14. November 2024. Der Youtube-Kanal „Stuttgart turnt“ veröffentlicht ein Interview mit Meolie Jauch. Darin erzählt die 17jährige über ihr geplantes Comeback nach einem Kreuzbandriss:
„Ich möchte vor allem mich stolz machen. Und ich möchte auch den anderen zeigen, dass ichs wieder zurück schaffe, nach so einer Verletzung, weil es ist ja auch nicht selbstverständlich dass man vor allem stärker nach so einer großen Verletzung zurück ist“.
"Weil es mental nicht mehr geht": 17-jährige Turnerin beendet ihre Karriere
Vier Wochen nach Veröffentlichung des Videos beendet die frühere deutsche Juniorenmeisterin und WM-Teilnehmerin mit nur 17 Jahren ihre Turn-Karriere.
„Nicht, weil ich nicht mehr kämpfen will“, schreibt sie auf Instagram, „nicht, weil mein Körper nicht mehr kann – sondern weil es mental nicht mehr geht.“
„Und wenn das eine 17-Jährige sagt, ist das natürlich etwas, was schon Hammer ist. Also es ist einfach sehr krasse Aussage von jemand, der noch so jung ist.“, ordnet Kim Bui im Deutschlandfunk-Interview ein. Sie war selbst jahrzehntelang Leistungsturnerin am Turnzentrum Stuttgart.
Nach dem Ende ihrer Karriere hatte sie öffentlich gemacht, dass sie während ihrer Turnlaufbahn unter Essstörungen gelitten hatte. Bui ist heute Mitglied der IOC-Athletenkommission.
Sie glaubt: das Karriereende der 17jährigen Meolie Jauch ist der Tropfen gewesen der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. „Was auch andere natürlich hat aufhorchen lassen und sich dann natürlich irgendwo sich vielleicht ermutigt gefühlt haben, sich zu äußern.“
Seelischer und körperlicher Missbrauch
Kurz vor Weihnachten meldet sich die frühere Olympiateilnehmerin Tabea Alt über die sozialen Medien zu Wort. Bereits vor drei Jahren habe sie in einem Brief an Verantwortliche des Deutschen Turnerbundes auf Missstände in Stuttgart und im Frauenturnen generell hingewiesen.
„Ich habe diesen seelischen körperlichen Missbrauch erfahren. Es wurde sich über meine Gesundheit und über meine ja Äußerungen, dass ich verletzt bin, dass ich Schmerzen habe hinweggesetzt haben, das wurde einfach nicht gehört. Und wenn man weint im Training wird man halt auch der Halle verwiesen. Und dann heißt halt nur am ja, dein Gesicht will hier niemand sehen", beschreibt die ehmalige WM-Dritte Tabea Alt zu Wochenbeginn im ZDF.
Nach ihrem Brief an den DTB, in dem sie auch Lösungsvorschläge gemacht habe, sei nichts passiert. Etliche weitere Spitzenturnerinnen berichten im Anschluss in den sozialen Medien von ähnlichen Erfahrungen, die sie als Kinder im Leistungsturnen gemacht haben.
„Wenn man sich die Schilderungen anschaut, die massiven Schmerzen, Verletzungen, mit denen weitergeturnt wurde,“ sagt Kerstin Claus, die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung
Psychischer Missbrauch hat System im Leistungssport
„Wenn man sich den Bruch, wenn diese Beschreibungen stimmen der Privatsphäre über Durchsuchen von Zimmern, ob da Schokolade liegt oder nicht und Ähnliches anschaut, dann sind das massive Eingriffe, sowohl in die Privatsphäre als auch eben in diese Unversehrtheit körperlich wie psychisch und dann sind das Menschenrechtsverletzungen vollkommen klar.“
Psychischer Missbrauch hat System im Leistungssport in Deutschland – nicht nur im Turnen. Das belegen Ergebnisse der Studie „Safe Sport“. Unter anderem durchgeführt von Forschern der Uniklinik Ulm und dem Team von Bettina Rulofs, Sportsoziologin der Kölner Sporthochschule.
Sie haben schon vor sieben Jahren herausgefunden: „Dass 86 Prozent der befragten Leistungssportler und Leistungssportlerinnen angaben, schon mal eine Form von psychischer Gewalt im Kontext des Leistungssports erlebt zu haben. Und damit müssen wir eigentlich sagen, dass so etwas wie psychischer Druck, Drangsalieren, unter Druck setzen, beschämen, eine sehr geläufige Erfahrung ist im Leistungssport“.
Hinzu kommt: jede oder jeder Dritte hat im Leistungssport körperliche Gewalt erlebt, ist geschüttelt oder geschlagen worden - längst nicht nur im Turnsport. Aber der steht jetzt im Fokus, gab es doch vor vier Jahren bereits ähnliche Vorwürfe in Chemnitz. Der DTB hatte die beschuldigte Trainerin damals entlassen. Diese war juristisch erfolgreich dagegen vorgegangen, hatte die Vorwürfe stets bestritten.
Ein Systemproblem und auch ein Turnproblem?
Für die frühere Turnerin Kim Bui steht trotzdem fest: „Das ist ein Systemproblem, das wir da haben. Und vielleicht ist es auch ein Turnproblem“.
Dazu hat sich jetzt auch das für den Sport zuständige Bundesinnenministerium geäußert. Im vergangenen Jahr hat es 4,76 Millionen Euro an den Leistungssportbereich des deutschen Turnerbundes ausgeschüttet. Auf Deutschland-Anfrage schließt das Ministerium ein Einfrieren der aktuellen Förderung aufgrund der neuen Vorwürfe nicht aus und schreibt:
„Sobald dem BMI eine belastbare Tatsachengrundlage vorliegt, müssen etwaige Konsequenzen geprüft werden.“
Zuvor hatte sich das Sportministerium in Stuttgart ähnlich geäußert. Landesmittel könnten zurückgefordert werden, wenn die körperliche und seelische Gesundheit von Athletinnen und Athleten gefährdet sei.
Der Deutsche Turnerbund hatte Ende des Jahres gemeinsam mit dem Schwäbischen eine Stellungnahme veröffentlicht. Darin: Erläuterungen zu Maßnahmen, die bereits eingeleitet worden seien. Anhaltspunkte aus dem Schreiben von Tabea Alt vor drei Jahren seien in das Projekt „Leistung mit Respekt eingeflossen,“ schreibt der DTB auf Anfrage des Deutschlandfunks. Und weiter: Die Maßnahmen seien stetig evaluiert und angepasst worden.
Die Umsetzung hat zumindest in Stuttgart offenbar nicht funktioniert. Zwei Personen am dortigen Turnzentrum Stuttgart sind laut DTB freigestellt worden.
Safe Sport Code noch wirkungslos
Im November hatte der DTB als erster Sportverband in Deutschland den Safe Sport Code verabschiedet. Der Code soll helfen, Übergriffe auch dann rechtssicher zu sanktionieren, wenn sie nicht strafrechtlich relevant sind. Im aktuellen Fall der massiven Vorwürfe in Stuttgart ist der Code jedoch völlig wirkungslos.
Zum Zeitpunkt der geschilderten Übergriffe gab es ihn noch gar nicht. Und: der Code gilt nur für die Gruppen im Verband, die ihn anerkannt haben. Das wird dauern. Bis zu den Trainern ist das Regelwerk noch gar nicht gekommen.
Es ist eine große Herausforderung für den Sport, mit Vorwürfen psychischer, physischer und sexualisierter Gewalt angemessen umzugehen.
Unabhängige Unterstützung ist zwingend erforderlich
Der Fall Stuttgart zeigt einmal mehr die externe, unabhängige Unterstützung ist hier zwingend erforderlich.
Etwa durch ein entstehendes Zentrum für Safe Sport. Eine Instanz außerhalb des Sports die Fälle, wie etwa den in Stuttgart untersuchen kann.
Die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung Kerstin Claus regt im Deutschlandfunk-Interview an, „Dass die, die Expertise in diesem Themenfeld haben und das ist ganz sicher auch mein Amt, gemeinsam mit dem Innenministerium und mit der Landespolitik, in dem Fall dann eben auch, dass man sich zusammensetzen muss und gemeinsam schauen muss, was sind denn die besten Wege, wie man dazu beitragen kann, dass solche Entgrenzungen künftig an einem solchen Stützpunkt nicht mehr vorkommen können“.