Die Premierministerin wippt und tänzelt. Eine amtierende Premierministerin, inmitten der größten politischen Krise seit Jahrzehnten, spielt ungelenk vor einem Millionenpublikum die "Dancing Queen". Ihre Bewegungen ähneln einem Roboter, dem berühmten "Maybot", wie May von ihren Gegnern auf der Insel verspottet wird.
Aber der PR-Coup ging auf, vielleicht war er sogar genial. Der "Maybot" zeigte sich menschlich, nahm sich typisch britisch selbst auf den Arm. Theresa May kann mehr Popularität dringend gebrauchen. Die Umfragen sind schlecht, die eigene Partei schien in Birmingham am liebsten gegen sie meutern zu wollen.
"Wir sehnen uns nach Führung. Aber Theresa May kann das nicht", ruft der Vorsitzende des rechtskonservativen Think Tanks "Bruges Group", Barry Legg. In einem Gebäude der nahegelegenen Universität haben sich die Brexit-Hardliner versammelt. Sie sind sauer.
"Wir sind von der Premierministerin sehr enttäuscht."
"Das wird Massenunruhen geben, wenn der Brexit nicht kommt und die Regierung kapituliert. Die konservative Partei wird dann in den nächsten 20 Jahren nicht mehr wiedergewählt."
"Das wird Massenunruhen geben, wenn der Brexit nicht kommt und die Regierung kapituliert. Die konservative Partei wird dann in den nächsten 20 Jahren nicht mehr wiedergewählt."
"Keine Kompromisse", alle im Saal lehnen die "Chequers"-Politik von Theresa May ab. "Chequers" heißt der Landsitz der Premierministerin, wo die Idee beschlossen wurde. May will, dass Großbritannien beim Warenverkehr im EU-Binnenmarkt bleibt.
Boris Johnson "ist ein wandelndes Pulverfass"
"Thank you, thank you very much!" Er war der Star des Parteitages: Boris Johnson rockt den Saal. 1.400 Zuschauer jubeln ihm zu, die ersten standen vier Stunden an, um ja einen der begehrten Plätze zu ergattern. "Chuck Chequers!", ruft Johnson und trifft die Stimmung in der Halle. Weg mit dem "Chequers"-Vorschlag der Premierministerin, dem zufolge Großbritannien sich weiter zum Teil an das Regelwerk der EU binden will.
Viele Delegierte des Parteitages lehnen den Kurs ihrer Premierministerin vehement ab. Aber das heißt trotzdem nicht, dass Boris Johnson sie jetzt ersetzen soll – noch nicht. "Das ist jetzt nicht der richtige Moment. Johnson soll sich hinter Theresa May stellen und einem richtigen Brexit zum Durchbruch verhelfen. Aber wer weiß, im Lauf der Zeit könnte er dann Premierminister werden." "Er ist ein wandelndes Pulverfass. Sie wissen nicht, was sie von ihm bekommen."
Tony Travors ist Politikwissenschaftler an der London School of Economics und beobachtet in Birmingham den Parteitag. Auch er sieht, über welche Ausstrahlung ein Boris Johnson verfügt. Aber das Partei-Establishment, die Fraktion und das Kabinett, sagt Travors, wollten ihn verhindern:
"Boris Johnson hat als Bürgermeister von London gezeigt, wie fähig er darin ist, Menschen anzuziehen. Er ist ein Star in der britischen Politik und sehr populär. Wirtschafts- und gesellschaftspolitisch ist Johnson durchaus liberal. Er hätte sehr gute Chancen bei den Mitgliedern. Aber wenn es zu einer Urwahl kommt, könnte er erst gar nicht auf der Kandidatenliste stehen. Denn die meisten konservativen Abgeordneten würden nicht für Boris Johnson stimmen."
Sollte Theresa May jetzt oder später stürzen: Bei den Tories sieht die Satzung vor, dass die Fraktion zunächst zwei Kandidaten auswählt, die anschließend den Mitgliedern zur Urwahl vorgelegt werden. Johnson könnte durchaus an dieser ersten Hürde scheitern.
May "ist dank Salzburg in einer starken Position"
Viele Delegierte auf dem Parteitag in Birmingham zürnten aber ohnehin weit mehr der EU als Theresa May. Die EU habe beim Gipfel in Salzburg keinen Respekt für Großbritannien gezeigt, die Delegierten stellten sich bei aller Kritik patriotisch hinter May. Charles Grant leitet die Londoner Denkfabrik "Center for European Reform" und beobachtete den Parteitag.
"Sie ist dank Salzburg in einer starken Position. Viele denken, die EU war ihr gegenüber so rüde, und Donald Tusk hat dann noch diesen beleidigenden Tweet abgesetzt. Da stellen sich alle hinter sie. Die meisten Tories wollen nicht ihre Führung in Frage stellen, jedenfalls jetzt nicht."
Boris Johnson attackierte die Politik Theresa Mays frontal, aber er gehört gar nicht einmal zu den wirklichen Hardlinern in seiner Partei. Ein John Redwood, Mitglied im Unterhaus, würde am liebsten sofort die Verhandlungen mit Brüssel abbrechen und ohne Rücksicht auf eigene Verluste die EU verlassen. In diesem No-Deal-Fall könnte Dramatisches passieren: Britische Flugzeuge könnten nicht mehr in der EU landen dürfen, die Medikamente könnten knapp werden, im Hafen von Dover ginge womöglich nichts mehr.
Diese radikale Lösung will Boris Johnson nicht, sondern einen anderen Vertrag als "Chequers". Einen Vertrag ähnlich dem CETA-Handelsvertrag der EU mit Kanada. "Wir sollten über einen Super-Kanada-Freihandelsvertrag verhandeln. Die Vorteile sind enorm. Wir können unter anderem selbst Handelsverträge mit anderen Ländern abschließen."
Zwei Modelle für das künftige Verhältnis zwischen Großbritannien und der EU stehen in London zur Debatte: Theresa Mays Chequers-Vorschlag auf der einen Seite, auf der anderen das Modell Kanada, das Johnson vorschwebt. Im Fall Chequers würde beim Im- und Export fast alles beim Alten bleiben – ein wichtiger Punkt in der Frage, ob zwischen Nordirland und Irland die Grenze wieder spürbar wird. Bei Dienstleistungen, Kapitalverkehr und Freizügigkeit von Arbeitnehmern will London aber eigene Wege gehen. Die EU lehnte das Modell "Chequers" beim Gipfel in Salzburg allerdings ab. London picke sich nur die Rosinen aus dem Binnenmarkt heraus.
Ein Kompromiss bei den Zöllen "zeichnet sich ab"
Charles Grant von der Denkfabrik "Center für European Reform" pendelt zwischen der britischen Hauptstadt und Brüssel. Er schätzt, dass trotz der Absage der EU die Chancen für eine Einigung zwischen Großbritannien und der EU bei 70 Prozent lägen. Hinter den Kulissen liefen die Gespräche vor dem nächsten EU-Gipfel am 18. Oktober auf Hochtouren, die britische Regierung überarbeite gerade ihr Angebot.
"Es zeichnet sich ab, wie der Kompromiss bei den Zöllen aussehen könnte. Man einigt sich auf einen langfristigen Plan, ich nenne das die "super duper" Zollvereinbarung. Großbritannien bleibt danach solange in der EU-Zollunion, bis eines Tages technologische Lösungen physische Grenzkontrollen überflüssig machen. London kann weiter ohne Zollformalitäten mit der EU Handel treiben und gleichzeitig eines Tages unabhängig von der EU eigene Handelsverträge abschließen. Irgendwann sagt dann die EU-Kommission, die Technologie funktioniert, wir können damit leben."
Aber Zölle sind nur ein Problem. Das andere ist der EU-Binnenmarkt, den London – außer beim Warenverkehr – verlassen will. Boris Johnson erklärte auf dem Parteitag, welche Chancen er darin sieht, wenn Großbritannien nicht mehr im Binnenmarkt wäre. Es müsste sich dann nicht mehr an Regeln halten, die in der EU gelten:
"In vielen ökonomischen Bereichen des 21. Jahrhunderts liegen wir um Lichtjahre vorne. Technologie, Daten, Biowissenschaften, Finanzdienstleistungen – wir sind Spitze. Wir sollten unser eigenes Regelwerk schaffen, um diesen Vorsprung auszubauen. Unsere EU-Partner sehen das kommen, und deswegen wollen sie uns einengen."
Auch dem Politikexperten Charles Grant zufolge treibt die EU die Sorge um, Großbritannien könnte bei Umwelt- oder Verbraucherstandards eine unfaire Dumpingpolitik betreiben. Gegner des Brexits auf der Insel glauben sowieso, dass hinter dem Brexit die Agenda steht, z.B. zu Lasten der Arbeitnehmer zu deregulieren. Die EU besteht deswegen darauf, so Grant, dass London sich auch über den reinen Warenverkehr hinaus verpflichtet, die Standards der EU zu erfüllen.
"Die größte Sorge der EU beim gemeinsamen Regelwerk im Binnenmarkt ist, dass die Briten sich nicht mehr an die gemeinsamen Spielregeln bei den Dienstleistungen, auf dem Arbeitsmarkt oder beim Umweltschutz halten. Britische Unternehmen könnten sich unfair Wettbewerbsvorteile verschaffen. Diese Angst der EU ist aber völlig übertrieben. Großbritannien will sich zum Beispiel ohne Frage an seine Klimaziele halten. Aber Theresa May muss der EU anbieten, sich auch in anderen Bereichen an das EU-Regelwerk zu halten."
Einigung könnte im britischen Unterhaus scheitern
EU und London können sich also noch einigen. Grant spricht von einem "Chequers 2" und hofft, dass die EU diesem Kompromiss im Grundsatz zustimmen wird. Wenn aber beide Seiten sich nicht einigen, dann droht der Abbruch der Verhandlungen. Auf der Insel nennt man diesen Fall "No deal", er wäre der "worst case". Auf die britische Wirtschaft käme höchstwahrscheinlich eine Schockwelle zu, etwas weniger ausgeprägt aber auch auf die EU. Britische Wirtschaftsverbände warnen ihre Regierung händeringend davor, die EU ohne ein Abkommen zu verlassen. Konservative Unterhausabgeordnete wie John Redwood aber, ein EU-Gegner seit 25 Jahren, wäre genau das am liebsten.
"Wenn es keinen Vertrag mit der EU gibt, wäre das großartig. Dann können sie uns nicht mehr herumkommandieren und unser Geld kassieren. Die EU ist unverschämt, und je früher wir die Tür hinter uns zuknallen und Goodbye sagen, desto besser."
Sollte Theresa May eine Einigung mit der EU gelingen, wird sie damit bei ihrer Rückkehr nach London das nächste Problem vorfinden. Teile der eigenen Partei wollen im Unterhaus gegen ihren "Deal" mit der EU stimmen. Die Premierministerin wird Stimmen aus der Opposition brauchen, vor allem von Labour.
Liverpool vor zwei Wochen, der Parteitag von Labour. Vor dem Eingang schwenken Demonstranten blaue Europafahnen. Steven Bray hat sich sogar ganz in eine EU-Fahne gewickelt und hält ein rotes Schild hoch mit der Frage "Brexit – ist es das wert?". "Seit dem Referendum sind zwei Jahre vergangen. Das größte Hindernis ist doch, dass Labour überhaupt keinen Widerstand gegen den Brexit leistet."
Eine andere Demonstrantin verteilte gelbe Sticker mit der Aufschrift "Brexit-Blödsinn". "Wenn Jeremy Corbyn wirklich auf seine Partei hören würde, dann muss er die Möglichkeit eines zweiten Referendums einbeziehen, bei dem man für den Verbleib in der EU stimmen kann."
Eine Mehrheit der Basis von Labour spricht nicht von "Chequers", nicht von Zollunion und Binnenmarkt – sie will ein zweites EU-Referendum. Das Problem: Der Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn sperrt sich dagegen.
Eine junge Labour-Aktivistin in Liverpool trägt ein "Superman"-T-Shirt mit der Aufschrift "Jeremy Corbyn". Die Jungen sind eigentlich die größten Anhänger von Corbyn, bejubeln ihn und feiern ihn auf Rockkonzerten. Diese junge Frau aber macht stutzig, warum Corbyn kein Anhänger der EU ist: "Warum stehen wir auf der gleichen Seite wie Boris Johnson und Jacob Rees-Mogg? Sie sind der Grund, warum wir das Referendum bekamen."
Will Labour die Einigung scheitern sehen?
In der EU-Frage gibt es zwischen Corbyn und seinen jungen Anhängern eine erkennbare Kluft. Um sie zu überbrücken, stieß Jeremy Corbyn widerwillig die Tür zu einem neuen Referendum einen Spalt weit auf – indem man es nicht ausschloss. Der Brexit-Sprecher der Partei, Keir Starmer: "Erst einmal entscheidet das Parlament. Aber wenn wir nicht anders aus der Sackgasse herauskommen, dann schließen wir eine Volksabstimmung nicht aus. Auch nicht die Option, dabei für den Verbleib in der EU zu stimmen."
Labour hält sich also formal alle Optionen offen. Aber die wirklichen Ziele sind andere, meint Sarah Hobolt vom "European Institute" der London School of Economics. Die Labour-Führung wolle kein neues Referendum und werde einen Vertrag Mays mit der EU im Unterhaus ablehnen, was immer die Premierministerin auch in Brüssel aushandelt. "Ich glaube schon, dass Labour gegen den Vertrag stimmen wird, den die Regierung mit Brüssel abschließen will. Sie glauben nicht daran, dass es dann gar keinen Deal gibt, wie es Theresa May androht. Labour wird dann Neuwahlen fordern und versprechen, man werde nach einem Wahlsieg Besseres aushandeln. Jeremy Corbyn verhält sich vage und vieldeutig."
Labour will also die Regierung stürzen und nicht stützen. Eine Frage dabei lautet, ob es denn nach Neuwahlen und nach einem Wahlsieg Labours ein zweites Referendum geben könnte. Dann gebe es dafür vielleicht eine Mehrheit im Unterhaus. Aber selbst ein EU-freundlicher Labour-Abgeordneter wie Stephen Kinnock warnt in einem Café am Rand des Parteitags entschieden davor:
"Die Briten schauten schon vor dem Referendum verächtlich auf ihr Parlament herab. Wenn wir jetzt wieder eine Volksabstimmung ansetzen, weil wir zwei Jahre lang gefeilscht und nichts vorangebracht haben, dann gibt das der großen Politikverdrossenheit noch einmal einen enormen Schub."
Sowohl für Neuwahlen als auch für ein zweites Referendum ist die Zeit jetzt ohnehin zu knapp. Großbritannien müsste die EU bitten, das geplante Austrittsdatum zu verschieben – also etwa um ein Jahr auf den 29. März 2020. Es ist tatsächlich eine der Möglichkeiten, die im Gespräch sind.
EU spielt Mays Gegner Johnson in die Karten
Der Politikwissenschaftler Charles Grant kritisiert die EU-Strategie. Michel Barnier, der Verhandlungsführer, lehne "Chequers" ab und wolle London dazu zwingen, einen Freihandelsvertrag ausgerechnet nach dem Vorbild Kanadas abzuschließen. Damit spiele er doch nur Boris Johnson in die Karten, der auch einem vergleichsweise losen Vertrag à la Kanada den Vorzug geben will – mit radikalen Folgen für die irische Insel.
"Das Modell 'Kanada' würde das Vereinigte Königreich spalten. Das ist eine seltsame Allianz zwischen Michel Barnier und Boris Johnson. Sie pushen beide Theresa May in Richtung des Kanada-Modells. Sie verstehen aber die Konsequenzen nicht. Nur das Modell 'Chequers' kann verhindern, dass es zu einer harten Grenze zwischen Nordirland und Irland kommt. Jeder andere Plan zieht eine harte Grenze nach sich."
Auch Premierministerin Theresa May argumentiert so: Bei einem Freihandelsvertrag nach dem Modell Kanada muss es Grenzkontrollen zwischen der EU und Großbritannien geben, denn beide bilden dann getrennte Wirtschaftsräume. Die Republik Irland und die EU bestehen aber darauf, dass es auf gar keinen Fall Kontrollen zwischen Nordirland und Irland geben darf. Sie wären eine Bedrohung für den Friedensprozess in Nordirland. Es bliebe also nur eine Alternative: Kontrolliert würde in der Irischen See zwischen Großbritannien und Nordirland. Nordirland liefe Gefahr, politisch von Großbritannien abgekoppelt zu werden. Charles Grant sagt voraus, dass dann die Verhandlungen am Ende sind.
"Die meisten in Brüssel, mit denen ich rede, erwarten, dass die Briten klein beigeben. Unterschätzen Sie aber nicht, wie selbst moderate britische Politiker lieber gar keinen Vertrag hätten, trotz all des Chaos, das das nach sich zieht, als die Integrität unseres Landes aufs Spiel zu setzen."
Das Vereinigte Königreich nach den Parteitagen der beiden großen Parteien: Es herrscht große Ungewissheit. Mancher spricht von einem "Armageddon", das droht, sollte alles zusammenbrechen. Andererseits ist es aber vielleicht genau diese düstere Aussicht, die Premierministerin Theresa May helfen könnte.
Einige Labour-Politiker könnten sich der Linie der Parteiführung verweigern, statt stur auf Neuwahlen zu setzen. Und den Hardlinern im eigenen Lager gab May in Birmingham eine deutliche Warnung mit auf dem Weg: Wenn sie zu viel verlangen, droht am Ende ein zweites Referendum. "Wenn wir nicht an einem Strang ziehen und nur die Vision von einem perfekten Brexit verfolgen, dann gehen wir das Risiko ein, dass es am Ende gar keinen Brexit gibt."