Selten hat man John Neumeiers Tänzer so befreit und fröhlich einfach nur tanzen sehen. So freundlich und gottergeben Olivier Messiaens Turangalîla-Sinfonie daherklingelt, fanfarenhaft aufposaunt und mit den Wellen der Ondes Martenot elektroakustisch die Ohren umspült, so unbeschwert und optimistisch springen besonders die männlichen Tänzer auf die Bühne. "Freude des Sternenbluts" heißt dieser wie eine Gershwin-Rhapsody aufrauschende Satz, zu dem die Tänzer in ihren geschlitzten Hosenröcken von der Hand des Couturiers Albert Kriemler herumwirbeln. Natürlich hat ihnen Neumeier hier auch einige klassische Tours en l’air mit untergejubelt, Drehsprünge in der Luft, mit denen die Jungs in ihrer Lebensfreude abheben von der Erde. Und in mehreren Reihen brechen sie wie in Laola-Wellen über die Welt hinein.
Neumeier bewegt sich im abstrakten Raum
Mit seiner Choreographie zu Messiaens einst spektakulärer Sinfonie bewegt sich Neumeier diesmal ganz im abstrakten Raum. Die Musik hat keine Handlung, und Neumeier stülpt ihr auch keine über. Ja offener noch als bei seinen Mahler-Balletten setzt er einfach nur die Gefühlswerte der Musik in Bewegungen um. Immerhin, Neumeier gibt uns eine Identifikationsfigur an die Hand, den jungen, erfrischend charismatischen Christopher Evans, der im Vorspiel mit spitzen Zehen den weit ans Publikum herangezogenen Bühnenkreis betritt. Das Orchester ist auf der hinteren Bühne platziert.
Man kann Evans als eine Art Parsifal sehen, einen reinen Toren, der die Welt für sich entdeckt, die der Gefühle, der Liebe, des Lebensmuts. Seine Tänzerkollegen durchrüttelt’s zunächst, dann bauen sie sich wie eine Turnerriege zum Turm auf. Der auf der Spitze lässt sich rücklings in die Arme der anderen fallen, so wie man sich in das Leben fallen lassen muss, denn ohne Wagnis ist es keines.
Etwas verrückt, manchmal albern
Evans taumelt oft mit geschlossenen Augen durch die Bilder, scheint vieles wie im Traum zu erleben. Besonders der vierte, "Liebesgesang" übertitelte Satz schäumt musikalisch in weichem, fast musicalhaftem Thema und Ondes-Martenot-Wellen. Mit nach vorn gestreckten Armen laufen Alexandr Trusch und Mayo Arii aufeinander zu, glücklich hebt er sie über sich empor und dreht sich, aber es ist ein schlafwandlerisches Glück, am Ende laufen sie mit eben diesen ausgestreckten Armen aneinander vorbei. Wo Leben ist, ist auch Endlichkeit.
Die Liebessteigerungen der letzten Sätze sind gar nicht mal so erotisch gedacht. Es ist panische All-Liebe, die sich der Tänzer bemächtigt, ein aufgeregtes Trippeln und Flattern und Segeln, ein Springen, Drehen und Schleudern, das manchmal etwas verrückt anmutet, manchmal albern, immer leichtfüßiger und unorganisierter, als es ist, aber darin stets der naiv klingelnden, weich streichelnden, rhythmisch antriebigen Musik Messiaens entsprechend, die Kent Nagano mit dem Philharmonischen Staatsorchester hinreißend entfesselt.
Rasender Beifall ohne Widerspruch
Ganz klar, der Musik fehlt die dramatische Auseinandersetzung. Und die fehlt auch Neumeiers Tanzstück. Wer die raffinierte Psychologie seiner Handlungsballette schätzt, muss vor allem die oft schroff ausgetanzten Charakterstudien, die Konflikte in und um eine Persönlichkeit vermissen. "Turangalîla" ist eher eine Meditation, eine franziskanisch-pansophische Vogelpredigt, wie sie Messiaen so liebte. Und die in ihrer heiligen Unbesorgtheit auch nicht länger sein dürfte, als sie hier ist. Am Ende steht Evans allein da. Aber mit ausgebreiteten Armen, als wollte er die Welt umarmen.
Rasender Beifall ohne Widerspruch, wie lange nicht mehr. Getanzter Optimismus trifft offenbar die Stimmung der Zeit.