Geht es nach der Lautstärke, ist der türkische Fußball kerngesund. Istanbul hält den mehr oder weniger offiziellen Rekord für das lauteste Stadion der Welt. Aber jenseits dieser Fassade ist die erste türkische Liga, die Süperlig, wie sie hier heißt, krank bis ins Mark. Das ist auch die Analyse von Tuğrul Akşar, Banker in Istanbul und Analyst der Internet-Seite futbolekonmi.com:
"Beşiktaş hat im Jahre 2017 729 Millionen Lira erwirtschaftet, aber 750 Millionen Lira ausgegeben. Das Grundkapital des Vereins liegt bei minus 687 Millionen Lira. Der Verein ist hoch verschuldet. Nach den Kriterien des türkischen Gewerberechts ist der Verein eigentlich bankrott."
Finanzielle Verpflichtungen in Fremdwährungen
Und Beşiktaş ist nicht der einzige Verein. Mit Millionenverlusten über Jahre hinweg hat die türkische Süperlig ein Milliardendefizit aufgebaut - 80 bis 90 Prozent davon verteilen sich auf die drei Istanbuler Traditionsclubs Beşiktaş, Fenerbahçe und Galatasaray sowie Trabzonspor von der Schwarzmeerküste. Die Lage ist so ernst, dass Anfang 2019 die staatseigene Ziraat-Bank einspringen musste. Der Grund:
"Die türkische Wirtschaft hat im letzten Jahr vor allem unter dem Wertverfall der türkischen Lira gelitten. Die Klubs haben ihre Schulden und finanziellen Verpflichtungen in Fremdwährungen wie dem Euro. Jetzt sieht es so aus, als könnten sie das nicht mehr stemmen. Fußball ist eine große Sache in der Türkei, deswegen hat die staatseigene, größte Bank der Türkei eine Umschuldung auf fünf bis zehn Jahre gefördert. Was das genau bringt, wissen wir noch nicht, aber mehr Zeit ist erst mal das Versprechen dahinter."
UEFA belegt Schulden-Klubs schon seit Jahren mit Sanktionen
Was der leitende Wirtschaftswissenschaftler der Medeniyet-Universität in Istanbul meint, ist: Die Pleite ist erst mal durch eine Umschuldung abgewendet, aber das Kernproblem bleibt.
"Genau! Für eine gewisse Zeit kaufen sie Zeit, aber sie müssen natürlich irgendwann ihre Schulden bezahlen. Sonst werden sie ewig wirtschaftlich am Boden bleiben."
Das Finanzproblem ist natürlich kein Geheimnis. Deswegen belegt die UEFA die Schulden-Klubs schon seit Jahren mit Sanktionen aus dem Katalog des "Financial Fair Play".
"Um einen ungerechten Wettbewerb zu vermeiden Knd die Clubs finanziell zu disziplinieren, hat die UEFA sie quasi unter Aufsicht gestellt. Aufgrund alter Gewohnheiten haben die türkischen Fußballklubs es leider nicht verstanden, Kriterien des Financial Fair Play einzuhalten."
Intransparenz und Missmanagement
Was Banker Akşar mit "alten Gewohnheiten" meint, ist Intransparenz und Missmanagement. Darunter leiden türkische Clubs seit Jahrzehnten, aber jetzt geht es an die Substanz.
"Die Ausgaben steigen, die Einnahmen sinken. Deswegen will Beşiktaş seine teuren Spieler möglichst schnell loswerden. Das gelingt dem Verein aber nur bei den Schwächeren, also in der Regel bei türkischen Kickern, in gegenseitigem Einverständnis, dann meist ohne Abfindung. Bei den ausländischen Spielern machen die Vereine Druck und versuchen die Kicker rauszuekeln. Aber das ist nicht nur bei Beşiktaş so. Auch andere Clubs greifen zu diesen Mitteln."
"Wir brauchen Einnahmen in harter Währung"
So kommen Fälle wie der des deutschen Torwarts Loris Karius oder des portugiesischen Flügel-Spielers Ricardo Quaresma zustande, meint Akşar. Beide haben über Monate kein Gehalt bekommen, sagen sie.
Es wäre eine riskante Strategie, Spieler so loswerden zu wollen, denn beide haben Beschwerde bei den großen Fußball-Verbänden FIFA und UEFA eingereicht und damit drohen wieder neue Sanktionen: mehr Strafzahlungen und der Ausschluss aus internationalen Wettbewerben, bei denen Millionenbeträge fließen - in Euro.
"Das ist das Hauptproblem, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen. Es zeigt, wie die türkischen Fußballclubs in Sachen Finanzen wirklich schlecht gemanagt werden. Und es zeigt, wie vorsichtig wir eigentlich sein müssen, denn das Problem wird nicht verschwinden, bis wir Einnahmen in harter Währung generieren."
"UEFA misst mit doppeltem Maß"
Es gibt allerdings auch Kritik an der Art und Weise, wie die UEFA in Sachen "Financial Fair Play" agiert:
"Die UEFA wacht nur über die verhältnismäßig schwachen europäischen Ligen mit strengem Auge. Gegen die zentralen Ligen wie die Premier League oder die Bundesliga kann sie nichts ausrichten, also keine Sanktionen verhängen. Die 20 stärksten Fußballvereine Europas verteilen sich über fünf zentrale Ligen. Das sind gleichzeitig die Vereine mit den höchsten Schulden. Die UEFA ist denen gegenüber aber zu schwach, um sich durchzusetzen. Die Macht der UEFA waltet über schwache Ligen wie die türkische Süperlig oder die Ligen von Griechenland oder Bulgarien. Da ist sie sehr streng. Die UEFA misst also mit doppeltem Maß."
Damit ist für den Banker und Fußballfan klar: "Nachsicht für die Großen, harte Hand für die Kleinen. Das Financial Fair Play ist längst nicht mehr fair."
Nun gibt es aber eine strahlende Ausnahme - in dieser Saison fast wie festgenagelt auf Platz 1 der Süperlig - ein vierter Istanbuler Fußballclub: Başakşehir.
"Bestimmt ist der Club reich, aber ob er auch gesund ist, da bin ich mir nicht sicher. Das ist eine Art von Retorten-Team, wie sie auch an anderen Orten in den letzten 20, 30 Jahren entstanden sind: in Ankara, in Istanbul, in Konya - das sind Teams, die die Vision der AKP für die Türkei repräsentieren. Sportlich erfolgreich war aber nur eins: Başakşehir. Und der Erfolg hat nur eine Währung: Fußball - sonst nichts!"
"Erst mal muss man wissen: Başakşehir ist kein traditioneller Istanbuler Verein. Er ist ein Regierungsprojekt."
Erdoğans Plan mit Başakşehir
Das ist die Ansicht von Dağhan Irak. Der Soziologe hat sich intensiv mit Fan-Kulturen und ihrer gesellschaftlichen und politischen Bedeutung auseinandergesetzt.
"Warum? Naja, da muss man sich den gleichnamigen Stadtteil anschauen. Das war in den 90er Jahren ein Bauprojekt von Erdoğan selbst, als er noch Bürgermeister von Istanbul war. Er hat das neue Viertel gebaut als eine Alternative für die traditionellen, säkulär geprägten Viertel in Istanbul, die das sozio-kulturelle Leben in der Stadt dominieren. In diesen Traditionsvierteln sitzen auch die Traditionsclubs."
Und Tradition ist in der Türkei hörbar wichtig!
"Die Leute sind in der Türkei ja nicht gerade erst Fußball-Fans geworden - sie sind Fans in der fünften Generation, also vom Club, dem schon der Ur-ur-ur-Großvater angehörte oder so. Es ist also schwierig, das Team zu wechseln. Das macht fast niemand."
So fanatisch die Fans ihre Traditionsklubs feiern, so einleuchtend klingt der häufig erhobene Vorwurf, die Fans hätten mit überzogenen Erwartungen und mangelnder Geduld die Clubs dazu gebracht, immer nur auf den nächsten Titel und nicht auf die Finanzen zu schielen.
Am Ende wird jeder Klub in der Türkei gerettet
"Ich finde es unfair, den türkischen Fans zu unterstellen, dass sie kein Verständnis haben. Sie haben die Sache sehr wohl verstanden: Sie wissen, wie die Klubs in England oder Deutschland laufen. Sie verfolgen ganz genau die Entwicklungen im Weltfußball. Und deswegen wissen sie auch genau, dass es in der Türkei anders läuft! In Deutschland zum Beispiel müssen Sie Ihren Verein ordentlich führen oder Sie gehen pleite. In der Türkei können Sie machen, was Sie wollen: Am Ende kommt jemand und rettet Sie!
Darin sind sich alle Beobachter einig: Solange es in der Türkei noch jemanden gibt, der ein paar Millionen Lira zusammenkratzen kann, findet sich jemand für die Rettung der Clubs, ist sich auch der Banker Tuğrul Akşar sicher:
"In der Türkei werden Vereine wie Beşiktaş, Fenerbahçe oder Galatasaray niemals Insolvenz anmelden müssen oder bankrott gehen. Sie haben sehr große Fangemeinden und können Dank ihrer Beziehungen zur Politik Auflagen oder Maßnahmen des türkischen Handelsgesetzes umgehen. Wenn z.B. eine Geldbuße anstünde oder Steuern nachgezahlt werden müssten, wird einfach ein Auge zugedrückt. Würde man alle Auflagen und Maßnahmen umsetzen, wären die großen Clubs - allesamt an der Börse notiert - heute längst in der Insolvenz."
"Meine Familie besteht traditionell Beşiktaş-Fans. Ich war auch ein glühender Beşiktaş-Fan bis 2007, als ein sehr zweifelhafter Manager die Fans beschimpft hat. Das war für mich eine rote Linie und seitdem geht es mir mit dem Fußball wie mit dem Fastfood: Wenn Du erst mal weißt, wie das ganze entsteht, kannst Du es nicht mehr genießen.
Den vollständigen Beitrag können Sie mindestens sechs Monate in unserer Mediathek nachhören.