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Türkisches Internetgesetz
"Bestrafung für die Gezi-Unruhen"

Das vom türkischen Parlament gebilligte Gesetz zur schärferen Internetkontrolle sei ein weiterer Schritt zur Unterbindung der Meinungsfreiheit, sagte die SPD-Politikerin Lale Akgün im DLF. Wenn Staatspräsident Gül jedoch die Unterschrift verweigere, breche ein offener Machtkampf aus.

Lale Akgün im Gespräch mit Thielko Grieß | 07.02.2014
    Zwei junge Frauen halten bei einer Anti-Regierungsdemo in Ankara Plakate mit dem Konterfei des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan und des islamistischen Predigers Gülen.
    Anti-Regierungsproteste in Ankara nach Korruptionsvorwürfen gegen die Regierungspartei AKP. (picture alliance / dpa/ Ulas Yunus Tosun)
    Christoph Heinemann: Das türkische Parlament hat ein Gesetz zur drastischen Verschärfung der Internet-Kontrolle gebilligt. Der Gesetzentwurf ermöglicht es der Telekommunikationsbehörde, Internet-Seiten ohne Gerichtsbeschluss zu sperren. Das neue Gesetz gewährt Behörden auch das Recht, von Providern die Herausgabe von Nutzerdaten zu verlangen sowie das Surf-Verhalten von Internet-Nutzern aufzuzeichnen und zwei Jahre lang zu speichern. Darüber hat mein Kollege Thielko Grieß mit der SPD-Politikerin Lale Akgün gesprochen und sie gefragt: Was nützt der Regierungspartei AKP und was nützt Ministerpräsident Erdogan ein solches Gesetz?
    Lale Akgün: Es ist der Versuch, die Kommunikationsketten, die sich ja inzwischen vor allem über die sozialen Netze weiterbilden, zu unterbrechen und zu durchbrechen und die Informationsweitergabe zu unterbinden. Sie wissen vielleicht, dass die Menschen ja inzwischen Fernsehen und Radio gar nicht mehr richtig trauen und eigentlich auf Informationen angewiesen sind aus den sozialen Netzen. Und es ist der Versuch, diese sozialen Netze eben nicht mehr zur Verfügung zu stellen, um die Informationen weiterzugeben. Es ist auch ein Stück Bestrafung dafür, dass die Menschen bei den Gezi-Unruhen sich vor allem über Facebook auch kontaktiert haben.
    Thielko Grieß: Begründet wird das aber ja damit, dass die Behörden so leichter gegen Internetkriminalität, gegen Kinderpornografie und anderes vorgehen könnten. Ist das nicht auch legitim?
    Akgün: Das ist natürlich wirklich eine dicke Ausrede und ich finde es ganz ehrlich eine Unverschämtheit, dass man dann immer Kinder und Pornos und Drogen in den Mund nimmt, wenn man die Meinungsfreiheit unterbinden will. Diese Art der Ausrede finde ich inzwischen infam.
    Grieß: Aber man muss feststellen: Es ist eine gewählte Mehrheit, die im Parlament dafür gestimmt hat.
    Akgün: Ja, natürlich. Die AKP hat ja die satte Mehrheit und damit hat sie natürlich die Möglichkeit, jedes Gesetz, jedes Gesetz durchzubringen. Inzwischen ist es ja auch so, dass diese Verbote letztendlich auch dazu dienen, Menschen Angst zu machen. Wenn man es schafft, dass die Leute das Gefühl haben, etwas Verbotenes zu tun, und einige doch daran gehindert werden, zu handeln oder sich über Facebook bestimmte Nachrichten zukommen zu lassen, aus Angst, wenn sie erwischt werden, bestraft zu werden, dann, denkt man, hat man etwas erreicht. Und zwar schon wieder ein bisschen die Meinungsfreiheit unterbunden.
    Grieß: Was ist Ihre Einschätzung, denn es fehlt ja noch eine Unterschrift, nämlich die des Staatspräsidenten, von Herrn Gül. Er könnte ja verlangen, noch einmal in einen Dialog zu treten, noch einmal Änderungen vorzunehmen an diesem Gesetz, bevor er es unterschreibt. Wie groß ist sein Wille dazu?
    Akgün: Das kann ich ganz schlecht einschätzen, weil Sie wissen ja, dass Gül zum Lager von Fethullah Gülen gerechnet wird. Die Frage ist natürlich, ob Gül jetzt sich so weit aus dem Fenster lehnen will, gegen Erdogan zu handeln und sich aufzustellen, indem er sich weigert, das Gesetz zu unterschreiben. Oder ob er dann angesichts der Verhaftungswellen gegenüber den Gülen-Anhängern sich eher bedeckt hält und dann konform mit dem Ministerpräsidenten Erdogan unterschreibt.
    Grieß: Aber wenn jeder weiß, dass er Anhänger der Gülen-Bewegung ist, dann ist er ja auch Teil des Machtkampfs. Und all das ist offensichtlich?
    Akgün: Ja, das ist sicherlich richtig. Aber die Frage ist natürlich, ob er den offenen Machtkampf mit Erdogan suchen wird. Das wäre eine gute Gelegenheit für ihn, wenn er es machen würde. Wenn Gül sich weigert, jetzt das Gesetz zu unterschreiben, dann bricht ja ein offener Machtkampf zwischen den beiden Gruppen aus. Im Moment sieht es ja auch so aus, als würde Erdogan am längeren Hebel sitzen, weil er eben die Fethullah-Gülen-Anhänger kreuz und quer durch die Republik Türkei jagt. Wenn aber der Staatspräsident dagegen hält, dann, denke ich, wäre es ein ganz offener Machtkampf. Abgesehen davon, dass ja Erdogan Präsident werden möchte und es noch gar nicht klar ist, ob Gül bereit ist, ihm diese Position zur Verfügung zu stellen. Das wäre die erste Stufe eines weiteren Machtkampfes, die jetzt ansteht in der Türkei.
    Grieß: Ist das die vielleicht dann letzte Chance in diesem Wahlkampf für die Opposition, der AKP doch noch die Stirn zu bieten?
    Über Lale Akgün
    Geboren 1953 in Istanbul, Türkei. Nach dem Abitur 1972 hat die SPD-Politikerin in Marburg/Lahn Medizin und Psychologie studiert, arbeitete im Anschluss unter anderem ab 1981 bis 1993 in der Jugendhilfe der Stadt Köln. 1987 promovierte sie im Fach Psychologie. Seit 1982 ist Lale Akgün Mitglied der SPD, war zwischen 2002 und 2009 Abgeordnete im Deutschen Bundestag, engagierte sich dort in Migrationsfragen. Seit 2011 ist sie Gruppenleiterin für “Internationale Angelegenheiten und Eine-Welt-Politik” in der Staatskanzlei des Landes NRW.
    Akgün: Ich glaube, die Opposition kann alleine gar nicht mal der AKP die Stirn bieten. Wenn Sie mitbekommen, wie wenig sie die Möglichkeit haben, ihre Stimme zum Ausdruck zu bringen, das ist ja genau der Punkt. Es wird ja über die Opposition nicht berichtet, die Opposition hält Reden, die Opposition schreibt Stellungnahmen, aber all diese Dinge kommen nicht an die Öffentlichkeit, höchstens über die sozialen Medien und alternative Rundfunksender oder Internetsender. Weil die Hauptfernsehsender in der Türkei alle irgendwie der Regierung nahestehen und Angst haben, irgendetwas zu berichten. Die Opposition ist auch deswegen so schwach, weil ihr die Informationskanäle fehlen. Und das macht die Sache noch mal schwieriger. Dazu kommt die Angst, die von ganz vielen Leuten geteilt wird. Ich glaube, dass in der Türkei sich dann etwas ändern wird in den nächsten Wochen und Monaten, wenn die Menschen diese Angst überwinden. Aber noch ist es so, dass Erdogans Machtapparat die Menschen wirklich in ihren Häusern hält. Aber die Frage ist: noch wie lange.
    Heinemann: Die SPD-Politikerin Lale Akgün im Gespräch mit meinem Kollegen Thielko Grieß.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.