Es war das erste Mal, dass alle fünf Spitzenkandidaten der europäischen Parteien bei einer TV-Debatte aufeinander trafen. 90 Minuten lang hatten sie am Donnerstagabend Zeit, ihre Positionen gegeneinander abzugrenzen oder Gemeinsamkeiten hervorzuheben. Ihr Ziel: Alle Fünf wollten den europäischen Wählern eine Woche vor der Europawahl klarmachen, warum gerade sie und ihre Partei gewählt werden sollten.
Die RAI-Journalistin Monica Maggioni moderierte die Gesprächsrunde. Eine wirkliche Diskussion kam allerdings nur selten auf. Vielmehr wurden die Positionen nacheinander abgefragt.
Zankapfel Wirtschaftspolitik: Sparen oder investieren?
Etwas Würze hatten sich Beobachter im Vorfeld der TV-Debatte von der Teilnahme des Kandidaten der europäischen Linken, Alexis Tsipras, versprochen. Doch in vielen Punkten seiner Kritik blieb der Chef der griechischen Oppositionspartei Syriza vage. Sein immer wieder beschworener Tenor in Sachen Wirtschaftspolitik, dem ersten Thema der Runde, lautete: Die "zerstörerische Sparpolitik" der Europäischen Union müsse beendet werden. Er forderte stattdessen mehr Investitionen in Wachstum und mehr sozialen Zusammenhalt sowie ein europäisches Schuldenabkommen.
Die Spitzenkandidatin der Grünen, Ska Keller, sprach sich für ein Ende der Austerität (Spardisziplin) aus und verlangte Investitionen in erneuerbare Energien, Bildung und Forschung, um so auch neue Arbeitsplätze gerade für junge Leute zu schaffen. Auch Martin Schulz, der für die europäischen Sozialdemokraten antritt, sagte, statt Haushalte zu kürzen, müsse sich die Politik für Wachstum stark machen und gegen Steuerhinterziehung kämpfen. Der Luxemburger Ex-Premier Jean-Claude Juncker, der für die Konservativen antritt, verteidigte die Sparpolitik der EU und wies darauf hin, dass die europäischen Parteien in der Krise gemeinsam Beschlüsse gefasst hätten. "Wenn man investieren will, dann müssen die öffentlichen Finanzen in Ordnung gebracht werden", betonte er. Der Kandidat der Liberalen, Guy Verhofstadt, verwies auf einen der Erfolge der EU: "Wir haben die Bankenunion hinbekommen." Es seien nun nicht mehr die Steuerzahler, die künftig den Kopf bei Bankenpleiten hinhalten müssten.
Gemeinsame Linie: EU muss sich Russland gegenüber stark zeigen
Ein weiteres großes Thema war die Krise in der Ukraine. Die Kandidaten waren sich weitgehend einig in einer härteren Gangart gegenüber der russischen Regierung. Verhofstadt warf die Frage auf, was eine Europäische Union bringe, wenn sie in einer solchen Krise versage und die Ukrainer sich nicht sicher fühlen könnten. Europa müsse stark sein. Er sprach sich ebenso wie Schulz und Juncker für härtere Sanktionen aus, sollte der russische Präsident Wladimir Putin seinen Kurs nicht ändern.
Keller forderte, Waffenlieferungen von Europa nach Russland zu stoppen und sich durch stärkere Nutzung erneuerbarer Energien unabhängig von Gaslieferungen zumachen. Tsipras warnte vor einem Rückfall in den Kalten Krieg. Die Krise müsse im Dialog gelöst werden. Es dürfe keinerlei militärische Intervention geben - weder von der NATO noch von Russland. Er forderte aber auch, die EU dürfe Neonazis in der ukrainischen Regierung nicht tolerieren.
Kampf gegen Korruption gefordert
Weitere Themen waren der Umgang der EU mit den Unabhängigkeitsbestrebungen etwa in Schottland oder Katalonien, die europäische Flüchtlings- und Einwanderungspolitik sowie die Debatte über religiöse Symbole im öffentlichen Raum.
Als eine der Ursachen der europaweiten Politikverdrossenheit und der daraus resultierenden niedrigen Wahlbeteiligung der vergangenen Jahre wurde die Korruption angeprangert. Keller nannte den überbordenden Lobbyismus auch in den Korridoren der EU-Institutionen einen Teil des Problems. Sie forderte eine größere Unabhängigkeit des EU-Parlaments, vor allem von Berlin und Paris. Das Parlament dürfe nicht "Erfüllungsgehilfe des Rates" sein. Tsipras kritisierte das "Demokratie-Defizt" in Europa. 28 Regierungen täten das, was Angela Merkel wollte, sagte er. Schulz betonte: "Korruption ist ein europäisches Phänomen". Um mehr Transparenz zu schaffen, brauche es neue Regelungen. Juncker unterschied dagegen deutlich zwischen Lobbyismus und Korruption. Man dürfe Organisationen nicht untersagen, ihre Interessen durchzusetzen. Dies müsse allerdings öffentlich geschehen. Verhofstadt betonte, durch das neue Transparenzregister sei hier bereits mehr Klarheit entstanden.
"Einer von uns muss es werden"
Als Monica Maggioni die fünf Politiker schließlich auf den Posten des EU-Kommissionspräsidenten ansprach, für den sie alle kandidieren, gab es keine Differenzen mehr: Alle fünf betonten, es sei undenkbar, dass jemand außerhalb der Kandidatenreihe der nächste Kommissionspräsident werde. "Der nächste Präsident der Europäischen Kommission steht hier, und Sie sprechen gerade mit ihm", sagte Schulz der Moderatorin.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte die Debatte ausgelöst, als sie in einem Interview erklärte, es gebe rechtlich gesehen keinen Automatismus, dass der Sieger des Duells der Spitzenkandidaten den Spitzenposten bekomme. Vor allem die europäischen Sozialdemokraten und Sozialisten pochen darauf, dass der Spitzenkandidat der bei den Europawahlen erfolgreichsten Partei auch als EU-Kommissionspräsident nominiert werden müsse.
(kis/ bö)
Die Kandidaten im Überblick:
Jean-Claude Juncker (59) ist Spitzenkandidat der christdemokratischen Europäischen Volkspartei (EVP) für die Europawahl Ende Mai. Er war von 1995 bis 2013 Premierminister von Luxemburg und stolperte über eine Geheimdienst-Affäre. Europaweit bekannt wurde Juncker als "Mister Euro": Von 2005 bis 2013 saß er der Gruppe der Euro-Länder vor und war damit einer der wichtigsten Akteure in der Finanzkrise. Der gelernte Jurist spricht neben Letzeburgisch auch fließend Deutsch, Französisch und Englisch.