Die Vorwürfe kommen von den Menschenrechtsorganisationen Human Rights Watch, Amnesty International und Stakewatch. Nach ihren Angaben schicken türkische Behörden an den Grenzen Syrer und Iraker zurück. Der türkische Botschafter in Deutschland, Hüseyin Karslıoğlu, verwies zunächst ausweichend auf die Hilfsanstrengungen seines Landes, das bereits 2,8 Millionen Menschen aufgenommen habe und sie täglich versorge. Deswegen seien solche Vorwürfe wenig plausibel und gingen zu weit.
Human Rights Watch berichtet von einem Lager im osttürkischen Erzurum, gefördert mit EU-Mitteln, von wo aus Flüchtlinge zurück nach Syrien geschickt würden. Darauf angesprochen sagte Karslıoğlu: "Wir zwingen niemanden, in ein Land zurückzugehen, wo ein Bürgerkrieg ist."
Auf dem EU-Gipfel in Brüssel in der Nacht ging es darum, wie die Türkei der Europäischen Union bei der Bewältigung des Flüchtlingszustroms helfen kann. Karslıoğlu forderte eine faire Gegenleistung der EU dafür, dass die Türkei Flüchtlinge, die auf dem Weg nach dort seien, wieder zurücknehme und versorge. "Es ist eine faire Lastenverteilung", sagte er. Die Hilfspakete seien "für die Menschen, die in der Türkei verbleiben werden", um Camps und Schulen zu bauen und für einen menschenwürdigen Unterhalt zu sorgen. Bisher habe die Türkei dafür 10 Milliarden Dollar ausgegeben.
Auf die Kritik an der Übernahme der regierungskritischen Tageszeitung "Zaman" angesprochen, sagte der türkische Botschafter, hier sei nicht gegen die Pressefreiheit vorgegangen worden, sondern gegen eine Organisation, die einen Parallelstaat in der Türkei schaffen wolle. Es geht um die Organisation des Erdogan-Gegners Fetullah Gülen, der im Exil lebt. Karslıoğlu sagte, andere oppositionelle Zeitungen würden weiter drucken und schreiben.
Der Botschafter äußerte sich auch zum Fall der beiden Journalisten der Zeitung "Cumhuriyet", die wegen der Unterstützung von Terrorakten festgenommen worden waren. Sie wurden vom Verfassungsgericht freigelassen, "so funktionieren die Gerichte". Dass Präsident Erdogan das kritisiert hat, kommentierte Karslıoğlu so: "Was das Gericht sagt, zählt, was die Politiker sagen, ist eine andere Sache."
*Anmerkung der Redaktion:
In einer ersten Zusammenfassung des Interviews haben wir die Haltung des Botschafters zur Zeitung "Zaman" missverständlich wiedergegeben. Wir haben dies inzwischen korrigiert.
In einer ersten Zusammenfassung des Interviews haben wir die Haltung des Botschafters zur Zeitung "Zaman" missverständlich wiedergegeben. Wir haben dies inzwischen korrigiert.
Das Interview in voller Länge:
Jasper Barenberg: Damit hatten die meisten Gipfelteilnehmer gestern nicht gerechnet, dass die Türkei mehr anbietet, aber auch eine ganze Reihe von Gegenleistungen verlangt. Das brachte den Zeitplan beim Gipfel gestern in Brüssel gehörig durcheinander. Am Ende verständigten sich die Beteiligten mit dem türkischen Ministerpräsidenten auf einige Grundsätze. Nächste Woche soll dann weiter beraten werden.
Am Telefon begrüße ich den türkischen Botschafter in Deutschland, Hüseyin Avni Karslıoğlu. Schönen guten Morgen.
Hüseyin Avni Karslıoğlu: Guten Morgen, Herr Barenberg.
Barenberg: Herr Botschafter, warum ist gestern eine Einigung nicht zustande gekommen?
Karslıoğlu: Also, von der türkischen Seite her ist ein sehr offener und sozusagen ein Durchbruch erreichender Vorschlag gemacht worden, indem wir gesagt haben, wir nehmen diese Flüchtlinge wieder auf. Aber es muss auch dementsprechend eine faire Gegenleistung gemacht werden, und dafür müssen sich die EU-Länder dann auch etwas leisten.
Barenberg: Und warum, glauben Sie, sind die EU-Partner bisher noch nicht bereit, was die Visafreiheit angeht oder was Beitrittsverhandlungen angeht, auf die Türkei zuzugehen?
Karslıoğlu: Das müssen Sie natürlich die EU fragen. Vielleicht war dieser Vorschlag zu neu und zu offen, um sich einen Gedanken darüber zu machen, und vielleicht muss man sich absprechen. Aber von unserer Seite her war das ein sehr großer Schritt, es so zu formulieren.
Karslıoğlu fordert Lastenausgleich durch EU
Barenberg: Nun hat die Türkei schon große Lasten zu tragen, mit den vielen Flüchtlingen, die dort schon sind, die sie versorgen müssen und unterbringen. Warum bietet die Türkei jetzt an, alle Flüchtlinge aus Griechenland zurückzunehmen?
Karslıoğlu: Sehen Sie, dieser Vorschlag sieht auch vor, dass, wenn man die irreguläre - viele sagen illegale, aber es ist irregulär -, dass diese Menschen wieder auf die türkische Seite zurückgehen, dort versorgt werden in Camps, und dafür muss natürlich die EU auch einen Lastenausgleich leisten, und dass man diese Menschen dann auf eine reguläre Weise in die EU aufnimmt. Es war immer die Rede, dass man irreguläre Flüchtlinge nicht aufnehmen soll, aber die sollen auf reguläre Weise kommen. Die sollen sich bewerben, ihre Lage erklären und dementsprechend werden sie mit dem UNHCR von Europa aufgenommen. Das war von Anfang an die Rede, aber es wird leider nicht umgesetzt. Diese Rückübernahme und das Resettlement muss natürlich auch gelingen, denn man kann nicht alle Menschen in der Türkei aufhalten. Das ist eine zu große Last. Wie Sie wissen, haben wir mittlerweile 2,8 Millionen Flüchtlinge. Das ist das Doppelte aller in der EU sich aufhaltender syrischen Flüchtlinge. Und dementsprechend muss auch eine Hilfe geleistet werden. Es ist eine faire Lastenverteilung.
Barenberg: Gehen wir mal davon aus, dass es zu dieser Vereinbarung am Ende kommt. Was wird die Türkei dann machen mit den Flüchtlingen, die aus Griechenland zurück in die Türkei gehen?
Karslıoğlu: Wie ich eben sagte. Mit diesen Hilfspaketen, die wir auch bekommen sollten - und das ist nicht für die türkische Wirtschaft, das ist nicht für den türkischen Haushalt. Wir haben unseren Haushalt im Griff. Das ist für die Menschen, die in der Türkei verbleiben werden, dass man die Camps baut, dass man die Schulen baut, dass man ihnen die Möglichkeit gibt, einen mehr oder weniger menschenwürdigen Unterhalt dort zu haben. Die Türkei hat bis jetzt fast zehn Milliarden Dollar für die in den Camps wohnenden Menschen gegeben. Die NGOs, das Volk, für das Gesundheitswesen, das wir auch leisten, wurden viel, viel höhere Summen ausgegeben, und das muss man auch bedenken.
Botschafter bestreitet Rückführung von Flüchtlingen nach Syrien
Barenberg: Es gibt Berichte darüber, es gibt auch Videoaufnahmen und Klagen von Menschenrechtsorganisationen, Human Rights Watch beispielsweise, dass die Türkei systematisch Bürgerkriegsflüchtlinge zurück nach Syrien schickt. Wie garantieren Sie, dass grundlegende Rechte der Schutzsuchenden auch in der Türkei gewährleistet werden?
Karslıoğlu: Wir tun unser Bestes. Wir sind überfordert mit diesen vielen Tausenden. Einzelne (hier und da) Ereignisse aus dem August zu zeigen, ist nicht fair. In den Camps an der Grene, Sie müssen sich ein Bild davon machen können. Und jetzt mit den russischen Bombardements, die immer noch weitergehen, die gegen Krankenhäuser in Aleppo fortgehen, kommen immer mehr Flüchtlinge, und wir haben jetzt diesen Menschen auf der syrischen Seite Camps aufgebaut, was auch sehr viel kostet. Und die werden dort versorgt. Tagtäglich versorgen wir Tausende von Tausenden von Menschen mit Lebensmitteln, mit einem warmen Gericht. Und solche Vorwürfe zu machen, ist wirklich zu viel verlangt.
Barenberg: Ich habe jetzt noch nicht ganz verstanden, ob Sie das bestätigen oder nicht, denn die Menschenrechtsorganisationen, Human Rights Watch zum Beispiel, sprechen über ein Lager im osttürkischen Erzurum, das mit Mitteln aus der EU gefördert wird und von dem es heißt, dass von dort aus Bürgerkriegsflüchtlinge zurück nach Syrien geschickt werden.
Karslıoğlu: Wir haben bisher 2,8 Millionen Menschen aufgenommen. Warum sollten wir sie zurückschicken, wenn 2,8 Millionen schon da sind? Wir forcieren niemanden, in ihr Land zurückzugehen, wo ein Bürgerkrieg ist.
"Beitritt braucht nicht von heute auf morgen zu kommen"
Barenberg: Im Gegenzug zu ihrer Hilfe in der Flüchtlingsfrage möchte die Türkei ja gerne Visafreiheit erlangen und zügige Beitrittsverhandlungen. Verstehen Sie die Zögerlichkeit bei so manchem in Europa, der vor allem auf die schwierige Menschenrechtslage in der Türkei schaut und da einige Kritik anzumelden hat?
Karslıoğlu: Sehen Sie, das ist ein Prozess. Mit der Visa-Liberalisierung hat die Flüchtlingsfrage eigentlich nicht viel zu tun, denn es war ein zuvor unterzeichnetes Abkommen, dass man die Visa-Liberalisierung gewährleistet. Es sollte ein bisschen später kommen; man hat es vorgezogen, von der Europäischen Seite es schneller zu machen. Das ist ein Verfahren, das schon im Gange war vor der Flüchtlingskrise. Was Menschenrechte und all diese anderen Probleme angeht - nirgendwo ist eine hundertprozentige Gewährleistung für Menschen. Es gibt manche Fälle aus verschiedenen Gründen und deswegen möchten wir auch, dass die Kapitel 23 und 24 geöffnet werden, damit man sich auch in dieser Richtung bewegen wird.
Barenberg: 23 und 24, da geht es um Menschenrechte?
Karslıoğlu: Ja, Menschenrechte und juristische Dinge.
Barenberg: Sie kennen den Fortschrittsbericht, den letzten, über die Türkei, der von der EU veröffentlicht wurde. Sie wissen, dass dort ein bedeutender Rückgang im Bereich der Meinungs- und Versammlungsfreiheit attestiert wird und insgesamt ein negativer Trend beim Respekt der Rechtsstaatlichkeit und grundlegender Rechte. Sind Sie eigentlich zuversichtlich, dass es Fortschritte geben wird bei dieser Visafreiheit beispielsweise - da spielen Menschenrechte ja auch eine Rolle - und bei den Beitrittsverhandlungen, dass die europäische Seite das ernst meint? Wir wissen, Kanzlerin Angela Merkel beispielsweise ist gegen einen EU-Beitritt der Türkei.
Karslıoğlu: Dieser Beitritt braucht nicht von heute auf morgen zu kommen. Es ist ein Prozess, wo sich beide Seiten gegenseitig bewegen und sich gegenseitig helfen. Es ist eine Änderung auch der Lage in der Türkei. Man ändert sich wie auch in anderen EU-Staaten, nachdem man Mitglied wurde, oder zuvor diesen Prozess in Gang brachte. Deswegen sind wir auch zuversichtlich, dass wir gegenseitig uns helfen können. Dieser Prozess soll weitergehen. Ob es am Ende zu einem Beitritt kommt oder nicht, wird man mit der Zeit sehen. Aber der Prozess, diese Kapitel zu öffnen und dementsprechend sich auch zu nähern und diesen EU-Acquis anzunehmen, das ist natürlich ein großer Fortschritt.
"Oppositionszeitungen sind nach wie vor in Dutzenden in der Türkei"
Barenberg: Sie sagen, die Situation verändert sich. Nun haben viele Beobachter hier eher den Eindruck oder stark den Eindruck, dass es eine Entwicklung zum Schlechteren gibt in der Türkei. Wir haben die Ereignisse rund um die Zeitung "Zaman" gesehen. Es gibt viele zivile Tote in der Auseinandersetzung in den kurdischen Gebieten bei den Kämpfen dort. Was macht Sie zuversichtlich, dass man sich bei diesen Verhandlungen weiter annähern kann?
Karslıoğlu: Es ist ein Prozess, wie ich eben sagte. Was "Zaman" angeht: Die Oppositionszeitungen sind nach wie vor in Dutzenden in der Türkei. Mit Zaman ist es eine andere Gegebenheit, nicht wegen der Meinungsfreiheit, aber wegen einer Organisation, die eine Parallelgesellschaft oder einen Parallelstaat schaffen wollte im türkischen Staatssystem. Das ist ein Vorgehen nicht der Meinungsrechte, sondern dieser Organisation. Was die anderen Oppositionszeitungen angeht, die sind noch nach wie vor in vollem Gange. Sie drucken und schreiben alles. Es wurde vor etlicher Zeit ein Journalist oder zwei Journalisten festgenommen, aus verschiedenen Gründen natürlich, nicht nur wegen der Meinungsfreiheit, aber wegen der Unterstützung von Terrorakten. Die wurden vom Verfassungsgericht auch dementsprechend freigelassen. So funktionieren auch die Gerichte.
Barenberg: Allerdings hat Präsident Erdogan gesagt, er erkennt diese Entscheidung nicht an.
Karslıoğlu: Was das Gericht sagt, zählt. Was die Politiker sagen, ist eine andere Sache. Man hat verschiedene Meinungen. Man kann über alle Dinge sich äußern. Aber das, was das Gericht sagt, ist letztendlich vollstreckt, und das ist wichtig natürlich, dass die Gerichte dementsprechend ihre Meinung haben und das sagen und das auch umgesetzt wird.
Barenberg: Der türkische Botschafter in Deutschland, Hüseyin Avni Karslıoğlu, heute Morgen hier live im Deutschlandfunk im Gespräch. Ich bedanke mich ganz herzlich.
Karslıoğlu: Danke auch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.