Archiv

Tunesien
Friedhof der ertrunkenen Migranten

In der tunesischen Hafenstadt Zarzis finden Fischer immer wieder Leichen ertrunkener Migranten. Chamseddine Marzoug, ein ehemaliger Fischer, begräbt sie. Es ging ihm gegen den Strich, dass niemand bereit war, den Toten der Migration wenigstens eine letzte Ruhestätte zu geben.

Von Jens Borchers |
Der ehemalige Fischer Chamseddine Marzoug gräbt ein Grab für einen weiteren Migranten auf dem behelfsmäßigen "Friedhof der Unbekannten" in Zarzis/ Tunesien
Der ehemalige Fischer Chamseddine Marzoug gräbt ein Grab für einen weiteren Migranten auf dem behelfsmäßigen "Friedhof der Unbekannten" in Zarzis im Süden Tunesiens nahe der Ferieninsel Djerba (AFP/Fathi Nasri)
Der Wind pfeift vom Meer her über die sandige Landschaft am Stadtrand von Zarzis. Ein Schild steht dort: "Friedhof der Unbekannten" ist darauf zu lesen, in vier Sprachen.Chamseddine Marzoug geht von einem Grab zu nächsten:
"Das ist ein Junge, den wir im Wasser gefunden haben, und eine Frau. Ich hab mir gedacht, dass das vielleicht die Mutter ist. Ich habe sie Kopf an Kopf begraben. Laut Obduktionsbericht war er fünf Jahre alt."
Marzoug geht weiter, er weiß ziemlich genau, wen er wo begraben hat auf diesem Behelfsfriedhof. Er nagelt einfache Schilder zusammen, mit Nummern drauf und stellt sie zu jedem Leichnam.
"Die Nummern sind die, die auf den Leichensäcken stehen," sagt Marzoug. Immer wenn Tote angeschwemmt oder aus Fischernetzen gezogen wurden, sorgt die Hilfsorganisation Roter Halbmond für solche Leichensäcke. Und für den Transport ins Krankenhaus von Zarzis. Mongi Slim arbeitet seit 25 Jahren beim Roten Halbmond:
"Wir erleben es seit Jahren, dass die Toten hier angeschwemmt werden. Aber jetzt sind es besonders viele. Mittlerweile haben wir sogar Leichensäcke für Babies hergebracht. Es ist sehr verletzend."
Auf den offiziellen Friedhof dürfen die toten Migranten nicht
Anfang Juli sank ein Boot vor der tunesischen Küste. 82 Menschen ertranken, drei überlebten, weil sie sich tagelang an einer Holzplanke festklammerten. Früher kümmerte sich niemand um die unbekannten Toten. Aber Chamseddine Marzoug ging es gegen den Strich, dass niemand bereit war, den Toten der Migration wenigstens eine letzte Ruhestätte zu geben. Auf dem offiziellen Friedhof der Stadt dürfen die ertrunkenen Migranten nicht begraben werden. Dort sollen nur Angehörige der Familien aus Zarzis hin, hieß es. Und nur Muslime. Wer wisse denn schon, ob die Ertrunkenen Muslime waren, heißt es in Zarzis.
Deshalb fing Marzoug vor drei Jahren einfach an, die Migranten in diesem Sand-Abschnitt zu begraben. Aber er schimpft auf die Verantwortlichen von Zarzis:
"Wir verlangen doch nur einen Friedhof, wo die Menschenwürde respektiert wird. Was ist denn ein Mensch? Die Religion ist doch unwichtig, niemand betet darum, zu sterben. Wir beerdigen sie, weil wir die Menschenwürde respektieren. Das muss sein!"
Marzoug schimpft auch auf die Europäer. Er sagt, Europa tötet diese Menschen - weil es ihnen keine legale Einreise erlaube und sie damit auf die Todesschiffe zwinge.
Mamadou Kamarra (links), und Ousmane Koulibali aus Mali stehen am "Friedhof der Unbekannten"in Zarzis/ Tunesien
Mamadou Kamarra (links), und Ousmane Koulibali aus Mali stehen am "Friedhof der Unbekannten": Sie haben Anfang Juli ein Schiffsunglücks vor der tunesischen Küste überlebt, bei dem mehr als 80 Menschen starben (picture alliance/dpa/Simon Kremer)
"Noch ein Grab frei"
Der 54-Jährige ist Freiwilliger bei der Hilfsorganisation Roter Halbmond. Von den Behörden wird er geduldet, aber er hat oft Krach mit ihnen. Die Ertrunkenen gelten als irreguläre Migranten. Jetzt liegen sie auf einem irregulären Friedhof. Frauen. Männer. Kinder.
"Der hier war sieben Jahre alt. Sie hatten kein Glück in ihrem Leben, jetzt bringe ich zumindest manchmal ein Spielzeug vorbei. Teilweise sagen die Leute, ich sei verrückt geworden. Weil ich die Gräber besuche. Dabei machen Muslime und Christen das doch auch."
Auf dem Grab liegen ein paar Legosteine. Und ein Spielzeugauto. Auf dem Behelfsfriedhof ist nicht mehr viel Platz. Chamseddine Marzoug sagt:
"Hier ist noch ein Grab frei, ich habe es schon ausgehoben. Vielleicht könnten wir dahinten noch eines unterbringen. Aber danach werde ich das Grabfeld offiziell schließen, damit die ganze Welt erfährt, auch die Verantwortlichen in Zarzis, dass wir keinen Platz mehr haben, um die Leute zu bestatten. Wenn sie bei ihrer Haltung bleiben, dann sammeln wir eben Holz, verbrennen die Leichen, füllen die Asche in Behälter und werfen sie wieder ins Meer."
Bevor das geschah, hatten die Behörden dann doch ein Einsehen. Sie stellten ein Stück Acker zur Verfügung. Mittlerweile hat der Rote Halbmond genug Spenden bekommen, und davon ein Stück Land gekauft. Dort sollen künftig die Toten der Migration beerdigt werden.
Tunesiens Furcht vor Seenotrettung und Aufnahmelagern
Und dann sind da ja auch noch die Lebenden. Migranten oder Flüchtlinge, die überleben wenn wieder ein Schlepper-Schlauchboot untergeht. Oder die sich aus dem nahegelegenen Nachbarland Libyen hierher, in den Süden Tunesiens, durchgeschlagen haben. Slim Mongi vom Roten Halbmond sagt, etwa 1.000 Migranten seien in der Region untergebracht. Aber er wisse nicht, wie sie noch mehr Menschen beherbergen sollen:
"Die Aufnahme-Kapazitäten sind wirklich erschöpft. Wir haben Angst davor, dass in Zukunft noch mehr nach Tunesien kommen."
Diese Angst teilt Mongi Slim offenbar mit Tunesiens Premierminister Youssef Chahed. Aus Europa wird immer wieder vorgeschlagen, in Nordafrika Aufnahmelager einzurichten. Dort könne man doch über Asylanträge entscheiden, auf diese Weise kämen die Migranten dann gar nicht erst nach Europa. Tunesiens Regierungschef fürchtet offenbar, dass sein Land immer öfter von Schiffen angesteuert werden könnte, die Menschen aus Seenot gerettet haben, aber von europäischen Häfen abgewiesen wurden. Deshalb mahnt Youssef Chahed: Alle Staaten müssten in der Migrationsfrage ihrer Verantwortung gerecht werden. Was immer das heißen mag.
Chamseddine Marzoug, der Mann, der am Strand von Zarzis die Toten der Migration begräbt, hat jedenfalls seine eigene Vorstellung von Verantwortung. Und die hat viel mit Menschenwürde zu tun.