Ursula Mense: Die Weltbank hat ihre Wachstumsprognose 2017 für die Türkei auf 2,7 Prozent gesenkt, die Direktinvestitionen sind im vergangenen Jahr um 31 Prozent eingebrochen und die Arbeitslosigkeit liegt bei über 11 Prozent. Keine guten Eckdaten für einen Präsidenten, der seinen knappen Sieg beim Referendum über die Verfassungsreform auch dem wirtschaftlichen Aufschwung verdankt, den er dem Land einst bescherte und auf den die Menschen offenbar wieder hoffen. Ist die Hoffnung berechtigt und wie reagiert die türkische Wirtschaft auf den Wahlausgang?
Darüber habe ich vor der Sendung mit Jan Nöther gesprochen. Er ist geschäftsführendes Vorstandsmitglied der deutsch-türkischen Industrie- und Handelskammer in Istanbul. Ich habe ihn gefragt, was der Ausgang des Referendums in der Türkei für die türkischen Unternehmen bedeutet.
Jan Nöther: Man hofft nun darauf, dass die emotionale Rhetorik einer eher sachlichen weicht. Die türkischen Unternehmen hoffen natürlich darauf, dass sich eine Besserung einstellt. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, allerdings ist auch das Vertrauen der türkischen Unternehmen in die Regierung hoch. Man hat vor nicht allzu langer Zeit ein Programm in die Wege geleitet, das zusätzliche Beschäftigung generieren sollte. Bislang sind die Unternehmen da recht positiv drauf angesprungen. In den letzten vier Wochen wurden mehr als 400.000 neue Arbeitsplätze in der Türkei geschaffen. Natürlich hofft man auch darauf, dass mit dem Ende dieses Referendums eine Stabilität zurückkehrt hinsichtlich der Währung. Denn das ist etwas, was die türkische Wirtschaft dringend benötigt: eine stabile Währung, da man doch sehr importabhängig agiert.
Mense: Gilt das für alle Branchen?
Nöther: Das gilt insbesondere für die Branchen, die auf den hiesigen türkischen Markt ausgerichtet sind. Die exportabhängige Industrie reagiert hier etwas unabhängiger von der türkischen Lira. Man generiert US-Dollar oder Euro, und das kommt natürlich denjenigen, die im Exportgeschäft tätig sind, entgegen.
Mense: Und die anderen? Warum sind die besonders abhängig von der Lira?
Nöther: Insbesondere die Unternehmen, die auf den lokalen Markt ausgerichtet sind, weil sie hohe Importanteile haben, weil die Nachfrage in der Türkei gegenwärtig ja, der wirtschaftlichen Situation angepasst, nicht hoch ist und damit die Unternehmensergebnisse beeinträchtigt werden. Daher sind diejenigen, die auf den lokalen Markt fixiert sind, von der gegenwärtigen Situation besonders hart getroffen.
"Viele Branchen bieten nach wie vor gute Ertragsaussichten"
Mense: Es gibt auch Forderungen in der Türkei von der Arbeitnehmerseite nach einem Inflationsausgleich. Ist denn so etwas realistisch im Moment?
Nöther: Gegenwärtig ist das wenig realistisch, wenn wir von einer Inflationsrate ausgehen, die ja nahe zehn Prozent sich gegenwärtig bewegt. Die Unternehmensergebnisse lassen solche Spielräume nicht zu, wenn es um Gehaltsverhandlungen geht. Es gibt da natürlich auch Ausnahmen, das sind die insbesondere technologiegetriebenen Unternehmen in der Türkei, die nach wie vor hohes Wachstum erfahren und damit auch gute Ergebnisse erzielen, die sie zum Teil dann auch wieder in Boni, in Gehaltsanpassungen umwälzen können.
Mense: Also unterm Strich, es gibt durchaus Bereiche der türkischen Wirtschaft, denen geht es nach wie vor ganz gut und vor allen Dingen nicht so schlecht wie der Tourismusbranche?
Nöther: Absolut. Es gibt in der Türkei eine große Anzahl von technologiegetriebenen Unternehmen, von Unternehmen, die in dem Bereich Automotive aktiv sind. Energieunternehmen, Infrastruktur, Logistik, all diese Branchen bieten nach wie vor gute Ertragsaussichten. Das sind Branchen, die mit Wachstum gekennzeichnet sind, und auch auf Sicht mit Wachstum gekennzeichnet werden.
Zollunion soll erhalten bleiben
Mense: Vielleicht noch kurz ein Wort, Herr Nöther, zur EU und der ja durchaus problematischen Beziehung Erdogans nach Brüssel. Er hat ja mit Breitseiten gegen die EU nicht gespart und riskiert jetzt den endgültigen Bruch möglicherweise, wenn er die Pläne einer Wiedereinführung der Todesstrafe wahr macht. Fürchten Sie das Ende der Zollunion?
Nöther: Zu hoffen ist, dass es nicht so heiß gegessen wird, wie es gekocht wird. Mit anderen Worten, die Wirtschaft hofft darauf, dass die emotionale Rhetorik der sachlichen Rhetorik weicht und damit man an den Verhandlungstisch geht, die Themen mit den jeweiligen Partnern bespricht. Die Türkei ist sich dessen sicherlich im Klaren, dass eine sehr starke Abhängigkeit von den Ländern der EU gegeben ist, sei es Handel, seien es Investitionen, und dies sollte auch eine Fortsetzung erfahren. Wenn nicht durch einen EU-Beitritt, der ja in weite Ferne gerückt ist im Augenblick, so doch durch die Neuverhandlung der Zollunion, die in diesem Jahr anstehen soll.
Mense: Und Sie denken, dass Erdogan durchaus selbst ein Interesse hat, die Zollunion mit der EU zu erhalten oder vielleicht sogar weiter auszubauen?
Nöther: Unbedingt. Das wirtschaftliche Interesse ist groß. Die Bevölkerung möchte natürlich auch weiterhin an einem Wachstum der Türkei partizipieren. Die Unternehmen benötigen zusätzliche Arbeitsplätze, um der demografischen Entwicklung gerecht zu werden. Von daher bietet die EU-Partnerschaft über die Zollunion da eine große Möglichkeit, in die richtige Richtung zu gehen.
"Deutsche Unternehmen sind sehr positiv unterwegs"
Mense: Jetzt haben wir bisher über die türkische Wirtschaft gesprochen. Vielleicht noch kurz: Wie sehen denn deutsche Unternehmen in der Türkei für sich die Lage jetzt, nach dem Referendum?
Nöther: Die deutschen Unternehmen sind, jetzt völlig unabhängig vom Referendum, hier durchaus positiv unterwegs. Wir haben mehr als 6.800 deutsche Unternehmen in der Türkei. Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei stehen und standen auch vor dem Referendum auf einem sehr festen Fundament. Die türkischen Unternehmen gelten als verlässliche Partner, soll heißen, dass eine Vielzahl der Unternehmen, die jetzt völlig unabhängig vom Referendum Investitionspläne in die Türkei hinein fassten, an diesen Investitionsplänen auch festhalten. Die langfristigen Aussichten werden hier durchaus als positiv bewertet.
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