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Tunesische Debatte über islamische Werte in der Verfassung

Das in Tunesien insgesamt große, aber zersplitterte liberal-säkulare Lager möchte die Religion so weit wie möglich aus der Verfassung heraushalten - die konservativen Kräften denken anders. Die Verfassung wird so vermutlich ein Kompromiss.

Von Martina Sabra | 12.12.2012
    Wird die Frau in Tunesien bald nur noch als Gefährtin ihres Mannes definiert?
    Wird die Frau in Tunesien bald nur noch als Gefährtin ihres Mannes definiert? (picture alliance / dpa / Robert B. Fishman)
    Seit der Unabhängigkeit 1956 setzten die Machthaber in Tunesien auf soziale und kulturelle Modernisierung. Das im Islam vorgesehene Recht der Männer auf vier Ehefrauen gleichzeitig wurde abgeschafft. Bei der Ehescheidung wurden Männer und Frauen gleichgestellt. Um Protesten der Geistlichen den Wind aus den Segeln zu nehmen, wurden Moscheen und religiöse Hochschulen staatlicher Kontrolle unterworfen. Insgesamt nahm die Gesellschaft die Reformen an. Doch es gab auch Protest: anfangs von religiösen Gelehrten, später vor allem von den Islamisten.

    In den 1980er-Jahren riefen die Vorläufer der heutigen Ennahda-Partei lautstark nach einer Abschaffung des progressiven Familienrechts und verschreckten damit die Bevölkerung. Als die Islamisten bei der ersten freien Parlamentswahl am 23. Oktober 2011 fast die Hälfte der Parlamentssitze eroberten, waren viele Tunesier skeptisch. Würde die Ennahda-Partei an ihre Forderungen aus alten Zeiten anknüpfen und das fortschrittliche Personenstandsrecht abschaffen? Feisal Nasr, Sprecher der Ennahda-Partei in Tunis, winkt ab:

    "Die Ennahda-Bewegung hat immer wieder öffentlich erklärt, dass sie das Personalstatut nicht antasten wird. Für uns ist das Personalstatut im Rahmen des Idschtihad, der islamischen Rechtsauslegung, zulässig. Wir halten dieses Gesetz für eine Errungenschaft, von der die tunesischen Frauen und die ganze tunesische Gesellschaft profitieren."

    Laut Artikel 1 der tunesischen Verfassung ist der Islam Staatsreligion. Und das wird auch in Zukunft so bleiben. Tunesien wird deswegen kein religiöser Staat. Doch der Artikel 1 der Verfassung bietet die Möglichkeit, universell anerkannte Menschen- und Frauenrechte einzuschränken. Und das taten die tunesischen Machthaber bisher auch. Bis zum Herbst 2011 behielt sich die tunesische Regierung mit Verweis auf Artikel 1 der Verfassung vor, Frauen im Ehe- und Erbrecht zu diskriminieren – obwohl Tunesien die internationale Antidiskriminierungskonvention CEDAW ratifiziert und sogar das fakultative Protokoll unterzeichnet hat, das eine individuelle Klage ermöglicht. Die tunesische Juristin Imen Gallala-Arndt forscht am Hamburger Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht über die islamischen Familiengesetze verschiedener arabischer Länder.

    "Dieser Artikel wird von manchen als harmlos betrachtet, das heißt, es ist nur eine Bestimmung, die die Identität des tunesischen Volkes darstellt. Für andere bedeutet dies, dass die Rechtsordnung auch islamisch geprägt sein muss. Auf diesen Artikel haben Richter in Tunesien zurückgegriffen, um der christlichen, europäischen Mutter kein Sorgerecht zu übertragen, weil sie dachten, das Interesse des Kindes liegt darin, in einem islamischen Land aufzuwachsen und die islamischen Werte zu kennen."

    Der Islam als Staatsreligion – für viele Menschen in Tunesien ist das eine Frage der kulturellen Identität. Doch die Verquickung von Staat und Religion öffnet Türen für die unterschiedlichsten Interpretationen, von progressiv bis extrem konservativ. Während der Debatten im Frühjahr und Sommer 2012 versuchte die islamistische Ennahda-Partei monatelang, explizit das islamische Recht zumindest zu einer Quelle der Gesetzgebung zu machen – die Scharia – vorerst ohne Erfolg.

    "Vor allem die Linken und die säkulären Kräfte haben gefürchtet, dass dies zu einer großen Rechtsunsicherheit führt. Man weiß nicht, was ist die Scharia? Wie wird sie interpretiert, wer wird entscheiden, was Recht ist und was nicht?"

    Seit Anfang 2012 hat das tunesische Parlament mehrere Kommissionen gebildet, die jeweils Teilbereiche der neuen Verfassung bearbeiten und Entwürfe erstellen sollen. Die Kommissionen arbeiten weitgehend hinter verschlossenen Türen, was immer wieder zu Kritik führt. Im August 2012 wurde ein erster Entwurf vorgelegt – und der stieß auf heftige Proteste. Diese machten sich vor allem an der Stellung von Mann und Frau fest. Laut Artikel 24 des Entwurfs vom August 2012 sollten Männer und Frauen gleichberechtigt sein. Doch weiter unten, im Artikel 28, der die Beziehungen in der Familie regelt, hatten Islamisten und Konservative den Begriff "gleichberechtigt" durch "komplementär" ersetzt: Männer und Frauen sollten sich "gegenseitig ergänzen". Frauen- und Menschenrechtsorganisationen witterten eine Aufweichung des Gleichheitsideals. Der Ennahda-Sprecher Feisal Nasr versteht die Aufregung nicht.

    "Die Diskussion über Komplementarität und Gleichberechtigung ist künstlich aufgeblasen worden. Dahinter stecken Kräfte, die eine Krise anfachen wollen, um der Revolution zu schaden. Es gibt keinen Widerspruch zwischen Ergänzung und Gleichberechtigung."

    Doch wenn es keinen Widerspruch gibt, warum dann das Beharren der Ennahda-Partei auf der Unterscheidung? Kritikerinnen witterten einen Versuch der Ennahda, die generell modernistische Tendenz der tunesischen Verfassung und Rechtsprechung aufzuweichen und Einfallstore für rückschrittliche Interpretationen zu schaffen. Der Pressesprecher der Ennahda-Partei Feisal Nasr weist das zurück. Aber er gibt zu, dass für die Ennahda-Partei die Familie ein Raum ist, wo der Staat sich nicht einmischen soll, eigene, religiöse Regeln gelten sollen. Und dies nicht nur dort, wo die Familien dies selbst wünschen, sondern pauschal, qua Verfassung für alle.

    "Wir können uns keine Familie ohne Mann und Frau vorstellen. Die Präsenz beider Geschlechter in der Familie ist uns heilig. Die Familie ist ein eigener Raum. Hier geht es nicht um Rechte, um die Gleichberechtigung im staatsbürgerlichen Sinn, sondern es geht darum, einander biologisch und psychologisch zu ergänzen. Dieser heilige Charakter der Familie ist notwendig, damit die Familie ihre zentrale Rolle für den Fortbestand der Gesellschaft wahrnehmen kann. Wir reden hier von einer anderen existentiellen und psychologischen Dimension."

    Säkulare und liberale Tunesier sehen das anders: Sie wollen, dass der Staat die Gleichberechtigung und die Rechte von Frauen und Kindern auch in der Familie schützt, nach dem Motto: Das Private ist politisch. Eigentlich sollte die neue tunesische Verfassung im Oktober 2012 fertig sein, nun ist sie für März 2013 angekündigt. Wie es aussieht, wird das Dokument ein Kompromiss sein, mit dem sowohl liberale als auch konservative Tunesier leben können – basierend auf den internationalen Menschenrechten und auf der arabisch-islamischen Identität. Das birgt zwar Konfliktstoff, aber die Rechtswissenschaftlerin Imen Gallala Arndt findet einen solchen Kompromiss vernünftig.

    "Ich glaube, man muss realistisch sei, das heißt, berücksichtigen, dass die Leute sehr religiös sind, dass der Islam Normen stellt, wie soll ich mich verhalten, wie soll ich mit meiner Frau umgehen, wie soll ich mit meinen Schulden umgehen? Dass der Islam Antworten auf alle Fragen des Lebens hat, das sitzt tief im Bewusstsein der Muslime, auch wenn sie nicht fromm sind. Das ist die Realität und das muss man akzeptieren und versuchen, dass tatsächlich trotzdem ein Islam angewandt wird, der anpassungsfähig ist. Und der Islam ist anpassungsfähig."

    Serie im Überblick:
    Welche Rolle wird die Religion nach den arabischen Revolutionen in den neuen Verfassungen spielen? - Serie: Religion nach der arabischen Revolution