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Türkisches Parlament
Immunitätsgesetz erneut zur Abstimmung

In der Türkei hat der Staatspräsident laut Verfassung vor allem repräsentative Aufgaben zu erfüllen. Doch Recep Tayip Erdogan baut seine Macht im Sessel des Staatspräsidenten weiter aus. Nun wird ein zweites Mal über das umstrittene Immunitätsgesetz in der Nationalversammlung abgestimmt. Die türkische Opposition sieht dadurch ihre Existenz bedroht.

Von Gunnar Köhne | 20.05.2016
    Der Präsident der Türkei, Recep Tayyip Erdogan, während einer Rede am 19.4.2016 in Ankara, sprechend, mit den Händen gestikulierend.
    Der Präsident der Türkei, Recep Tayyip Erdogan, während einer Rede am 19.4.2016 in Ankara. (ADEM ALTAN /AFP)
    Sera Kadigil könnte so etwas wie die Hoffnung der türkischen Opposition sein. Die junge Anwältin mit ihrem wallenden schwarzen Haar war bereits während der Gezi-Proteste vor drei Jahren aktiv. Heute sitzt sie im Vorstand der republikanischen Volkspartei CHP. Dort gehört sie zum linken Flügel. Hoffnung auf einen demokratischen Machtwechsel in der Türkei hat sie aber kaum mehr:
    "Tayyip Erdogan hat bereits eine Ein-Mann-Herrschaft errichtet. Er sagt es ja selber: Wir haben die Justiz unter unserer Kontrolle, die Gesetzgebung und das Parlament. Dazu dient auch das Immunitätsgesetz. Für diese ganzen Gesetzesbrüche, müsste Erdogan eigentlich vor ein Gericht gestellt werden. Das wissen er und seine Leute. Um das zu verhindern, sind sie bereit sehr weit zu gehen. Bis hin zu einem Bürgerkrieg."
    Aufhebung der Immunität von Abgeordneten der kurdennahen HDP
    Durch das umstrittene Immunitätsgesetz, über das heute ein zweites Mal in der Nationalversammlung in Ankara abgestimmt werden soll, sieht die türkische Opposition ihre Existenz bedroht. Durch Anklagen und Festnahmen solle sie geschwächt werden - und Präsident Erdogan hätte dann freie Bahn für die von ihm favorisierte Verfassungsänderung in Richtung einer Präsidialrepublik. Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der AKP, Bülent Turan, wies das in der Parlamentsdebatte am vergangenen Dienstag zurück. Es gehe bei der Aufhebung der Immunität der 50 Abgeordneten der kurdennahen HDP um den gemeinsamen Kampf gegen den Terrorismus:
    "Sie haben das Abgeordnetenmandat missbraucht. Sie haben mit bewaffneten Gruppen und ausländischen Staaten gemeinsame Sache gemacht! Dafür bekommen Sie vom Volk die Quittung. Es muss ein Ende haben, dass unter dem Schutz der Immunität Straftaten begangen werden. Es soll doch nicht verboten werden, kurdisch zu sprechen! Es geht darum, Selbstmordattentate zu verhindern!"
    Zwar wären von einer Aufhebung der Immunität auch Abgeordnete anderer Parteien betroffen, doch niemand zweifelt daran, dass es Staatspräsident Erdogan vor allem um die HDP geht, seinen ärgsten Widersacher. Darauf deutet auch, dass die Verfassung nur vorübergehend geändert werden soll. Jeder Abgeordnete, der nach Inkrafttreten des Gesetzes rechtskräftig zu einer Haftstrafe verurteilt würde, wäre nicht nur sein Mandat los. Auch seine Partei verlöre den jeweiligen Sitz.
    Sollte jedoch die für eine Verfassungsänderung notwendige Zweidrittel-Mehrheit wie bei der Abstimmung am Dienstag auch heute verfehlt werden, dann müsste der Vorschlag dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden. Der HDP-Vorsitzende Selahatin Demirtas sähe darin nicht weniger als ein gegen die kurdische Minderheit gerichtetes Referendum. Er warnt davor, ihn und seine Parteikollegen aus dem Parlament heraus anzuklagen:
    "Die sollen nicht glauben, wir gingen brav zum Richter, um unser Urteil entgegen zu nehmen. Da muss man uns schon mit Gewalt hinbringen. Denn das wäre ein Verfassungsbruch und im Grunde nichts anderes als ein Putsch. Wenn sie uns verhaften, dann wird das eine gewaltige politische Krise auslösen."
    Zuspitzung der Lage möglich
    Eine politische Lösung der Kurdenfrage, würde auf lange Sicht unwahrscheinlich. Die militante PKK hat bereits angekündigt, sie werde nach Ausschluss der HDP-Abgeordneten aus dem Parlament den bewaffneten Kampf verstärkt in den Westen der Türkei tragen.
    Tayyip Erdogan, so vermutet die Opposition, käme eine solche Zuspitzung der Lage recht. Die Türkei brauche angesichts der terroristischen Bedrohungen eine starke Führung - so lautet sein Hauptargument für die schnelle Einführung eines Präsidialsystems. Doch auch für das Präsidialsystem braucht es eine Zweidrittelmehrheit im Parlament oder die Zustimmung in einem Referendum. Eine solche Volksabstimmung könnte Erdogan gewinnen, fürchtet die CHP-Funktionärin Sera Kadigil, der wegen Präsidentenbeleidigung eineinhalb Jahre Gefängnis drohen. Nach 15 Jahren an der Regierung sei der Einfluss von Erdogans AKP auf die Bevölkerung groß:
    "Allein rund 400.000 Menschen haben in den zurückliegenden Jahren direkt oder indirekt für AKP-Funktionäre gearbeitet oder von ihnen profitiert. Geschätzt vier Millionen Menschen und ihre Familien haben von der Partei Sozialunterstützung erhalten - von Kohlen bis zu Lebensmittelpaketen. Gerade solche Menschen werden dankbar mit Ja stimmen - unabhängig von der Frage, die ihnen konkret vorgelegt wird."