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Türkische Offensive in Syrien
"Das Wegducken der europäischen Politiker rächt sich"

Durch die türkische Invasion in Nordsyrien könnte tausenden IS-Kämpfern, die dort in Gefängnissen kurdischer Milizen säßen, die Flucht gelingen, warnte die Nahost-Expertin Kristin Helberg im Dlf. Europa trage Verantwortung sowohl für IS-Anhänger mit europäischem Pass als auch für die kurdischen Verbündeten.

Kristin Helberg im Gespräch vom Jasper Barenberg |
Rauch steigt nach einer türkischen Militäroffensive gegen kurdische Milizen in Nordsyrien auf.
Die Türkei hat mit ihrer Militäroffensive in Nordsyrien begonnen (Lefteris Pitarakis/AP/dpa)
Jasper Barenberg: Nach ersten Luftschlägen und Angriffen mit Artilleriegeschützen haben inzwischen auch türkische Soldaten die Grenze im Norden Syriens überschritten. Aktivisten in der Region berichten von mehreren Todesopfern. Mit der insgesamt dritten Invasion seit 2016 will der türkische Präsident Erdogan die syrisch-kurdische Miliz YPG vertreiben. Zum anderen will er einen etwa 30 Kilometer breiten Streifen unter türkische Kontrolle bringen – auch, um dort dann später syrische Flüchtlinge aus der Türkei anzusiedeln.
International wird die Militäroffensive teils scharf verurteilt, auch von der Bundesregierung. Die EU-Staaten fordern Ankara in einer gemeinsamen Erklärung auf, die Operation abzubrechen. In New York wird heute der UN-Sicherheitsrat beraten. Zurückhaltend dagegen hat sich NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg geäußert. Kristin Helberg hat Jahre in Damaskus gearbeitet. Sie hat Bücher über Syrien geschrieben und ist jetzt am Telefon. Schönen guten Morgen, Frau Helberg.
Kristin Helberg: Guten Morgen, Herr Barenberg.
"Sehr besorgniserregend"
Barenberg: Kaum hat der Militärschlag begonnen, gibt es erste Berichte über starke Fluchtbewegungen in der Region. Ist das die erste und unmittelbare Folge der türkischen Militäroperation, dass Hunderttausende vor den Kämpfen fliehen werden?
Helberg: Zunächst mal sind es Tausende, die aus der Region um Tel Abyad fliehen. Das Gebiet ist nicht so dicht besiedelt, wie andere Teile dieses geplanten Korridors im Norden. Aber wir haben auch gehört, dass es schon Beschuss gab der Stadt Qamishli - das ist ganz im Osten dieser Region und das ist ein großes kurdisches Bevölkerungszentrum, 300.000 Menschen - und auch der Stadt Kobane im Westen dieses geplanten Korridors, und das sind nun wirklich große kurdische Städte. Wenn Erdogan tatsächlich planen sollte, die unter türkische Kontrolle zu bringen, dann ist das sehr besorgniserregend.
Barenberg: Und davon müssen wir ausgehen, dass die Operation angesagt ist, einen hunderte Kilometer breiten und 30 Kilometer tiefen Streifen unter türkische Kontrolle zu bringen. Was sagen Sie? Mit wie vielen Flüchtlingen werden wir zwangsläufig rechnen müssen?
Helberg: Zunächst mal fliehen diese Zivilisten Richtung Süden und Richtung Osten. Sie könnten irgendwann die Grenze in den Irak überqueren. Aber wir haben auch gleichzeitig das Problem, dass aus den etwa sieben Gefängnissen für die IS-Kämpfer Menschen entkommen könnten, denn die kurdischen Milizen konzentrieren sich jetzt auf den Kampf gegen die Türkei und haben nicht mehr die Möglichkeiten, diese Gefängnisse und auch diese Lager zu beschützen. Das sind 10.000 bis 12.000 IS-Kämpfer, die dort festsitzen, plus 80.000 Verwandte, Frauen und Kinder, und dort könnte eine Situation entstehen, eine Form von Chaos, die diese Kämpfer dann nutzen. Wer einen europäischen Pass hat - das sind einige tausend dieser Kämpfer -, könnte dann versuchen, auch über den Irak womöglich unkontrolliert nach Europa zurückzukehren. Da rächt sich dann natürlich dieses Wegducken der europäischen Politiker, die sich ja weigern, Verantwortung zu übernehmen für diese Menschen, die sich in Europa radikalisiert haben und dem IS angeschlossen haben.
"Europa hat eine große Verantwortung"
Barenberg: Sind Europa in Ihren Augen die Hände gebunden? Ist Europa quasi ohne jeden Einfluss auf die Entwicklung dort vor Ort jetzt?
Helberg: Nein, Europa hat ganz im Gegenteil eine große Verantwortung für den Nordosten Syriens. Auch die Bundeswehr war ja beteiligt an der Anti-IS-Koalition mit Aufklärungsflügen. Wir haben eine Verantwortung für die kurdischen Verbündeten, die dort 11.000 Kämpferinnen und Kämpfer verloren haben, am Boden im Kampf gegen den IS. Wir haben eine Verantwortung wie gesagt für unsere IS-Kämpfer mit deutschen Pässen, mit europäischen Pässen. Und wir haben auch eine Verantwortung für die Zerstörung, die dieser Anti-IS-Kampf dort mal angerichtet hat, beispielsweise in Städten wie Rakka, die wiederaufgebaut werden müssen. Dem kommen wir nicht nach.
Und wir könnten natürlich uns einsetzen und sagen, okay, wir schaffen hier tatsächlich eine Pufferzone, denn wenn der türkische Präsident von Sicherheitsinteressen spricht, dann muss man sich ja fragen, worum geht es eigentlich. Warum trennen wir nicht diese Kontrahenten, Türkei auf der einen Seite, die YPG, die Volksverteidigungseinheiten, die kurdischen, auf der anderen Seite, mit einer international überwachten Pufferzone, wie es auch übrigens die YPG gefordert haben, die gesagt haben: Wir ziehen uns zurück, zehn Kilometer von der Grenze, aber bitte wenn eine Zone entsteht, die international durch UN-Truppen, durch europäische Truppen überwacht wird. Aber das ist gar nicht der Plan von Herrn Erdogan. Er möchte ja eigentlich eine Form von türkischem Protektorat schaffen und dieses ganze Grenzgebiet unter dauerhafte türkische Kontrolle stellen.
"Europa ist sehr erpressbar gegenüber der Türkei"
Barenberg: Und deswegen auch, nehme ich mal an, hat Außenminister Heiko Maas die Operation jetzt auf das Schärfste, wie er sich ausdrückt, verurteilt. Aber wenn Sie sagen, dass es eine Pufferzone geben könnte, dann bedeutet das doch jetzt auch: Unter den Bedingungen jetzt, wo es eine Invasion gibt, die Europa ablehnen muss, kann sich die Europäische Union, kann sich Europa nicht mehr an so einem Plan einer Pufferzone beteiligen, oder?
Helberg: Nun, es ist nie zu spät, um so etwas vorzuschlagen, muss man sagen. Das Problem ist, dass Europa natürlich sehr erpressbar ist gegenüber der Türkei, weil Präsident Erdogan ja immer wieder die Karte mit den Geflüchteten spielt. Der deutsche Innenminister war ja dort. Wir machen ja eigentlich keine Außenpolitik mehr in dieser Region zum jetzigen Zeitpunkt, sondern unsere Syrien-Politik besteht darin, Geflüchtete abzuwehren, die Syrer uns fernzuhalten. Wenn Herr Erdogan dann natürlich sagt, ich muss einen Teil meiner 3,6 Millionen Syrer jetzt in dieser Pufferzone ansiedeln, dann stößt das womöglich sogar auf Verständnis unter deutschen Politikern.
Das wäre aber tatsächlich eine Form von ethnischer Säuberung oder eine demographische Veränderung der Region, weil diese Syrer ja gar nicht aus dem Nordosten überwiegend stammen. Das bedeutet, andere Bevölkerungsteile, nämlich die Kurden, würden vertrieben. Das bedeutet mehr Geflüchtete, mehr Vertreibung, und das wirkt sich am Ende auch wieder negativ auf Europa aus. Insofern ist das, was Herr Erdogan plant, eben nicht dienlich für Frieden oder Stabilität in diesem Gebiet.
Assad und Putin als Gewinner
Barenberg: Es gibt ja auch schon Berichte darüber, dass die Kurden jetzt wiederum Kontakt mit dem Regime von Diktator Assad in Damaskus aufnehmen. Werden die Kurden Assad um Hilfe bitten?
Helberg: Ich denke, ja, und ich denke, das syrische Regime hat beiden Parteien sehr viel anzubieten. Das syrische Regime wird den Kurden sagen: Seht her, wir können hier unsere Landesgrenze beschützen, wir werden diese türkische Offensive aufhalten für euch, dafür müsst ihr aber natürlich eure Autonomie aufgeben. Präsident Assad möchte den Nordosten wieder administrativ und geheimdienstlich und militärisch unter seine Kontrolle bringen, denn der Nordosten ist wichtig. Dort in diesem Gebiet liegt das wenige Erdöl und Erdgas, was Syrien hat. Das ist für die Versorgung des Landes zumindest doch entscheidend.
Und das ist dann das Angebot an Herrn Erdogan, dass Präsident Assad sagt: Lieber Präsident Erdogan, wir können die Kurden einhegen, wir werden diese Autonomie beenden und damit die Hauptgefahr bannen, die ja aus türkischer Sicht dort besteht, nämlich eine funktionierende autonome Region. Auf der türkischen Seite der Grenze leben auch 15 Millionen Kurden und genau das ist ja Herrn Erdogans Problem, dass die nicht ermutigt werden sollen.
Diesen ganzen Deal zwischen dem syrischen Regime in Damaskus, zwischen der Türkei und den kurdischen YPG-Einheiten, das wird wahrscheinlich Präsident Putin vermitteln, der russische Präsident, dem dieser Rückzug der Amerikaner sehr gelegen kommt, weil er jetzt sicherstellen kann, dass sein Schützling Präsident Assad auch dieses Gebiet, ein Drittel, ein Viertel des syrischen Staatsgebietes, wieder unter eigene Kontrolle bringen wird.
Erdogan will eine Art Protektorat in Syrien
Barenberg: Und das bedeutet auch, Frau Helberg, dass sich im Norden Syriens bald Truppen eines NATO-Mitglieds Auge in Auge mit der syrischen Armee gegenüberstehen werden?
Helberg: Das kann passieren und am Ende wird Präsident Erdogan sagen, mir sind die Truppen des syrischen Machthabers Assad an der Grenze lieber als die Waffenbrüder der PKK. Denn aus Sicht der Türkei ist Assad in diesem Moment ein geringeres Übel und aus Sicht der Kurden ist dann Herr Assad auch das geringere Übel, und diese Rolle spielt er ja seit Jahren sehr geschickt.
Barenberg: Welche Einflussmöglichkeiten hat dann überhaupt die US-Regierung noch, nachdem Donald Trump der Türkei quasi freie Hand gegeben hat für diese Invasion?
Helberg: Wir hören ja jetzt, dass einige US-Senatoren planen, Sanktionen zu verhängen, womöglich das Vermögen von Präsident Erdogan einzufrieren. Das sind natürlich massive Ankündigungen. Aber ich denke, dass tatsächlich Präsident Erdogan diesen Rückzug von Trump als grünes Licht verstanden hat, auch wenn das die USA jetzt nicht so verstanden haben wollen oder nicht so ausgesendet haben wollen. Präsident Erdogan hat diese Offensive lange vorbereitet. Er hat nur den richtigen Moment abgewartet und für ihn ist der Rückzug der Amerikaner die einmalige Gelegenheit, das zu wiederholen, was er ja schon in anderen Teilen Nordsyriens gemacht hat – 2016 nördlich von Aleppo, 2018 in Afrin.
Genau da sehen wir, worum es Herrn Erdogan eigentlich geht. Es geht darum, ein türkisches Gebiet, ein türkisch kontrolliertes Gebiet auf syrischem Boden zu schaffen, eine Art Protektorat, und die Demographie, die Bevölkerungsstruktur dort so nachhaltig zu verändern, mit Arabern anzusiedeln, Kurden zu vertreiben, so dass keine Gefahr mehr besteht eines zusammenhängenden Kurden-Gebietes oder irgendwelcher Ambitionen auch der Kurden in der Türkei.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.