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Tunesien
Drei Jahre nach dem Sturz Ben Alis

Noch immer müht sich Tunesien mit dem Neubeginn: Das Land scheint gelähmt, die Wirtschaft stagniert, der politische Prozess ist ins Stocken geraten. Bei den einen ist das Misstrauen gegenüber den Islamisten groß, die anderen fürchten im konservativ-bürgerlichen Lager ein Comeback von Ben Alis früheren Vertrauten.

Von Alexander Goebel |
    Arbeit, Freiheit, Würde – danach rufen sie noch immer in Tunesien, und ganz besonders laut in Sidi Bouzid – heute so wie damals, als hier die Revolution begann. Als sich der junge Gemüsehändler Mohamed Bouazizi vor aller Augen mit Benzin übergoß und anzündete.
    Heute schwenken die Menschen hier die roten tunesische Fahnen, tragen gerahmte Porträts der Opfer des Aufstands gegen die Ben-Ali-Diktatur durch die Stadt, und sie sind wütend: Das tunesische Experiment, sagt einer der jungen Demonstranten, habe ihnen bis heute nichts gebracht.
    "Die Menschen in Sidi Bouzid lehnen den Präsidenten der Republik ebenso ab wie die Verfassungsgebende Versammlung oder die Regierung. Diese Politiker sind keine Volksvertreter, uns jedenfalls vertreten sie nicht. Seit Beginn dieser Revolution vor drei Jahren hat niemand etwas für uns getan."
    Es rumort in Tunesien, nach wie vor. Drei Jahre nach dem Sturz des Diktators fürchten manche, die Revolution habe ihre Kinder gefressen. Salafistische Gewalt, Bombenanschläge, kaltblütige politische Morde, die Lähmung des Parlaments, der heftige ideologische Streit zwischen Säkularen und Islamisten, Rücktritte von Übergangsregierungen, der Absturz der Wirtschaft, hohe Arbeitslosigkeit, immer wieder verschobene Wahlen, Streiks, schwere Ausschreitungen im verarmten Landesinneren: Wo ist nach all dem die Dividende der Revolution, fragen die Menschen – nicht nur in Sidi Bouzid. Sie kommt, verspricht Präsident Moncef Marzouki in seiner Neujahrsansprache: Endlich sei der gordische Knoten der letzten Krisenjahre durchschlagen – 2014 werde das Jahr der Entscheidungen:
    2014 wird ein zentrales Jahr in der Geschichte unseres Landes sein. 2014 wird das Jahr der Krönung der Revolution, der Krönung des Wegs zur Demokratie. 2014 wird das Jahr der Verfassung sein. Dieses großartige Dokument wird uns Tunesier mit dem Staat verbinden und den Rahmen bilden für unser Leben und für die zukünftigen Generationen!
    Tatsächlich: Nach jahrelanger Verzögerung ist es endlich so weit. Tunesien bekommt seine neue Verfassung. Die Constituante, die im Herbst 2011 gewählte Verfassungsgebende Versammlung, muss fast 150 Artikel verabschieden – und zwar einen nach dem anderen.
    Fieberhaft und in schier endlosen Debatten geht es ums Eingemachte. Und da schenken sich die 217 Abgeordneten nichts. Die Nerven liegen blank. Aber es geht auch um viel – nicht nur um die Glaubwürdigkeit des Parlaments: Es geht um nichts Geringeres als Tunesiens Identität, drei Jahre nach dem Ende einer Diktatur. In Artikel 1 der neuen Verfassung bekennt sich Tunesien zum Islam als Glaubensrichtung, aber erteilt dem Islam als Rechtsquelle eine Absage. Anders als von vielen Islamisten gefordert, soll die Scharia keine Grundlage für staatliches Handeln sein. Aufklärungsfeindliche Strömungen sollen politisch keine Chance haben, Tunesien will weiter auf seinem Kurs bleiben – Richtung: Demokratie. Mehrezia Laâbidi, Vizepräsidentin des Übergangsparlaments:
    "Ich habe Hoffnung für Tunesien: Trotz der scharfen politischen Auseinandersetzungen, trotz der großen Terrorgefahr sind wir dabei, ein neues Kapitel aufzuschlagen. Ein Kapitel der Versöhnung – der Versöhnung der arabisch-muslimischen Tradition mit der Tradition der Demokratie und der universellen Menschenrechte. Das muss das Ziel sein. Wenn uns das mit unserer Verfassung gelingt und wir dann durch Wahlen demokratische Institutionen schaffen, die über die Gesetze wachen – dann haben wir unsere Aufgabe erreicht. "
    Dennoch: Tunesiens Gretchenfrage bleibt unbeantwortet. Wie hältst Du es mit der Religion? Welche Rolle kann der politische Islam spielen? Was bedeutet arabisch-islamische Identität? Und vor allem: Wie wird diese religiös geprägte Identität politisch benutzt – von den verschiedenen politischen Lagern? Die politische Klasse Tunesiens ist extrem gespalten – so wie auch die Gesellschaft. Jeder hat seine Definition von Demokratie. Man jongliert mit Begriffen wie Freiheit, Gleichheit und Religion, begleicht alte Rechnungen; manche werden wieder zu Spitzeln wie im alten Regime, andere leiden an schwersten Traumata aus Zeiten der Foltergefängnisse und schlagen aus der Opferrolle politisches Kapital, andere, die erzkonservativen Salafisten, reden gar noch immer von einem Kalifat. Kein Wunder, dass alles durcheinander geht, sagt der Philosoph Youssef Seddik: Ben Alis Schatten seien eben lang. Sehr lang.
    "Arabischer Frühling", oder "Arabischer Winter" – das sind nur Metaphern. Aber eines ist ganz reell: der Zusammenbruch der Diktatur. Und das Ende dieser Diktatur hat sozusagen den Blick freigelegt auf den Körper Tunesiens – der ist nämlich voller Abszesse und blauer Flecken. Und mit diesen Verletzungen lebt Tunesien schon lange, seit der Gründungsphase des Staates. All die Jahre wollte niemand sehen, wie krank dieses Land ist. Und jetzt bin ich froh, dass wenigstens frei darüber gesprochen werden kann. Bis auf Weiteres …
    Jetzt, da es auch eine neue Wahlkommission gibt, hat die Islamistische Partei Ennahdha den Weg frei gemacht für eine neue Expertenregierung – und für Neuwahlen, irgendwann in diesem Jahr sollen sie stattfinden. Mit den neuen Institutionen sind in Tunesien nun die Weichen für das von Präsident Marzouki ausgerufene "Jahr der Entscheidungen" gestellt. Doch die neue Regierung trifft nun auf eine politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Realität, die härter, angespannter und konfliktgeladener kaum sein könnte.