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Türkische Regierungskritiker
Lieber AKP statt Gülen

Die große Mehrheit der Türken ist mit dem Vorgehen der Regierung seit dem gescheiterten Putschversuch einverstanden. Auch viele Regierungskritiker. Ihr Argument: Die AKP habe ein Gesicht, einen Standpunkt, ein Programm. Ganz im Gegensatz zur Gülen-Bewegung.

Von Luise Sammann |
    Erdogan-Anhänger mit Fahnen, im Hintergrund Porträt von Erdogan auf einem Bildschirm
    Viele Intellektuelle beobachten eine zunehmende Spaltung der Gesellschaft, die durch die Gülen-Bewegung noch verstärkt werden könnte. (ADEM ALTAN / AFP)
    Der Ring in Eylems Nase sagt eigentlich schon alles. Die 29-jährige Istanbulerin mit Struwwelhaar und Che-Guevara-Tattoo auf dem Arm kann mit Erdogan und der islamisch-konservativen AKP nichts anfangen. Als vor drei Jahren die Gezi-Proteste ausbrachen, kündigte Eylem ihren Job und zog in den Park, um für eine andere Türkei zu kämpfen.
    Heute sitzt sie in Yeldegirmeni – dem Viertel der Aussteiger und Regierungsgegner auf der asiatischen Seite Istanbuls. Statt erneut zu demonstrieren, rührt sie nachdenklich in ihrem Cay.
    "Während Gezi hatten wir diese Wut in uns und die trieb uns auf die Straße. Aber heute fühle ich gar keine Wut. Ich bin höchstens verwirrt und irgendwie ratlos. Ich schaue mir an, was hier passiert, wie eine Zuschauerin. Dieser Kampf zwischen Erdogan und Gülen – der geht mich überhaupt nichts an."
    Eylem blickt dem Gemüseverkäufer hinterher, der laut rufend einen Karren voller Bohnen und Zwiebeln vorbeischiebt. Die 29-Jährige ist nicht die Einzige, die derzeit keinen Grund zum Demonstrieren sieht. Studien zeigen: Die große Mehrheit der Türken ist mit dem Vorgehen der Regierung seit dem gescheiterten Putschversuch einverstanden.
    Bisher sind es nur einige Intellektuelle, die in den Verhaftungs- und Entlassungswellen einen, so ein türkischer Journalist, "Erdogan-Putsch", sehen.
    "Ich finde es richtig, dass die Gülenisten ein für alle Mal aus dem Staatswesen entfernt werden",
    meint Tarik, studierter Politikwissenschaftler und Kurde, der in Yeldegirmeni eine Saftbar betreibt. Mit ausgestreckten Beinen sitzt er auf dem Bürgersteig in der Sonne und wartet auf Kunden.
    "Eine Partei wie die AKP kann man ablehnen und mit Argumenten bekämpfen. Sie hat ein Gesicht, einen Standpunkt, ein Programm. Aber die Gülen-Bewegung ist keine Partei. Das sind Leute wie Mafiabosse, die versteckt operieren, auf eine Art organisiert, die keiner durchschaut, mit Zielen, die keiner genau kennt. Die sind gefährlich. Da ist mir Erdogan lieber. Der ist wenigstens gewählt worden."
    Veränderter Alltag
    Tarik grinst. Niemals hätte er gedacht, dass er eines Tages ausgerechnet Erdogan verteidigen würde. Heute aber tut er es. Die Verhaftung von Tausenden Verdächtigen hält er für beängstigend aber auch logisch. Immerhin habe es einen Putschversuch gegeben ...
    Doch obwohl der Alltag in der Türkei weitergeht und sich der Ausnahmezustand für Normalbürger bisher kaum bemerkbar macht - auch in Yeldegirmeni ist nicht mehr alles wie sonst. Während und nach den Gezi-Demonstrationen sprachen die Menschen hier gerne mit Journalisten.
    Heute schrecken viele zurück, sobald sie ein Mikrofon sehen. Wer sich traut, will anonym bleiben. So auch der Philosophiestudent, der einige Straßen weiter tief über seinen Laptop gebeugt in einem Café sitzt. Can ist nicht sein wirklicher Vorname:
    "Früher hatte ich nie Angst meine Meinung zu sagen. Jetzt schon. Ich habe angefangen, kritische Tweets von meinem Account zu löschen, sogar ein paar Bilder. Man hört, dass sie Leute auf der Straße anhalten und ihre Handynachrichten und Social-Media-Seiten durchstöbern. Wer etwas Falsches geschrieben hat, wird mitgenommen."
    Angst vor dem eigenen Nachbarn
    Can sitzt an diesem Morgen nicht nur vor dem Laptop, um verdächtige Tweets zu löschen, sondern er sucht dort gerade nach Jobs im Ausland.. Während der Gezi-Proteste, sagt er, wollte er kämpfen. Jetzt möchte er nur noch weg. Nicht nur aus Angst vor der Regierung, sondern auch vor einer Gesellschaft, deren unüberwindbare Spaltung sich in diesen Tagen deutlicher denn je zeigt.
    Als Can in der Putschnacht panisch ein Taxi suchte, um nach Hause zu kommen, wollte kein Fahrer den jungen Mann mit den Ohrringen und seine Freundin im vielleicht viel zu kurzen Rock mitnehmen. Das, sagt Can, habe ihn noch mehr geängstigt als die Möglichkeit irgendwann verhaftet zu werden.
    "Es ist, als ob die AKP-Anhänger eine Art Rache für die Gezi-Zeit nehmen wollten, in der wir – nicht sie – auf den Straßen waren. Was die Regierung macht, ist zumindest irgendwie berechenbar. Aber das Schlimmste ist, wenn du Angst vor deinen eigenen Nachbarn hast. Ich misstraue inzwischen dem Typen, der im Supermarkt neben mir steht oder den Eltern, mit deren Kindern mein Sohn vielleicht eines Tages spielt. Das ist das wirklich Beängstigende im Moment."