Es gab keinen Zweifel. Die Erklärung, die die türkische Religionsbehörde Diyanet Ende März auf ihrer Website veröffentlichte, konnte nur ein Ziel haben: Kurz vor den wichtigen Kommunalwahlen sollten die Gläubigen auf den Kampf eingeschworen werden, in dem sich ihre Regierung zur Zeit befindet: Gestern noch der beste Freund Erdogans, ist der Prediger Fethullah Gülen zu dessen Erzfeind mutiert. Die angeblichen Korruptionsbeweise im türkischen Internet werden Gülens Leuten zugeschrieben. Wer ihm gestern noch folgte, soll ihn deswegen heute hassen. Die Erklärung glich da einer Orientierungshilfe: Vergesst Gülen, folgt Erdogan!
"Die Privatsphäre zu verletzen, Recht und Moral zu missachten, Lügen und Beleidigungen zu verbreiten. All das lässt sich niemals mit unserer religiösen Ergebenheit vereinbaren! Das traurige Ende derer, die den Islam missbrauchen, um zu Macht zu gelangen, hat die Geschichte oft genug gezeigt. Wir sollten nicht vergessen, dass all diese falschen Dinge unsere nationale und religiöse Existenz gefährden. Sie können unsere soziale Struktur zerstören!"
"Eine Behörde der Machthabenden"
Die Strategie ging auf. Der Sieg der AKP bei den Kommunalwahlen war klar und deutlich. Der infolge des schmutzigen Machtkampfs erwartete Stimmverlust blieb aus. Nicht zuletzt die Erklärung der Religionsbehörde könnte dabei eine Rolle gespielt haben.
"Viele Menschen hier gestalten ihr Leben nach den Anweisungen dieser Institution",
bestätigt die Istanbuler Wissenschaftlerin Istar Gözaydin, die sich seit Jahren kritisch mit dem Einfluss der Diyanet auseinandersetzt.
"Dabei ist sie am Ende vor allem eine Behörde der Machthabenden. Nehmen wir das Thema Abtreibung: Jahrelang waren Abtreibungen durch die Religionsbehörde mehr oder weniger akzeptiert, passend zur damaligen Staatsräson. Aber seit die AKP-Regierung seit einiger Zeit ein Abtreibungsverbot vorantreibt, hat sich auch die Haltung der Diyanet verändert."
Die Diskussion um die türkische Religionsbehörde ist nicht neu. Doch seit die Erdogan-Regierung die Spaltung der Gesellschaft in religiöse und säkulare Bürger vorantreibt, melden sich auch wieder häufiger die Kritiker der Diyanet zu Wort. Auch solche wie Cafer Solger, eine der führenden Stimmen der alevitischen Gemeinde im Land:
"Als die Diyanet 1924 gegründet wurde, unterstellte man einfach, dass alle Bürger sunnitische Muslime seien. Die Behörde war dazu da, um an deren Interpretation des Islams zu arbeiten. Also eigentlich, um eine Art Staats-Islam zu formen."
"Die Wurzel vieler beleidigender und diskriminierender Ansätze"
Andere Muslime wie die Aleviten waren in diesem Plan nicht vorgesehen. Und sie sind es bis heute nicht. So profitiert die Religionsbehörde zwar von den Steuern jedes türkischen Bürgers - egal, ob Atheist oder Gläubiger, Schiit, Sunnit, Christ oder Jude. Doch kein Nicht-Sunnit bekommt im Gegenzug etwas aus dem riesigen Topf ausgezahlt, mit dem die Gehälter von Tausenden Imamen, die Bauten von sunnitischen Moscheen und die Korankurse für Kinder im ganzen Land finanziert werden. Statt von der türkischen Religionsbehörde sollte also von der sunnitischen Religionsbehörde die Rede sein, fordert Alevit Cafer Solger. Und ihr Budget sollte sie unter ihren eigenen Gläubigen einsammeln, so wie seine Gemeinde es von jeher tut.
"Die Diyanet hat nie irgendwas für die Aleviten getan. Im Gegenteil: Sie ist die Wurzel vieler beleidigender und diskriminierender Ansätze gegen uns. Als wir Aleviten zum Beispiel in den 1990er-Jahren begannen, unsere eigenen Gotteshäuser, die Cem-Häuser, zu eröffnen, konnte ihr Vize-Präsident einfach öffentlich behaupten, dass das keine Gebetsorte seien, sondern Orte zum Trinken und Feiern! Solche ideologischen Erklärungen beeinflussen die Menschen im Land."
1,8 Milliarden Euro Budget
Das bekommt in diesen Tagen vor allem die in Ungnade gefallene Gülen-Bewegung zu spüren, deren Anhänger von der Religionsbehörde vorher lange mit Wohlwollen betrachtet wurden. Keiner weiß deswegen, wen es als nächstes treffen könnte. Als Mustafa Kemal Atatürk das Land und damit auch die Religionsbehörde kontrollierte, wurden gar unbedeckte Männerköpfe zum Thema: Der Republikgründer führte in den 1920er-Jahren die Hutpflicht ein - und plötzlich lautete die Anweisung der Diyanet: Hut tragen ist religiöse Pflicht! Als viele Jahrzehnte später das Militär putschte und Tausende in Gefängnissen verschwanden, verkündete die Religionsbehörde eine Dankes-Fatwa, in der es am Ende hieß: "Gott schütze die Armee".
"Und heute haben wir eben eine AKP-Regierung und damit beherrschen deren Vertreter die Diyanet. Das alles zeigt: Diese Behörde steht nicht eigentlich für die Religion oder für die Bürger, sondern für die jeweilige Regierung. Sie gibt Erklärungen zu den Themen, die den Machthabern gerade passen."
Daran allerdings dürfte sich trotz immer wieder aufflammender Kritik von Minderheitenvertretern und Säkularen so bald nichts ändern. Ein Blick auf den Haushaltsplan der türkischen Regierung für 2014 zeigt, wie wichtig die Diyanet Ministerpräsident Erdogan offensichtlich ist: Mit 1,8 Milliarden Euro ist das Budget der Religionsbehörde größer als das von dreizehn anderen Ministerien in Ankara.