Christine Heuer: "Wenn die Tyrannenkinder erwachsen werden" heißt ein Buch, das in Deutschland gerade lebhaft diskutiert wird. Geschrieben hat es die Wiener Kindertherapeutin Martina Leibovici-Mühlberger. Ihre These: Eltern setzten Kindern keine Grenzen mehr, deshalb legten viele Kinder tyrannische Verhaltensweisen an den Tag und würden später zu lebensuntüchtigen Erwachsenen. Leibovici-Mühlberger warnt sogar vor einer gesellschaftlichen Katastrophe, weil man auf die nächste Generation nicht mehr zählen könne.
Ist das alles nur eine Neuauflage des Jahrtausende alten Lamentos über die Jugend von heute, oder ist doch was dran an der Analyse der Wiener Therapeutin und anderer Buchautoren, die mit den gleichen oder ähnlichen Thesen in den letzten Jahren immer mal wieder von sich reden machten?
- Fragen jetzt an den Schweizer Kinderarzt und Autor viel gelesener Erziehungsbücher Remo Largo. Guten Morgen, Herr Largo.
Remo Largo: Guten Morgen, Frau Heuer.
Heuer: Erziehen wir gerade eine Generation von lebensuntüchtigen Tyrannen?
Largo: Ich weiß es nicht. Ich mag nicht in die Zukunft spekulieren. Ich denke, für die Eltern ist es sinnvoller, man fragt sich, weshalb die Kinder überhaupt gehorchen. Was sind die Grundvoraussetzungen, dass man sich auch glaubwürdig bei den Kindern durchsetzen kann.
Heuer: Das setzt aber voraus, dass die Eltern sich erst einmal durchsetzen wollen. Und das ist ja genau die These derer, die sagen, da läuft gerade was gewaltig falsch, dass Eltern das nämlich nicht mehr versuchen.
Largo: Gehorsamkeit entsteht durch starke emotionale Bindung
Largo: Ich muss vielleicht etwas ausholen. Wenn man sich fragt, weshalb Kinder überhaupt gehorchen, dann kommt man darauf, dass sie sich sehr stark an die Eltern und an andere Bezugspersonen binden. Und diese Bindung macht sie gehorsam. Aus einer emotionalen Abhängigkeit heraus wollen sie die Zuwendung, die Liebe der Eltern nicht verlieren. Deshalb gehorchen sie.
Und wenn sich jetzt Eltern nicht durchsetzen können, muss man sich fragen, ob allenfalls diese Bindung nicht ausreichend stark ist, weil wenn das der Fall ist, dann erleben die Kinder jede Art von Zuweisung als Ablehnung. Wenn sie gut gebunden sind, dann akzeptieren sie, was die Eltern sagen. Wenn sie nicht gut gebunden sind, dann fühlen sie sich abgelehnt. Und ich denke, dass viele Eltern das intuitiv spüren und deshalb nicht mehr wagen, die Kinder zurechtzuweisen.
Heuer: Haben wir also kein Autoritäts-, sondern ein Beziehungsproblem zwischen Eltern und Kindern?
Largo: Ich finde ganz entschieden ja.
Heuer: Woher rührt das? Wo kommt das her?
Largo: Ein ganz wichtiger Faktor ist natürlich eine Beziehung, eine vertrauensvolle Bindung. Die entsteht nur über die Zeit. Man muss Zeit aufwenden. Man muss als Eltern gemeinsame Erfahrungen machen mit den Kindern. Ich kann Ihnen ein Beispiel geben. Als ich noch gearbeitet habe, am Abend nachhause gekommen bin, hätte ich nie gewagt, ein Kind gleich zurechtzuweisen. Und zwar einfach deshalb: Ich war den ganzen Tag nicht da und jetzt komme ich nachhause und nörgele an den Kindern herum. Das führt sofort zu einer Ablehnung. Wenn ich aber am Wochenende mit den Kindern längere Zeit zusammen war, kann die gleiche Zurechtweisung vom Kind angenommen werden. Das ist überhaupt kein Problem, weil wir haben etwas gemeinsam erlebt, die Beziehung, die ist da. Und so akzeptiert dann das Kind auch, wenn ich es zurechtweise.
Heuer: Aber sagen Sie, dass Eltern heute im Gegensatz vielleicht auch zu Ihren eigenen Erfahrungen als Vater weniger Zeit für ihre Kinder aufbringen?
Largo: Ich bin mir da nicht sicher. Wahrscheinlich nicht weniger als früher. Aber was das Problem ist, heute ist, dass es viel weniger andere Bezugspersonen gibt als früher. Früher waren da noch Verwandte, Großeltern. Und ich meine jetzt nicht nur auf Besuch, sondern die waren ständig da. Nachbarn und so weiter und so fort. Jetzt hängt eigentlich die ganze emotionale Befindlichkeit der Kinder von den Eltern ab, was eigentlich fast nicht zu leisten ist heutzutage. Insbesondere, wenn man bedenkt, dass viele Mütter arbeiten und einen sehr mühsamen Spagat machen zwischen Familie und Arbeit.
Heuer: Wie löst man denn dieses Problem? Sollen die Mütter zuhause bleiben?
Largo: Väter in der Schweiz verbringen pro Tag nur 20 Minuten mit dem Kind
Largo: Nein, das denke ich nicht. Das sieht man auch in den skandinavischen Ländern, dass das nicht notwendig ist. Aber wir sollten uns überlegen, wieviel Zeit wir aufwenden mit den Kindern. Ich habe in der Schweiz vor einigen Jahren festgestellt: Im Durchschnitt verbringen die Väter 20 Minuten pro Tag mit dem Kind. Und das reicht natürlich nicht aus. Das ist etwa so viel, wie sie für die Morgentoilette brauchen.
Heuer: Und wie löst man das Problem? Wie schafft man es, dass Kinder aus dem, was Sie als eine Art Isolation beschreiben, herauskommen?
Largo: Indem die Eltern sich mehr Zeit nehmen, mehr mit den Kindern gemeinsam etwas unternehmen. Das ist ja auch ein Problem in Bezug auf den Fernsehkonsum oder das Gamen. Ich meine, das ist nicht nur für die Kinder verführerisch. Das ist auch für die Eltern verführerisch, weil dann sind ja die Kinder beschäftigt.
Heuer: Also mehr Konzentration aufeinander?
Largo: Ja. Sie müssen zum Beispiel beim Gamen Alternativen anbieten. Sie können nicht einfach nur dem Kind das Gamen verbieten, sondern Sie müssen sinnvolle Alternativen haben. Entweder machen Sie selber etwas mit dem Kind, oder das Kind kommt mit anderen Kindern zusammen und kann spielen.
Heuer: Remo Largo, Schweizer Kinderarzt, Autor von Beziehungsbüchern, war das im Interview mit dem Deutschlandfunk. Herr Largo, haben Sie vielen Dank für das Gespräch.
Largo: Einen guten Tag wünsche ich Ihnen.
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