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Türkischer Präsident Erdogan
"Gewisse Entrückung vom Volk"

Die AKP sei zu einem Erdogan-Wahlverein mutiert, sagte Alexander Görlach, Herausgeber und Chefredakteur des Magazins "The European", im Deutschlandfunk. Dabei betreibe Erdogan einen gesellschaftlichen Umbau, der hellhörig machen müsse. Vom normalen Volk, das er eigentlich vertreten wolle, entferne er sich zusehends, etwa durch den Bau seines Palastes mit 1.000 Zimmern im Naturschutzgebiet.

Alexander Görlach im Gespräch mit Burkhard Müller-Ullrich | 22.05.2016
    Portraitfoto eines Mannes in mittleren Jahren mit Brille und Bart
    Dr. Dr. Alexander Görlach lehrt Ethik und Theologie an der Leuphana Universität in Lüneburg. (The European/Lars Mensel)
    Burkhard Müller-Ullrich: Volksvertreter genießen in der Demokratie ein wichtiges Privileg: Sie sind vor Strafverfolgung geschützt. Dieses Prinzip wurde in der Türkei gerade abgeschafft. Das Parlament in Ankara hob vorgestern die Immunität von all jenen Abgeordneten auf, die der Regierung von Recep Erdogan und seiner Partei, der AKP, irgendwie missliebig sind. An diesem Wochenende nun findet ein Sonderparteitag der AKP statt. Und am Montag will Angela Merkel zu Erdogan fliegen. [...]
    - Alexander Görlach, Sie Mitgründer, Herausgeber und Chefredakteur des Magazins "The European". Sie haben eine Dozentur in Harvard und Sie kennen die türkischen Verhältnisse gut. Was erwarten Sie von dem AKP-Kongress?
    Alexander Görlach: Nun, Herr Erdogan wird alles versuchen, um die ohnehin schon in seiner Hand konzentrierte Macht weiter zu festigen. Der Rücktritt seines jetzigen Regierungschefs wird ja auch so gedeutet, dass zwischen die beiden dann doch eine gewisse Distanz gekommen ist. Und das lässt Herr Erdogan nicht zu. Von daher wird die ganze Orchestrierung und auch die Ergebnisse dieses Parteitages darauf abzielen, ihn in seiner Machtfülle zu bestätigen.
    Müller-Ullrich: Dieser Rücktritt kam ja selbst für kundige Beobachter relativ überraschend. Was ist die AKP für eine Partei?
    Görlach: Ich glaube, dass die AKP im Moment, ich will jetzt nicht sagen, auf einem Selbstfindungskurs ist, weil das würde sie fast schon irgendwie in die Nähe rücken, dass sie therapeutische Hilfe braucht und somit eigentlich auch irgendwie nicht ganz bei sich sei. Das stimmt nicht. Aber als 2004, 2005 das ganze Unternehmen Erdogan startete, da war das doch durchaus eine Partei, auf die man Hoffnung setzte. Auch in Europa setzte man Hoffnung darauf und hielt sie für eine Art islamische CDU. Dann kamen die wirtschaftlichen Erfolge, auch die politischen Erfolge. Und ab einem bestimmten Punkt ist Herr Erdogan aus unserer, sagen wir, westlichen Sicht gekippt. Das mag mit der Macht und der Länge der Macht, die er inne hatte, zu tun haben. Und damit beginnt sozusagen auch, diese Partei zu wackeln und zu einem Erdogan-Wahlverein zu mutieren.
    Müller-Ullrich: Ist es für Erdogan ein Machtding, oder ist es ein Islamding?
    Görlach: Das ist sehr interessant. Herr Erdogan reiht sich eigentlich meiner Meinung nach ziemlich gut ein in diese "Strong-Men"- oder auch "Strong-Women"-Bewegung, die wir im Moment in vielen westlichen Ländern haben. Er macht keinen großen Unterschied in Rhetorik und Auftritt von einem Herrn Sanders oder einem Herrn Trump, indem er sich vom Establishment der weißen Türkei, der kemalistischen Türkei, der laizistischen Türkei als Establishment verstanden abgrenzt und sich als sogenannten schwarzen Türken bezeichnet, einer, der vom Schwarzen Meer kommt. Und damit bringt er natürlich auch einen gewissen Anti-Intellektualismus mit, der meistens ja auch mit einer, wie soll ich sagen, triumphalen Geste gegenüber der angenommenen Wahrheit einer Religion einher geht. Da ist er sozusagen gar kein Sonderfall. Selbstredend ist er in diesem Kontext ein islamischer Präsident und war auch einmal für seine islamistischen Vorstellungen vor langer Zeit im Gefängnis. Er hat sich danach als geläuterter Mann präsentiert. Umgekehrt gibt es auch von ihm Zitate aus Reden, auch wieder ein Zitat eines Gedichts, wo Minarette als Standarten und Kuppeln von Moscheen als Schilde bezeichnet werden, also diesem militanten oder expansivem, muss man sagen, Islam. Ich glaube, von außen ist es schwer, final zu beurteilen. Der Islam ist für ihn eine starke Größe, aber eine Größe, mit der man eine nationale Identität und einen nationalen Narrativ greifbar macht. Das ist etwas, was ihn wiederum mit Russlands Präsident Putin verbindet, über dessen private Frömmigkeit ich jetzt hier keine Auskunft geben kann, der aber die Orthodoxie für das christliche Russland doch sehr stark in den Mittelpunkt seines nationalen Narratives gestellt hat.
    Müller-Ullrich: Und mit Putin vereint ihn natürlich auch ein rückwärtsgewandter Großmachtstraum.
    Görlach: Hegemoniales Auftreten Erdogans
    Görlach: Absolut. Aber das haben wir, ehrlich gesagt, ohne dass ich das damit relativieren will, aber wir sehen ja zum Beispiel auch in England, dass es da Perzeptionsschwierigkeiten gibt, wenn man sich an die Gegebenheiten der Gegenwart anpassen muss. Das englische Reich ist ähnlich wie das niederländische oder das portugiesische oder das österreichische, die Habsburger Monarchie, untergegangen. Und wir erleben doch manchmal noch Reflexe in den genannten Ländern, vor allem aber dieser Tage in England, die noch nicht mit dieser Realität klar gekommen sind. Und wo wir in der ganzen Brexit-Bewegung ja auch so ein Stück weit eine Manifestation dieses "wir können uns doch gar nicht unter- oder beiordnen, wir sind ja etwas Anderes" herauslesen können. Und das ist natürlich für das Osmanische Reich, das untergegangen ist, ähnlich. Und ich denke, so wie Putin gesagt hat, der Untergang der Sowjetunion und damit der Größe Russlands ist eines der größten Traumas des 20. Jahrhunderts, wird vielleicht Herr Erdogan den Finger heben und sagen: Nein, nein, das war bei uns ein bisschen früher und mindestens genauso schlimm. Da erleben wir auch ein Stück weit bei ihm dieses quasi hegemoniale Auftreten gegenüber dem Territorium, wo heute Syrien liegt. Auch Israel! Das war ja alles mal osmanisches Kernland und da möchte er - man nennt das in der Türkei immer die arabische Straße - beliebt sein auch bei dem einfachen Volk und da rümpft natürlich die türkische Elite wiederum die Nase, die dann öfter in Istanbul unterwegs sind, dass Angehörige dieser Schicht sagen, so ein Mist, dass die Osmanen den Islam und nicht das Christentum angenommen haben, weil sonst wären wir heute Christen und könnten uns mit dem Westen vollkommen assoziieren. Und wir hätten nicht dieses arabische Hinterland. Da sehen Sie auch eine gesellschaftliche Verschiebung, wo Vergangenheitsaufarbeitung, Größe in der Geschichte immer wieder eine Rolle spielt.
    Müller-Ullrich: Die Ausgangsbedingungen sind doch ganz andere in der Türkei als in Russland. Während in Russland der Traum im Grunde abzielt auf eine Restauration früherer Größe, aber dieser Traum wird befeuert vom aktuellen wirtschaftlichen Elend, ist das doch in der Türkei anders.
    Görlach: Ja, das ist natürlich richtig. Russland, wenn ich das richtig zusammenfasse, hat natürlich nach dem Zusammenbruch des Kommunismus ja gar keine politischen Institutionen mehr gehabt, die ein Ausufern des Oligarchismus, wenn man das so sagen darf, hätte verhindern können. Die Korruption und die Aneignung von Ressourcen und die Bündelung von Macht und damit Geld oder umgekehrt Geld und damit Macht, das hat eine vollkommen andere Landschaft zurückgelassen, wie das in der Türkei der Fall ist. Gleichwohl erleben Sie jetzt auch die Abwertung der türkischen Lira. Sie erleben auch einen Rückgang von Investitionen in der Türkei. Das ist sicherlich auch eine Sache, wo die beiden Länder aus unterschiedlicher Grundkonstellation heraus aber in ein selbes Ergebnis münden. Denn niemand investiert gern Geld in ein Land, wo die Regierung morgen anruft und sagt, hey, du hast 100 Millionen Steuern nicht bezahlt. Das ist ja die Strategie, die die AKP fährt bei Journalisten und Verlegern, die unliebsam sind. Das heißt, da ist Ihr Geld nicht sicher. Und das macht sich am Ende bemerkbar und das hat sich in den letzten beiden Jahren auch schon wirtschaftlich in der Türkei bemerkbar gemacht.
    Müller-Ullrich: Trotzdem noch mal: Was spricht denn die Menschen in der Türkei so speziell an der AKP an? Diese relativ und mehr und mehr sich als fundamentalistisch darstellende Ideologie trifft doch auf ein relativ aufgeklärtes Volk. Ich meine, die Türken sind ja alle im Grunde in einem säkularen Staat groß geworden.
    Görlach: Gesellschaftlicher Umbau in der Türkei muss hellhörig machen
    Görlach: Das ist ein sehr guter Hinweis. Wir sind ja auch in einem säkularen Staat hier in Deutschland und trotzdem haben wir doch eine große Anzahl von Christen in diesem Land, die dann auch irgendwie kulturell sich dieser Kulturphilosophie Religion zugehörig fühlen. Von außen sieht so was immer wie ein Monolith aus, aber von innen, wenn Sie das mit unseren europäischen Gesellschaften vergleichen, dann haben wir natürlich auch viele Selbstverständlichkeiten, die wir einfach so mittransportieren: Unsere christlichen Feiertage, das Glockengeläut, all diese Dinge, die dann von außen betrachtet wiederum Europa als einen christlichen Kontinent erscheinen lassen. Und wenn wir das gefragt werden, warum ist dies so. Von daher haben Sie sicherlich Recht, aber das war schon immer wahr. Die Türkei hat, was weiß ich, heute 98 Prozent sunnitische Muslime. Damit ist der Islam eine Selbstverständlichkeit im Leben der Menschen in einer Weise, wie das sicherlich auch bis vor Kurzem in Europa noch vollkommener Usus war, was auch nicht unbedingt einher geht mit einer praktizierten und gelebten intensiven Frömmigkeit, sondern mit einer kulturellen Selbstverständlichkeit. Und damit ist sozusagen, glaube ich, für viele Muslime in der Türkei auch der Islam beschrieben. Dass dann religiöse Bilder, religiöse Formeln und natürlich auch das Beschwören einer mit der Religion verquickten Geschichte dann automatisch Reaktionen evoziert oder Bilder im Kopf aufrufen kann, das erleben wir ja in den Wahlkämpfen, das erleben wir, wenn Präsident Erdogan spricht. Was sicherlich gleichzeitig interessant ist, ist, wie sehr sich hinter dieser kulturell verständlichen und transportierten Fassade dann auch ein wirklicher Islamist mit einer wirklichen Programmatik verbindet. Und ich glaube, man hat in den letzten Jahren gesehen, dass eine gewisse Entrückung vom normalen Volk stattfindet, das er eigentlich ja vertreten möchte. Aber wenn ich mir jetzt in ein Naturschutzgebiet einen Palast mit tausend Zimmern baue, dann habe ich nicht mehr alle Latten am Zaun. Das ist ja vollkommen klar. Da ist eine gewisse Entrückung vom Volk geschehen und das macht dann den ersten Schritt aus. Aber jenseits davon ist dann auch, wenn Sie die Beschränkung von Meinungs- und Pressefreiheit erleben, das partielle Abschalten vom Internet, da geht es dann doch in eine Richtung von gesellschaftlichem Umbau, der hellhörig machen muss.
    Müller-Ullrich: Erdogan eilt von Erfolg zu Erfolg. So sieht es im Augenblick jedenfalls aus. Und trotzdem: Es gibt natürlich Widerstand. Der Widerstand wächst. Wir haben die Geschehnisse im Gezi-Park gehabt. Wir haben alles, was über Pressefreiheit gesagt wurde, mitgekriegt. Es verschärft sich immer mehr, jetzt gerade diese Woche auch noch im Parlament. Treibt die Türkei auf einen Bürgerkrieg hin?
    Görlach: Mein Eindruck von den Besuchen in dem Land war eigentlich immer, wenn wir mal von dem Konflikt mit der kurdischen Minderheit absehen, dass eigentlich dieses Land dafür nicht anfällig ist. Dies ist nicht mein Eindruck. Ich befürchte, diese ethnischen Spannungen werden ja von Erdogan und seiner, sagen wir jetzt mal, Nomenklatur betrieben. Es ist ja schon eigentlich leicht zu durchschauen, wenn ich meine Mehrheit, meine absolute Mehrheit verpasse, die mir dann irgendwie die Verfassungsänderung verbaut, dass ich dann einen Konflikt mit den Kurden und gleichzeitig mit den Oppositionsparteien vom Zaun breche. Das haben wir ja alles erlebt. Dieses Wiederaufflammen dieses Konflikts, das geht meines Erachtens voll auf die Kappe der AKP und Herrn Erdogans. Denn wir haben ja in den letzten Jahren umgekehrt eine Entspannung im Verhältnis zur kurdischen Minderheit erlebt, dass auch erlaubt war unter bestimmten Bedingungen und auch nicht flächendeckend, aber dennoch kurdischsprachiges Radioprogramm und so. Das war ja auch eine ganze Zeit lang im Hinblick auf diesen nationalen Narrativ der Türkei unmöglich, das hat auch nicht Herr Erdogan erfunden. Von daher hat er zuerst schon Entspannung in einer politischen Zeit, wo ihm das opportun erschien, erlaubt. Und jetzt in diesem Moment vollkommen zugeschlagen. Und damit ist Ihre Frage, ob das in einen weiteren Bürgerkrieg oder in einen größeren Bürgerkrieg mündet, das ist unklar. Aber viele Beobachter würden sagen, es gibt ja schon diesen Bürgerkrieg, wenn Sie den Konflikt mit den Kurden sehen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Auf Wunsch des Gesprächspartners haben wir am 26.5.2016 das Foto aktualisiert