische Minderheit
Wenig später gründete sich die Bewegung für Rechte und Freiheiten, kurz DPS. Eine ethno-religiöse Partei, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die Interessen der türkischen Minderheit in Bulgarien zu vertreten. Dissidenten und Intellektuelle trugen diese Bewegung zunächst mit.
"Uns ging es darum, dass wir alle zusammen – Bulgaren, Türken, Roma, Pomaken, Muslime und Christen – nach gemeinsamen Lösungen suchen", erinnert sich Michail Ivanov, Minderheiten-Berater des ersten demokratisch gewählten Präsidenten Bulgariens, Schelju Schelew.
Mit der Zeit entwickelte sich die DPS jedoch zu einer autoritären Partei, sie wurde von Korruptionsfällen erschüttert. Allerdings schafften es die anderen bulgarischen Parteien nicht, die türkischen Wähler für sich zu gewinnen. "Der Staat, die Parteien kehren den bulgarischen Türken den Rücken. Viele wissen, dass das nicht in Ordnung ist. Aber die Parteispitzen wollen nicht auf die Stimmen der nationalistisch gesinnten bulgarischen Wähler verzichten."
Eine öffentliche Entschuldigung für die Zwangsbulgarisierung ließ lange auf sich warten. Erst 2012 verabschiedete das bulgarische Parlament eine Deklaration, in der es die Zwangsassimilation verurteilt. Die Aufforderung zur Ausreise wird darin als "ethnische Säuberung" bezeichnet.
Unbewältigte Zwangsbulgarisierung
Mit rund neun Prozent Bevölkerungsanteil bilden die Türken heute die größte Minderheit in Bulgarien. Die Mehrheit der Bulgaren bekennt sich zum orthodoxen Christentum. Vorbehalte gegenüber den muslimischen Türken sind auch heute noch in der bulgarischen Gesellschaft präsent.
Viele beklagen Diskriminierung und Benachteiligung, so Birali Birali, der stellvertretende Großmufti in Bulgarien. Aus seiner Sicht hat sich die Situation für die muslimische Minderheit und vor allem für die ethnischen Türken in Bulgarien verschärft, seit die radikale Rechte in die Regierung eingebunden ist, also seit der Parlamentswahl 2017. "Bei jedem Anlass kommt sofort: ‚Raus mit euch! Was habt ihr hier zu suchen?! Wir sagen immer wieder, dass Bulgarien unser Land ist. Wir wollen uns nicht ständig wie Bürger zweiter Klasse fühlen und uns rechtfertigen müssen."
Der Historiker Stefan Detschev sieht eine Ursache für die Spannungen vor allem darin, dass die totalitäre Vergangenheit in Bulgarien kaum aufgearbeitet worden sei: "Als erstes müsste sich die bulgarische Gesellschaft die Frage der Schuld und der Mitverantwortung stellen. Die Zwangsbulgarisierung passierte ja in ihrem eigenen Land, ohne dass sie auf irgendeine Weise darauf reagiert hätten.
Schutzmacht Türkei
Für viele Muslime in Bulgarien gilt die Türkei nach wie vor als schützende Macht. Die traditionellen religiösen Feste und Rituale, verboten im Sozialismus, erscheinen heute für den Zusammenhalt der oftmals isoliert lebenden Minderheit umso wichtiger.
"Unter den Gläubigen gibt es auch Erdogan-Anhänger. Doch traditionell ist in Bulgarien der Kemalismus stark. Und das, was heute in der Türkei passiert, ist eine Zerstörung des Kemalismus. Es ist Neoosmanismus. Grundlage dieser Ideologie ist es zwar nicht, ehemalige Territorien wieder zurückhaben zu wollen, aber den politischen Einfluss auf die Region des früheren Osmanischen Reiches will man schon zurück", so der frühere Präsidentenberater Michael Ivanov.
So unterstützte die Türkei in den vergangenen zehn Jahren zwei Parteigründungen in Bulgarien. Doch bisher konnten sie sich bei den bulgarischen Türken nicht durchsetzen.
Als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan kürzlich eine Videobotschaft zum DPS-Parteitag schickte, sprach er von den "Brüdern und Schwestern in Bulgarien", seine Worte verbreiteten sich auch in den sozialen Netzwerken in Bulgarien.
Anziehungskraft der Türkei lässt nach
Mehment Yumer: "Besonders der Einfluss der Erdogan-Medien in Bulgarien ist gefährlich. Wir schauen hier vor allem türkische Kanäle. Natürlich hat das auch Auswirkungen auf unsere Gesellschaft, wenn den bulgarischen Muslimen zum Beispiel von morgens bis abends gezeigt wird, wie die Hagia Sophia in Istanbul vom Museum zur Moschee verwandelt wird."
Umso wichtiger sei die weitere europäische Integration des EU-Landes Bulgarien. Auch wenn die Türkei für die türkische Minderheit noch immer der wichtigste außenpolitische Bezugspunkt ist – ihre Anziehungskraft lässt Umfragen zufolge besonders unter der jüngeren städtischen Bevölkerung nach.
Zudem wird seit dem EU-Beitritt 2007 die Gesellschaft in Bulgarien insgesamt liberaler, vielfältiger und der langsam wachsende Wohlstand führt auch unter den Türken zu mehr Selbstbewusstsein, beobachtet Michail Ivanov, Minderheiten-Berater des früheren bulgarischen Präsidenten Schelew: "Viele Menschen waren im Westen und haben Auslandserfahrung. Andere haben hier eine gute Ausbildung absolviert, eine gute Arbeit gefunden. Die Situation hat sich verändert. Sie müssen nicht mehr den lokalen Chef der Türkenpartei anbetteln, um einen Laden in der Stadt zu eröffnen. Sie sind unabhängiger geworden."