Selim Yenel ist ein freundlicher Mann. Der 60-Jährige, mit bemerkenswert blauen Augen, lacht gern. Sein Büro ist im siebten Stock eines jener klotzartigen Bürogebäude aus Beton und Glas, die typisch sind für das europäische Viertel von Brüssel. Durch die Fenster bis zum Boden kann man die Türme vom Brüsseler Rathaus sehen. Es ist nicht überliefert, ob Angela Merkel das in der Nacht im März aufgefallen ist, als die Bundeskanzlerin und ihr niederländischer Kollege Rutte hier, in diesem Büro, mit dem damaligen türkischen Premierminister Davotoglu im März den berühmten EU-Flüchtlingsdeal aushandelten.
Improvisiertes Arbeitsessen
"Ich hatte in jener Nacht meinen Premierminister vom Flughafen abgeholt. Wir wollten Kanzlerin Merkel und Premier Rutte hier treffen. Wir waren wegen des Verkehrs ein bisschen spät dran. Als wir hier in mein Büro kamen, wartete die Kanzlerin schon auf uns. So gegen ein Uhr wurden alle hungrig. Glücklicherweise konnten wir in einem türkischen Laden in der Nachbarschaft ein paar Pide-Brote bestellen." Selim Yenel ist ein eher ungewöhnlicher Botschafter. Selten sind Diplomaten so gesprächig, so anscheinend offen oder erlauben sich sogar eine gewisse Ironie. An einer Wand in seinem Büro hängen Bilder des Wiener Künstlers und Architekten Hundertwasser. An der Wand schräg gegenüber: ein Porträt von Atatürk, Gründer des modernen türkischen Staats. "Ich war früher Botschafter in Wien und die Hundertwasser-Bilder stammen aus der Zeit. Und hier, neben dem Porträt von Atatürk, hängen die türkische und die EU-Flagge direkt nebeneinander. Trotz allem." Trotz allem. Im Zusammenhang mit den jüngsten Spannungen nach dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei sieht sich Selim Yenel mindestens so sehr als Mediator zwischen beiden Seiten wie als Diplomat.
"Dafür werden wir bezahlt! Es hat in unseren Beziehungen all die Jahre immer wieder mal Herausforderungen gegeben. So wird es auf alle Fälle niemals langweilig. Unser Job als Diplomaten ist es, beiden Seiten die Sichtweise der jeweils anderen zu erklären. Einfach ist das nicht immer. Es gibt den Brüsseler Kosmos und es gibt Ankaras Kosmos. Manchmal haben sie wenig Verständnis füreinander. So wie nach dem Putschversuch."
Keine Instrumentalisierung von Flüchtlingen
Zu wenig und zu späte Unterstützung aus Europa, klagt man im Kosmos Ankara. Nicht nach rechtsstaatlichen Prinzipien läuft die Aufarbeitung der Ereignisse, klagt man im Kosmos EU. "Die Zahl von Entlassungen und Verhaftungen hat die Europäer stark beunruhigt. Es war schwer zu vermitteln, warum es auf diese Art und Weise passiert und warum unsere Maßnahmen so hart wirken." Wenn man das alles nur besser erklärte, gäbe es die gegenwärtigen Spannungen nicht - davon scheint Selim Yenel überzeugt. Auch die in der EU als Drohung verstandenen Äußerungen aus Ankara, dass man den Flüchtlings-Deal aufkündigen könne - ein Missverständnis. "Das sind Worte der Frustration mit der EU. Es heißt nicht, dass wir Flüchtlinge schicken würden! Wir sind ein seriöses Land. Was wir meinen ist Folgendes: Der Deal ist, dass wir alle Flüchtlinge, die von der Türkei aus auf die griechischen Inseln kommen, zurücknehmen. Ohne Deal würden wir sie nicht mehr zurücknehmen. Das würden Flüchtlinge als neue Möglichkeit sehen, so in die EU zu kommen." Der "Frust", von dem der türkische Botschafter bei der EU spricht, hat damit zu tun, dass die EU, aus Sicht Ankaras, für die mit dem Deal verabredete Visa-Freiheit für türkische Bürger überhöhte Forderungen stelle. Und dass die Verhandlungen zum EU-Beitritt - nach den Worten Selim Yenels weiterhin strategisches Ziel der Türkei - nicht nur nicht beschleunigt werden. Sondern ihnen droht die Aussetzung, sollte das Europäische Parlament mit seiner entsprechenden Resolution vom November Gehör bei der EU-Kommission und in den EU-Hauptstädten finden. Das EU-Parlament trägt keine Verantwortung in der Türkei. Für die EU-Abgeordneten ist es leicht, die Vorgänge zu verurteilen. Sie beschädigen damit aber unsere Beziehungen."
Einander nicht aufgeben
"Wir müssen zusammenkommen, wir brauchen mehr Demokratie, mehr EU - und sie stoßen uns weg." Selim Yenel spricht von wirtschaftlichen Interessen, aber auch von gemeinsamen Werten, die die EU und die Türkei verbinden. Nach fast sechs Jahren, in denen Verständnis für den jeweils anderen zu vermitteln, sein schwieriger Job war, wird Selim Yenel, zehn Monate später als ursprünglich geplant, im Januar seinen Posten in Brüssel verlassen. Der derzeitige türkische Botschafter in Bagdad wird ihm nachfolgen. Es klingt fast ein bisschen, wie sein Vermächtnis, wenn Selim Yenel am Ende unseres Gesprächs sagt: "Wir sollten einander nicht aufgeben."