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Tummelplatz für Streetart-Künstler

Wer mit offenen Augen durch Praga läuft, entdeckt sie an fast jeder Ecke: bunte und großformatige Graffiti mit politischem Anspruch. Streetartists aus Polen und der Welt nutzen die maroden Winkel des Viertels als ihre Leinwand - gemeinsam mit den Anwohnern.

Von Adalbert Siniawski |
    Ein Wohnhaus an der Ecke Łomżyńska und Łochowska-Straße, ein typisches Gebäude in Praga-Nord: Gründerzeitarchitektur, spätes 19. Jahrhundert. Von der schmucken Fassade ist nichts mehr übrig, nur das rostrote Backsteinskelett liegt frei. Einige Fenster sind mit Holzbrettern zugenagelt. Der Hof verwahrlost – einen ähnlichen Eindruck machen auch die vier, fünf Kinder, die hier Fußball spielen.
    Vor dem Haus steht Adam Jastrzębski und betrachtet eine Seitenwand:

    "Sie ist so rau, sie erzählt eine Geschichte. Man sieht im Mauerwerk Spuren von anderen Wohnungen. Hier stand früher mal ein weiterer Hausflügel. Die Verwüstung und Verwahrlosung der Häuser, das ist künstlerisch sehr anziehend."

    Jastrzębski, Jahrgang 80, ist Galerist, Kurator und Künstler, einer der aufstrebendsten in der polnischen Streetart-Szene. Unter dem Pseudonym "Ixi Color" hat er mehrere Häuser zur Leinwand gemacht. Auch diese Fassade: Über seinem Kopf erstreckt sich sein gesprühtes Werk, eine Art Salat aus Erbsen und Möhren.

    "'Es hat eine einfache und zugängliche Ästhetik, aber es geht um ziemlich philosophische Dinge: um die Entstehung der Formen, des Daseins. Es gibt zwei gegensätzliche Elemente: den Kreis und den Würfel, Grün und Orange. Damit versuche ich, aus dem Nichts eine erste, ursprüngliche Form zu schaffen.""

    Gegensätze, aus denen Neues entsteht – dies könnte ein Sinnbild für Praga sein. Wie viele Großstädte hat auch Warschau eine vernachlässigte und doch anziehende Seite. Das boomende Zentrum mit den Wolkenkratzern und Touristenströmen wollte davon lange Zeit nichts wissen.

    Die bunten Graffiti-Tupfer stechen aus den Trümmern hervor, sie sind Teil des Projekts "Elevatory". Vor gut einem Jahr haben in dem Viertel mehrere Streetartists ihre Arbeiten hinterlassen – organisiert und kuratiert von "Ixi Color", unterstützt von seinem Förderverein für urbane Kunst "Vlepvnet".

    "Wir sind mit unseren Ideen und Gedanken zu den Anwohnern, in dieses Viertel, in den öffentlichen Raum gegangen. Die Künstler mussten Workshops veranstalten, in denen sich die Menschen das Werk intensiver anschauen und besser verstehen konnten. Wir wollten sie nicht von oben herab behandeln, indem wir ihnen etwa leichte Kost vorsetzen, weil hier Kunst ja angeblich nur schwer ankommt. Nein, es sind ernste und vielschichtige Arbeiten. Sie wurden zwar nicht immer angenommen, aber sie sind adressiert an die lokale Bevölkerung."

    Wir gehen ein paar Meter weiter und halten vor einem plötzlich hell erleuchteten Werk. Die Sonne strahlt zwischen zwei Häusern auf ein Wappen im Stil der 20er Jahre: eine Meerjungfrau aus geometrischen Figuren, darunter der Schriftzug: Warszawa.

    "Gut, dass wir gerade bei diesem Werk von Pawel Ryzko stehen. Erst während der Arbeit daran ist uns aufgefallen, dass das tatsächlich die einzige, großformatige Darstellung der Syrena – also der Schutzpatronin Warschaus – auf dieser Seite der Weichsel ist. Auf der anderen gibt es ganz viele. Wir waren also froh, dass Paweł Ryżko Praga quasi seine Warschauer Identität zurückgegeben hat."
    Was schätzen Streetart-Künstler an diesem Viertel?

    "Neben den rein organisatorischen Dingen, wie dem leichten Zugang zu Genehmigungen oder einfachen Organisieren von Events, sind es die vielen vernachlässigten Räume und unerfüllten sozialen Bedürfnisse. Ich mag es eigentlich nicht, wenn man Streetart gleichsetzt mit Dekoration, dem Verhüllen oder Übertünchen der darunterliegenden Armut, Hässlichkeit oder gesellschaftlichen Probleme. Doch die Stadt will die Kunst in diesem Sinne manchmal ausnutzen."

    Inwiefern sie sich sozial engagieren, entscheiden er und seine Kollegen lieber autonom. Wie der Warschauer Künstler Ogon, der mit einer Handvoll Kindern aus dem Viertel bunte Menschenfiguren in die versperrten Fenster eines Hauses gesetzt hat.

    "…ich bin gespannt, was davon überhaupt übrig geblieben ist; ich war lange nicht hier."

    Mit dem "Elevatory"-Projekt wollte das "Vlepvnet"-Kollektiv ein sinnvolles Angebot für die Anwohner kreieren und einen Gegenentwurf bilden zu der mittlerweile kommerziellen, bürokratisierten und zahmen Streetart, wie Ixi Color sagt. Die Streetart werde in Festivals eingezwängt. Die Gruppe propagiert stattdessen den "Post-Vandalismus" – ein Wort, das Adam Jastrzębski geprägt hat. Es geht um rebellische, kompromisslose Streetart mit einer gesellschaftspolitischen Aussage. Wie der Name "Elevatory" sagt, sollten die künstlerischen Entwürfe dorthin gehoben werden, wo normalerweise nur teuer bezahlte Reklame einen Platz hat: über die Köpfe der Menschen.

    "Historische Fassaden, die mit Werbeplakaten zugepflastert, lieblos überstrichen oder mit Styroporplatten wärmegedämmt werden – das ist im öffentlichen Raum eine wahre Plage."

    In Polen gebe es eine vielfältige Streetart-Szene, sagt Ixi Color. Künstler, die mit geometrischen Formen experimentieren, mit Karikaturen oder Stickern – aus letzteren entsteht das Wortspiel "Vlepki". Außerdem die Post-Graffiti-Fraktion, die Expressionisten und viele, die einfach in keine der typischen Schubladen passen. Aber generell fehle der Szene dennoch der Stachel.

    "Es gibt ein Übermaß an großem, offiziellen und legalen Arbeiten – und zu wenig Lebendiges von der Basis: Graffiti, Vlepki, egal was sich die Künstler auch ausdenken. Aber sie tun’s einfach nicht. Sie fordern die Realität nicht heraus, sie zertrümmern die Gewissheiten nicht. Die Streetart ist heutzutage sehr, sehr clean."
    Der polnische Streetartist Adam Jastrzebski alias Ixi Color
    Der polnische Streetartist Adam Jastrzebski alias Ixi Color (Adalbert Siniawski)
    Streetart in Praga: Die "Syrena" von Pawel Ryzko
    Streetart in Praga: Die "Syrena" von Pawel Ryzko (Adalbert Siniawski)
    Streetart vom Künstler "Ogon" und Warschauer Kindern
    Streetart vom Künstler "Ogon" und Warschauer Kindern (Adalbert Siniawski)