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Türkisches Immunitätsgesetz
"Es geht darum, einen Teil der Opposition auszuschalten"

Es müsse immer möglich sein, gegen gravierende Verstöße von Abgeordneten vorzugehen, sagte der CSU-Politiker Johannes Singhammer im DLF. Doch im Fall der Türkei und der Abstimmung zum umstrittenen Immunitätsgesetz sei allen Beobachtern klar, dass es darum gehe, einen erheblichen Teil der Opposition schlichtweg auszuschalten.

Johannes Singhammer im Gespräch mit Thielko Grieß |
    Bundestagsvizepräsident Johannes Singhammer
    Bundestagsvizepräsident Johannes Singhammer (imago/Astrid Schmidthuber)
    Thielko Grieß: Vor weniger als einer Stunde hat das türkische Parlament entschieden, früher entschieden jedenfalls, als viele Beobachter es erwartet haben, mit einer Mehrheit, mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit, die Immunität von einem Viertel der Abgeordneten aufzuheben. Die meisten der Betroffenen gehören der kurdischen Partei HDP und der oppositionellen CHP an. Jetzt begrüße ich am Telefon Johannes Singhammer von der CSU. Er ist Vizepräsident des Deutschen Bundestages. Guten Tag, Herr Singhammer.
    Johannes Singhammer: Ich grüße Sie.
    Grieß: Ich grüße Sie auch. Sie haben vor wenigen Tagen der "Süddeutschen Zeitung" gesagt, dass wenn die AKP, wenn Erdogan mit der Parlamentsmehrheit diese Entscheidung treffen werde, dann überschreite Erdogan den Rubikon. Erklären Sie uns doch jetzt, wie die Gegend hinter dem Rubikon aussieht.
    Singhammer: Die Gegend hinter dem Rubikon sieht so aus, dass mit dieser, vom Präsidenten Erdogan entscheidend herbeigeführten Abstimmung die Wertegemeinschaft der Europäischen Union nicht nur nicht näher gekommen worden ist, sondern dass diese Wertegemeinschaft eine erhebliche Distanz aufweist, und zwar eine so große Distanz, dass es völlig ausgeschlossen erscheint, dass die Türkische Republik Mitglied der Europäischen Union werden kann.
    "Wir brauchen auch die Türkei"
    Grieß: Die Mitgliedschaft ist ja ohnehin in weiter Ferne. Aber kann es beim Flüchtlingsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Türkei bleiben?
    Singhammer: Ich meine, dass in dem entscheidenden Punkt der Visumsfreiheit für türkische Staatsangehörige, es jetzt nicht zu einer solchen Regelung kommen kann. Das hieße nämlich jetzt nach dieser gravierenden Überschreitung des Rubikon, also der roten Linie der Wertegemeinschaft, eine Art Ritterschlag für den Präsidenten der Türkei, eine Aufnahme in den Klub der Wertegemeinschaft der EU. Denn regelmäßig ist es so, dass nur die Staaten diese Visumsfreiheit erhalten, die auch auf der Wertebasis zu Europa zählen.
    Grieß: Sehen Sie denn irgendeinen möglichen Weg noch zurück zu mehr Kooperation für die Türkei?
    Singhammer: Selbstverständlich gibt es viele Möglichkeiten und wir brauchen auch die Türkei.
    Grieß: Realistische Wege, Herr Singhammer.
    Singhammer: Ich sehe, Herr Grieß, jetzt zurzeit keine Möglichkeit, die für Herrn Erdogan innenpolitisch so entscheidend wichtige Visumsfreiheit umzusetzen. Denn damit kann Erdogan selbst für die weiteren Pläne, die er hat, zeigen und beweisen und den Nachweis führen, dass er in der europäischen Wertegemeinschaft akzeptiert wird, und genau deshalb darf es jetzt nicht zu der Visumsfreiheit kommen. Jeder der jetzt die Visumsfreiheit umsetzen will und aus pragmatischen Gründen sagt, es sei nicht so wichtig mit den Werten in Europa, der schlägt eine sehr abschüssige Bahn ein und davor möchte ich nur warnen.
    "Es stellt sich die Systemfrage"
    Grieß: Nun gibt es allerdings den Antrag der Staatsanwaltschaft in der Türkei, der die Aufhebung der Immunität ja beabsichtigte. Ist es nicht vollkommen zulässig, dass ein Rechtssystem, das der Türkei nämlich, diesen Weg geht und zunächst einmal diesen Vorwürfen, den Terrorvorwürfen gegen einige Abgeordnete nachgeht?
    Singhammer: Natürlich muss es immer möglich sein, auch gegen Abgeordnete, wenn sie gravierende Verstöße haben, vorzugehen. Aber in dem Fall ist es ja für alle Beobachter klar, geht es um etwas anderes. Es geht darum, einen ganz erheblichen Teil der Opposition - und es ist die Essenz der Demokratie, eines parlamentarischen Systems, auch die Opposition - schlichtweg auszuschalten, also nicht mehr um einzelne Abgeordnete, sondern es stellt sich die Systemfrage.
    Grieß: Die Kanzlerin ist Montag in der Türkei und will sich - auch das hat Steffen Seibert, der Regierungssprecher, heute Mittag noch einmal bestätigt - dann auch mit dem türkischen Präsidenten Erdogan treffen. Was geben Sie ihr mit auf den Weg?
    Singhammer: Keinesfalls aus pragmatischen Gründen wegsehen, wenn es um fundamentale Fragen der Demokratie geht. Und ich sage auch, es wäre jetzt alles andere als ein gutes Signal, jetzt die Visumsfreiheit umzusetzen oder in Aussicht zu stellen, sondern wichtig wäre es jetzt und an der Zeit zu sagen, wer diese gravierenden Veränderungen im Demokratiesystem vornimmt, der kann nicht belohnt werden mit der Visumsfreiheit.
    "Es macht derzeit wirklich keinen Sinn, über die Visumsfreiheit weiter zu verhandeln"
    Grieß: Herr Singhammer, wenn ich Ihnen zuhöre, dann höre ich jemanden, der sehr zurückhaltend formuliert. Wir haben den Dissens zwischen der Europäischen Union und der Türkei über die Mäßigung der Terrorgesetze. Jetzt haben wir die Aufhebung der Immunität. Wann traut sich jemand aus der Regierungsfraktion oder aus der Regierung selbst deutliche Worte zu sprechen, die auch verstanden werden?
    Singhammer: Ich glaube, dass es ziemlich deutlich ist zu sagen, Visumsfreiheit nicht, weil es den Kern der Europäischen Union, die Wertegemeinschaft betrifft, und ich glaube, das ist hinreichend klar. Ich denke aber, dass auch noch andere Gründe derzeit gegen eine Visumsfreiheit sprechen. Das sind zum einen die Nichterfüllung der 72 Punkte. Aber man muss feststellen, dass es auch noch weitere Gründe gibt, nämlich dass Deutschland derzeit auch administrativ mit der Registrierung von Menschen, die dann aus der Türkei kommen, überfordert wäre. Wir wären gar nicht in der Lage, die hinreichend klar zu registrieren. Also es sind eine Vielzahl von Gründen, die derzeit auch aus deutscher Sicht zum Ergebnis kommen lassen, es macht derzeit wirklich keinen Sinn, über die Visumsfreiheit weiter zu verhandeln.
    Grieß: Der türkische Präsident Erdogan, so wie wir ihn lesen in den vergangenen Wochen, ist für Kooperation und Mäßigung nicht bekannt. Er könnte im Gegenzug sagen, wenn Sie sagen, wenn die Europäische Union sagt, Visumsfreiheit, das kommt nicht, dann könnte er sagen, das Flüchtlingsabkommen, das beerdigen wir und die Flüchtlinge sind wieder eure. Sind Sie darauf vorbereitet?
    Singhammer: Ich denke, dass jeder Staat darauf vorbereitet sein muss. Wir sehen ja aus der Vergangenheit, dass eigentlich alle paar Tage eine Verschlechterung in der Zusammenarbeit, was die Wertegemeinschaft betrifft, eingetreten ist. Mich macht zum Beispiel sehr besorgt, dass vor etwa 14 Tagen alle christlichen Kirchen in der Provinzstadt Diyarbakir enteignet worden sind, katholische Kirche, auch die syrisch-orthodoxe Kirche, auch die armenische Kirche, und das sind alles keine Signale, die darauf hinweisen, dass man bei den Werten und den Grundwerten übereinstimmt.
    "Wir können uns nicht unter Druck setzen lassen"
    Grieß: Sie würden aber schon sagen, wir bleiben bei dieser Haltung, selbst wenn Erdogan sagt, das Flüchtlingsabkommen ist Geschichte und die Fähren oder die Schlepper nach Griechenland rüber dürfen wieder arbeiten?
    Singhammer: Ich denke, dass der türkische Präsident sehr wohl auch weiß, dass es in seinem Interesse ist, sich an Abkommen zu halten. Wir jedenfalls können uns nicht unter Druck setzen lassen und es liegt letztlich die Entscheidung bei der Türkei, bei dem türkischen Präsidenten, der ja damit umgehen will. Wir müssen klar sagen, dass Werte in Europa die Grundlage der Zusammenarbeit sind und dass es bei den Werten keinen Rabatt geben darf.
    Grieß: Der Vizepräsident des Deutschen Bundestages und Mitglied der CSU, Johannes Singhammer, bei uns im Deutschlandfunk. Herr Singhammer, danke für das Gespräch.
    Singhammer: Danke auch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.