Stefan Heinlein: Auch am siebten Tag der türkischen Offensive gegen kurdische Milizen in Nordsyrien bleibt die Lage unübersichtlich. Beide Seiten melden militärische Erfolge. Eine unabhängige Bewertung dieser Meldungen ist für Beobachter kaum möglich. Sicher ist: In den umkämpften Gebieten nahe der Grenze sind Hunderttausende Menschen auf der Flucht. An der Front gibt es kaum Rücksicht auf die Zivilbevölkerung. Weder die von den USA verhängten Sanktionen, noch das mühsam ausgehandelte Waffenembargo der EU scheinen Präsident Erdogan zu beeindrucken. Seine Armee muss sich jetzt auch den Truppen von Syriens Machthaber Assad entgegenstellen. Es droht ein langer Krieg mit vielen Opfern.
Rund drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln leben bei uns in Deutschland. Viele haben enge familiäre Bindungen in die Türkei. Nicht wenige Verwandte, Freunde und Bekannte, die in der Armee kämpfen oder in der Nähe der Grenze zu Syrien leben. Darüber möchte ich jetzt reden mit dem Bundesvorsitzenden der türkischen Gemeinde in Deutschland, Gökay Sofuoğlu. Guten Morgen!
Gökay Sofuoğlu: Guten Morgen!
Heinlein: Seit einer Woche kämpft die türkische Armee in Nordsyrien. Mit welchen Gefühlen, mit welcher politischen Meinung beobachtet die türkische Gemeinde in Deutschland diesen Krieg?
Sofuoğlu: Wie jede kriegerische Auseinandersetzung beobachten wir die ganze Entwicklung natürlich mit großer Sorge. Wir sind natürlich immer für friedliche Lösungen solcher Konflikte und es ist leider wieder so, dass man jetzt beobachten muss, wie die Menschen sterben, wie jetzt Soldaten auch sterben, wie die Menschen auch auf der Flucht sind, und natürlich die Folgen, die jetzt auch in Deutschland auf uns zukommen.
"Das Ganze wird eher emotional bewertet"
Heinlein: Heißt das, Herr Sofuoğlu, der Krieg der türkischen Armee in Nordsyrien wird hier aus Deutschland von der türkischen Gemeinde eher kritisch gesehen? Oder gibt es eine Unterstützung für die türkische Armee durch die türkische Gemeinde hier in Deutschland?
Sofuoğlu: Es ist natürlich auch wie in der Vergangenheit sehr unterschiedlich. Es gibt Befürworter, es gibt Gegner, und da sind die Geister wieder ganz unterschiedlich. Wir von der türkischen Gemeinde sind natürlich immer für die friedlichen Lösungen bei solchen Konflikten und ich denke, dass gerade eine sehr große Emotionalisierung stattfindet, dass Menschen jetzt nicht rational entscheiden können, sondern dass eher emotional das Ganze bewertet wird. Deswegen sollten auch alle Parteien darüber nachdenken, welche Folgen das für die Menschen im Gebiet hat und auch welche Folgen das jetzt hier für die Menschen im Ausland und für uns hat. Es sollten alle nach einer friedlichen Lösung suchen, weil so, wie es sich entwickelt, so wird es natürlich sehr verheerende Folgen haben.
"Befürworter werden in nächster Zeit auf die Straße gehen"
Heinlein: Aus der Türkei, so melden es unsere Korrespondenten, gibt es eine Art patriotische Grundstimmung. Alles stellt sich hinter Präsident Erdogan. Ist das hier anders, wenn ich Sie richtig verstehe, in Deutschland? Wird das kritischer gesehen?
Sofuoğlu: In Deutschland ist das nicht anders. Es gibt wie gesagt Befürworter, die jetzt wahrscheinlich in der nächsten Zeit auf die Straße gehen. Es gibt auch Gegner, die jetzt seit einigen Tagen auf der Straße sind und das Ganze kritisieren. Es wird auch in Deutschland sehr kontrovers darüber diskutiert, was natürlich auch die Folge hat, dass es teilweise auf den Straßen zu Gewalttaten kommt.
Heinlein: Wie passt das – und darüber wird in Deutschland ja sehr ausführlich berichtet – dazu, dass die türkische Nationalmannschaft, dass auch türkische Spieler, die hier in der Bundesliga spielen, aber auch bis runter in die Kreisliga, dass Fußballspieler jetzt einen militärischen Gruß zeigen? Das spricht doch eher dafür, dass es diese patriotische Grundstimmung auch bei den Türken hier in Deutschland gibt.
Sofuoğlu: Es gibt diese patriotische Grundstimmung in Deutschland. Das zeigt sich auch bei den Fußballspielern, die diese Militärgrüße zeigen, jetzt auch in Frankreich und auch der Spieler von St. Pauli, der jetzt auch von der Mannschaft suspendiert worden ist. Ich bin der Meinung, dass Sport und Politik und vor allem, wenn es um kriegerische Auseinandersetzungen geht, auf den Fußballplätzen nichts zu suchen haben.
"Wir fordern, dass die Parteien sich zusammensetzen"
Heinlein: Präsident Erdogan erklärt, die Kurden, die PKK, die YPG, das sind Terroristen, die bedrohen die Sicherheit unseres Landes, der Türkei. Ist diese Argumentation richtig in den Augen der türkischen Gemeinde hier in Deutschland?
Sofuoğlu: Diese Argumentation ist wie gesagt bei einigen Menschen wichtig. Bei uns in der türkischen Gemeinde, also im Verband, wird auch sehr kontrovers diskutiert. Wir als Verband fordern natürlich eine friedliche Lösung, dass es nicht zu einem Krieg führt, diese Militäroffensive, was ja auch von der türkischen Regierung deklariert wird, dass jetzt auch die russische und syrische Armee sich wappnen, dass es wohl zu einem Krieg zwischen den Ländern führen kann, was natürlich auch die Ursachen hat, dass viele Menschen, Millionen Menschen auf die Flucht gehen. Wir fordern weiterhin, dass die Parteien sich zusammensetzen und dass sie auf jeden Fall diplomatisch nach einer friedlichen Lösung suchen, weil kriegerische Auseinandersetzungen haben bisher in dem Gebiet überhaupt keine Probleme gelöst, und ich gehe nicht davon aus, dass die Probleme auch in Zukunft so gelöst werden können.
Rolle der PKK
Heinlein: Können Sie sich persönlich vorstellen, Herr Sofuoğlu, dass Sie gemeinsam mit dem Vorsitzenden der kurdischen Gemeinde hier in Deutschland, Herrn Toprak, auftreten und diesen Friedensappell, den Sie jetzt schon mehrfach gesagt haben, gemeinsam artikulieren?
Sofuoğlu: Ich habe das Gefühl, dass wir jetzt unterschiedliche Vorstellungen haben, was Friedensappelle angeht. Wenn man Friedensappelle macht, muss man natürlich alle an einen Tisch einladen. Man muss natürlich auch die Realität sehen, dass die PKK seit Jahrzehnten in dem Gebiet versucht, mit Terror zum Ziel zu kommen. Man muss auch an die PKK appellieren, dass es keine Lösung ist. Wie gesagt, da ist es gerade ein bisschen schwierig, auch in der Definition der ganzen Geschichte. Wir sind für eine friedliche Lösung, aber dazu gehören alle. Wenn man jetzt nur eine Seite beschuldigt und die andere Seite in Schutz nimmt, das ist keine ehrliche Meinung. Deswegen müssen wir ehrlich sein. Wir müssen alle Parteien in Verantwortung ziehen und alle Parteien müssen an den Tisch kommen. Da gehört natürlich Syrien und da gehören auch die anderen Beteiligten, die jetzt in dieser Militäroffensive beteiligt sind, dazu.
Heinlein: Das klingt ein wenig hohl in meinen Ohren, Herr Sofuoğlu, wenn Sie sagen, alle Seiten müssen an einen Tisch, aber Sie können sich nicht vorstellen, mit dem Vertreter des kurdischen Verbandes hier in Deutschland, Toprak, gemeinsam ein starkes Signal zu setzen für den Frieden, den Sie fordern. Warum nicht?
Sofuoğlu: Wir haben das auch in der Vergangenheit gemacht. Deswegen habe ich versucht, noch mal zu deklarieren, dass auch ehrlich gemeinte Friedensappelle eine Wirkung haben, statt nur Lippenbekenntnisse. Da müssen wie gesagt beide Seiten versuchen, ihre Mitglieder zur Besinnung aufzurufen, und wenn Herr Toprak das macht, dann ist das okay. Das werden wir auch machen. Deswegen muss man nicht unbedingt zusammenkommen.
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