"Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch, auf dessen Höhe sich die Bettdecke, zum gänzlichen Niedergleiten bereit, kaum noch erhalten konnte."
Als Franz Werfel eines Tages nach atemloser Lektüre von Franz Kafkas Erzählung "Die Verwandlung" aus seiner Verzückung erwachte, sah er sich zu einem ungeheueren Lobesbrief genötigt. Er nahm Stift und Papier und schickte dem Autor Zeilen, die diesen wohl zutiefst erschreckt haben dürften: "Lieber Kafka", schrieb Werfel, "Sie sind so rein, neu, unabhängig, und vollendet, dass man eigentlich mit Ihnen verkehren müsste, als wären Sie schon tot und unsterblich".
Kafka ertrug solche Ermutigungen nicht - sie sorgten für Lähmung oder zumindest Unbehagen. Mit diesem Brief aber war der Grundton der Rezeption angestimmt, in dem bald nach Kafkas tatsächlichem Tod über den Dichter gesprochen wurde: Reinheit, Vollendung und Unsterblichkeit waren Vokabeln, mit denen aus dem Schriftsteller Kafka der "heilige Franz" wurde. Kafka selbst bewahrte immer eine Distanz zum Geschriebenen und zu sich. In seinem Tagebuch heißt es:
"Nur nicht überschätzen, was ich geschrieben habe. Dadurch mache ich mir das zu Schreibende unerreichbar."
Kafka wurde rasch zum Mythos, und sein erster Biograf Max Brod hatte an dieser Mythisierung wesentlichen Anteil. Erst spät setzte im Windschatten von Hermeneutikern, Existenzialisten, Marxisten, Psychoanalytikern, Strukturalisten und Freigeistern eine andere Rezeption ein: Neben den verschiedensten textimmanenten Lesarten und Vereinnahmungsversuchen von Andre Breton über Albert Camus bis zu Charles Neider geriet nun auch die Person Kafkas in den Fokus; die Außenwelt der Innenwelt des Prager Juden sollte neue Erklärungen liefern.
Mit Reiner Stachs akribisch recherchierter Lebensdarstellung Kafkas ist dieser biografische Ansatz auf die Spitze getrieben: Er legt nach weiteren sechs Jahren Arbeit den lange erwarteten zweiten Band seiner auf drei Bände angelegten Biografie vor - der fehlende letzte, chronologisch aber erste Teil über die Kindheits- und Jugendjahre kann erst geschrieben werden, wenn Stach Einblick in den noch in Israel liegenden Nachlass von Max Brod gewährt wird.
Das Verdienst Reiner Stachs besteht einmal darin, dass er vor einigen Jahren im Nachlass Felice Bauers vieles Neue entdeckt und dieses in seine Bücher eingearbeitet hat; zum anderen setzt er die verstreuten Puzzleteile dieses nach außen unscheinbar wirkenden Lebens auf faszinierende Weise zusammen: So entsteht zwar kein Bild, das die bisherigen Bilder gänzlich auslöschen könnte. Aber es wird doch vieles deutlicher konturiert und stärker beleuchtet. Dabei wagt Stach sich nur in ganz seltenen und dann wohl begründeten Fällen auf spekulatives Gebiet vor.
Dass Reiner Stach die gesamte Kafka-Forschung kennt und in den meisten Fällen sehr nahe an den Quellen bleibt, ohne immer jedes Detail aus den Briefen oder Tagebüchern in einer Fußnote nachzuweisen, mag Germanisten irritieren - für alle anderen aber trägt das zu ungemeiner Lesbarkeit bei. Der erste Band hat sich über 30000 Mal verkauft - für ein literaturwissenschaftliches Sachbuch eine enorme Zahl.
"Die Jahre der Erkenntnis" setzt ein mit einem Prolog, der uns eine absurde Episode an der Heimatfront des Ersten Weltkriegs vorführt: 1915 lockt ein "Schauschützengraben" auf der Kaiserinsel im Norden Prags Tausende von Neugierigen an. Sie werden durch die ausgehobenen Stellungen geschleust und versuchen, sich so das Gruselige vor Augen zu führen, das die Soldaten täglich durchleben. Stach erschafft mit literarischem Gespür eine Szenerie; man wird sofort in dieses Spektakel hineinkatapultiert. Nach wenigen Seiten kommt Kafka ins Spiel: Auch er kann sich dem Aufsehen erregenden Volksfest nicht ganz entziehen. Diese Eingangsszene ist sehr aufschlussreich, um die Methode Reiner Stachs zu charakterisieren:
"Die Überlegung war, es ähnlich zu machen wie im Film, nämlich mit einer bewegten Kamera zu arbeiten, die intimen Momente aus großer Nähe zu zeigen, so weit das die Quellen natürlich hergeben, also erfinden kann ich nichts, das wäre ja absurd. Ich versuche also, einen Wechsel zu schaffen zwischen der Beobachtung intimer Momente und dann so panoramischen Blicken, wie sie zum Beispiel im Prolog angewendet werden. Das heißt, man sieht eine Menschenmenge, und man sieht wie sie reagiert, und es wird eine Atmosphäre, die in einer Stadt herrscht, in einer ganzen Stadt, und nicht nur in einem Viertel, einer Familie oder einer Schicht, sozusagen versucht, lebendig zu machen."
Stach kann mit dieser Dramaturgie, in der immer wieder von der Vogelperspektive zu Nahaufnahmen gezoomt wird, über 700 Seiten hinweg die Spannung halten. Sein Buch scheint weniger auf eine Zeit zu blicken, als aus ihr heraus selbst zu entstehen. Kafka tritt auf in einer breit vor dem Leser entfächerten Lebenswelt.
"Die Jahre der Erkenntnis" beginnen, wo der letzte Band endete: im Jahr 1915. Schon in den "Jahren der Entscheidungen", die die Zeit zwischen 1910 und 1915 behandelten, hatte Stach deutlich gemacht, welche Rolle der Erste Weltkrieg für Kafka spielte. Die bisherige Forschung war darüber meist hinweg gegangen.
"Ich würde sogar sagen, es hat sein Leben auf allen Ebenen beeinflusst, wirklich auf allen. Zum Beispiel die Beziehung zu Frauen: Die wurde erheblich erschwert durch den Krieg, weil: Kafka durfte nicht mehr reisen, er war ja militärpflichtig, das heißt, wenn er nach Berlin wollte, zu Felice Bauer, musste er sich irgendeine Ausrede einfallen lassen, um da wenigstens mal für Samstag, Sonntag hinfahren zu dürfen, denn das war ja Ausland. Die sozialen Kontakte sind abgerissen, die er außerhalb von Prag schon angeknüpft hatte und die wahrscheinlich für seine Entwicklung als Schriftsteller sehr, sehr wichtig gewesen wären, wenn er sie hätte aufrecht erhalten können. Anderes Beispiel natürlich: seine finanziellen Verhältnisse. Er hat durch den Krieg eigentlich alle Ersparnisse verloren."
Auch sein Schreiben ist von der neuen Situation beeinflusst. Es gibt eine lang andauernde Phase der Unproduktivität. Die Verlobung mit Felice Bauer war am 12. Juli 1914 im Berliner Hotel Askanischer Hof aufgelöst worden; ein Erlebnis, das Kafka wie ein Tribunal vorgekommen ist - man hatte über ihn zu Gericht gesessen.
Die Arbeit am "Proceß" kann als unmittelbare Folge dieses Erlebnisses gelesen werden; sie gerät aber bald ins Stocken. Nachdem schließlich der Krieg seine langen Schatten warf und auch die neuerliche Beziehung zu Felice trotz kurz aufflammender Hoffnungsschimmer stagnierte, senkte sich "eine "Dunkelheit über Kafkas Leben":
"Es ging ihm jetzt darum, den Stand der Dinge zu reflektieren, den äußeren wie den inneren. Das ist auch der Grund dafür, warum mein jetziger Band, der nun erschienen ist, über die letzten Jahre, 'Die Jahre der Erkenntnis' heißt."
Kafka fragte sich, welche Fluchtmöglichkeiten er habe: Die Büroarbeit empfand er als Fron, die Enge von Prag bedrängte ihn; die Verpflichtungen, die ihm die Eltern durch die Beteiligung an der Asbest-Fabrik des Schwagers aufgedrängt hatten, erzeugten zusätzliches Leid.
"Ich werde, solange ich in die Fabrik gehen muss, nichts schreiben können. Ich glaube, es ist eine besondere Unfähigkeit zu arbeiten, die ich jetzt fühle, ähnlich jener, als ich in der 'Generali' angestellt war. Die unmittelbare Nähe des Erwerbslebens benimmt mir, trotzdem ich innerlich so unbeteiligt bin, als es nur möglich ist, jeden Überblick, so als wäre ich in einem Hohlweg, in dem ich überdies noch den Kopf senke."
Sein Wunsch, zu entkommen, geht so weit, dass er seinem Vorgesetzten eine unmögliche Bitte vorträgt: Entweder sollte er ihn frei stellen, damit er Soldat werden könne, oder er möge zwei Jahre unbezahlten Urlaub genehmigen. Sein ihm wohlgesinnter Vorgesetzter konnte darauf nicht eingehen. Nur wenig später bricht dann die Krankheit zum Tode aus. Um 1917/18 zeigen sich die ersten Symptome der Tuberkulose, und für Kafka beginnen die "Jahre der Erkenntnis": Er spürt den Willen, seine Lebensweichen neu zu stellen, sich von den Forderungen seiner Umgebung los zu machen. Auch seine Literatur radikalisiert sich in diesen Jahren.
"Es kommt jetzt ein analytisches Schreiben bei ihm auf, selbst die späten Erzählungen, zum Beispiel 'Forschungen eines Hundes' hat keine Handlung; das ist ein analytischer Text, im Grunde, ein interpretierender Text; ein Tier, ein Hund interpretiert seine Lebenswelt, Handlung kommt eigentlich nur anekdotisch vor, genauso 'Josefine die Sängerin', da wird der Status einer Künstlerin analysiert. Handlung hat diese Erzählung keine."
"Alles ist Phantasie, die Familie, das Bureau, die Freunde, die Strasse, alles Phantasie, fernere oder nähere, die Frau die nächste, Wahrheit aber ist nur dass Du den Kopf gegen die Wand einer fenster- und türlosen Zelle drückst."
Kafka gerät hier in einen existenziellen Kampf um sein eigenes Leben, und eine Sprache in die Nähe des Absurden - und weist schon voraus auf Samuel Beckett.
In seinen letzten Lebensjahren beschäftigt sich Kafka ausführlich mit dem Zionismus - die fantasierte Auswanderung nach Palästina als weitere Fluchtoption. Er verlobt sich mit Julie Wohryzek und scheitert, er verliebt sich in die von Stach mit großem Einfühlungsvermögen porträtierte Milena Jesenska und scheitert.
"Das hätte klappen können, die Milena konnte aber nicht, weil: Sie war nicht nur verheiratet, sondern sie war von einem Mann ganz massiv abhängig. Das hat sie auch selber gewusst und selber gesagt, aber konnte das offenbar nicht - aus Kafkas Sicht - schnell genug bearbeiten, dieses Problem. Es war wirklich aus seiner Sicht zum Verzweifeln, muss man sagen, weil der Mann - Ernst Pollak hieß er, ein Literat - die Milena wirklich sehr schlecht behandelt hat. Sie hat an Max Brod geschrieben: Kafka ist von uns allen der einzig Gesunde. Das ist eine starke Äußerung. Das hätte nicht einmal Brod übers Herz gebracht, so etwas zu sagen. Also, sie hat Kafka sehr bewundert und hat ihn für einen absolut unkorrumpierbaren Menschen gehalten, eigentlich der einzige nicht-korrumpierbare Mensch ihrer Umgebung."
Kafka leidet von Jahr zu Jahr stärker an seiner Tuberkulose-Erkrankung, die er zu Anfang noch als Erleichterung empfindet, weil er nun keinen Konventionen und keinen an ihn herangetragenen Wünschen mehr entsprechen muss. Die Behandlungen allerdings sind halbherzig, sein Zustand verschlimmert sich. Es scheint jedoch, als würde er in Todesnähe zu einer Konsequenz des Handelns gelangen, zu der er zuvor nicht in der Lage gewesen war.
Tatsächlich wagt er den großen Schritt, ausgerechnet zur Zeit der größten Hungersnot und Inflation, mit der Ostjüdin Dora Diamant nach Berlin zu ziehen. Diesem Traum von der Metropole und einem eigenen Leben widmet Reiner Stach viel Raum in seiner Biografie. Die letzten Lebenswochen schließlich in einem Sanatorium bei Wien werden mit großer Empathie, gleichwohl fest gestützt auf die dünne Quellenlage geschildert.
"Es ist sehr schwer, sich in jemanden zu versetzen, der erstens unmittelbar vor dem Tod steht, aber der sozusagen intellektuell völlig auf der Höhe ist. So jemand hat natürlich Todesangst, er möchte dem Tod entgehen, aber sein Verstand sagt ihm, es ist unwahrscheinlich, dass ich davon komme. Und deswegen die scheinbar widersprüchlichen Äußerungen. Es gibt die Überlieferung, dass ein Arzt bei ihm war, der einmal pro Woche kam, und dieser Arzt hat in seinen Hals geschaut und gesagt: 'Das sieht ja besser aus als letzte Woche.' Das ist das erste Mal seit Monaten, dass Kafka irgendwas von Besserung gehört hat, und er hat vor Freude geweint."
Kafka starb am 3. Juni 1924, einen Monat vor seinem 42. Geburtstag. Vermutlich hatte ihm der Freund Robert Klopstock auf sein Verlangen hin eine hohe Dosis Morphium verabreicht.
Unter den biografischen Bemühungen - in diesem Sommer erscheint etwa ein Großessay von Louis Begley, der Althergebrachtes reproduziert - sticht Reiner Stachs Arbeit heraus: Seine Großbiografie, die gekonnt ein Gleichgewicht zwischen Lebensroman und wissenschaftlicher Studie herstellt, mit den Archivmaterialien sorgsam und zugleich spielerisch umgeht, ist ein Lesevergnügen - eine stilistische Meisterleistung und eine Fleißarbeit.
Aus Hunderten verstreuter Quellen setzt er ein Lebensbild zusammen, das dem Genie Kafka nahe zu kommen sucht und trotzdem ein verlockendes Rätsel lässt - vor dieses wird jeder Leser bei der Lektüre von Kafkas Texten immer wieder aufs Neue gestellt.
Reiner Stach: Kafka. Die Jahre der Erkenntnis
Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008, 726 Seiten, 29,90 Euro
Die Hörbeispiele stammen von den folgenden CDs:
Franz Kafka: Die Verwandlung
Gelesen von Bernhard Minetti
Der Hörverlag 2008
Franz Kafka: tagebücher. Auszüge aus den Heften 4 - 12. 1912 - 1923
Gesprochen von Axel Grube
Onomato Verlag 2003, 9,80 Euro
Weitere Informationen:
Hartmut Binder: Kafkas Welt. Eine Lebenschronik in Bildern
Circa 1200 zweifarbige Abbildungen
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2008, 656 Seiten, 68 Euro
Klaus Wagenbach: Franz Kafka. Bilder aus seinem Leben
Wagenbach Verlag, Berlin 2008., 4. erweiterte Auflage, 256 Seiten, 39 Euro
Hans-Gerd Koch: Kafka in Berlin
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2008, 140 Seiten, 15,90 Euro
Louis Begley: Die ungeheuere Welt, die ich im Kopfe habe
Über Franz Kafka
Aus dem Englischen von Christa Krüger
DVA, München 2008, 335 Seiten, 16,95 Euro
Als Franz Werfel eines Tages nach atemloser Lektüre von Franz Kafkas Erzählung "Die Verwandlung" aus seiner Verzückung erwachte, sah er sich zu einem ungeheueren Lobesbrief genötigt. Er nahm Stift und Papier und schickte dem Autor Zeilen, die diesen wohl zutiefst erschreckt haben dürften: "Lieber Kafka", schrieb Werfel, "Sie sind so rein, neu, unabhängig, und vollendet, dass man eigentlich mit Ihnen verkehren müsste, als wären Sie schon tot und unsterblich".
Kafka ertrug solche Ermutigungen nicht - sie sorgten für Lähmung oder zumindest Unbehagen. Mit diesem Brief aber war der Grundton der Rezeption angestimmt, in dem bald nach Kafkas tatsächlichem Tod über den Dichter gesprochen wurde: Reinheit, Vollendung und Unsterblichkeit waren Vokabeln, mit denen aus dem Schriftsteller Kafka der "heilige Franz" wurde. Kafka selbst bewahrte immer eine Distanz zum Geschriebenen und zu sich. In seinem Tagebuch heißt es:
"Nur nicht überschätzen, was ich geschrieben habe. Dadurch mache ich mir das zu Schreibende unerreichbar."
Kafka wurde rasch zum Mythos, und sein erster Biograf Max Brod hatte an dieser Mythisierung wesentlichen Anteil. Erst spät setzte im Windschatten von Hermeneutikern, Existenzialisten, Marxisten, Psychoanalytikern, Strukturalisten und Freigeistern eine andere Rezeption ein: Neben den verschiedensten textimmanenten Lesarten und Vereinnahmungsversuchen von Andre Breton über Albert Camus bis zu Charles Neider geriet nun auch die Person Kafkas in den Fokus; die Außenwelt der Innenwelt des Prager Juden sollte neue Erklärungen liefern.
Mit Reiner Stachs akribisch recherchierter Lebensdarstellung Kafkas ist dieser biografische Ansatz auf die Spitze getrieben: Er legt nach weiteren sechs Jahren Arbeit den lange erwarteten zweiten Band seiner auf drei Bände angelegten Biografie vor - der fehlende letzte, chronologisch aber erste Teil über die Kindheits- und Jugendjahre kann erst geschrieben werden, wenn Stach Einblick in den noch in Israel liegenden Nachlass von Max Brod gewährt wird.
Das Verdienst Reiner Stachs besteht einmal darin, dass er vor einigen Jahren im Nachlass Felice Bauers vieles Neue entdeckt und dieses in seine Bücher eingearbeitet hat; zum anderen setzt er die verstreuten Puzzleteile dieses nach außen unscheinbar wirkenden Lebens auf faszinierende Weise zusammen: So entsteht zwar kein Bild, das die bisherigen Bilder gänzlich auslöschen könnte. Aber es wird doch vieles deutlicher konturiert und stärker beleuchtet. Dabei wagt Stach sich nur in ganz seltenen und dann wohl begründeten Fällen auf spekulatives Gebiet vor.
Dass Reiner Stach die gesamte Kafka-Forschung kennt und in den meisten Fällen sehr nahe an den Quellen bleibt, ohne immer jedes Detail aus den Briefen oder Tagebüchern in einer Fußnote nachzuweisen, mag Germanisten irritieren - für alle anderen aber trägt das zu ungemeiner Lesbarkeit bei. Der erste Band hat sich über 30000 Mal verkauft - für ein literaturwissenschaftliches Sachbuch eine enorme Zahl.
"Die Jahre der Erkenntnis" setzt ein mit einem Prolog, der uns eine absurde Episode an der Heimatfront des Ersten Weltkriegs vorführt: 1915 lockt ein "Schauschützengraben" auf der Kaiserinsel im Norden Prags Tausende von Neugierigen an. Sie werden durch die ausgehobenen Stellungen geschleust und versuchen, sich so das Gruselige vor Augen zu führen, das die Soldaten täglich durchleben. Stach erschafft mit literarischem Gespür eine Szenerie; man wird sofort in dieses Spektakel hineinkatapultiert. Nach wenigen Seiten kommt Kafka ins Spiel: Auch er kann sich dem Aufsehen erregenden Volksfest nicht ganz entziehen. Diese Eingangsszene ist sehr aufschlussreich, um die Methode Reiner Stachs zu charakterisieren:
"Die Überlegung war, es ähnlich zu machen wie im Film, nämlich mit einer bewegten Kamera zu arbeiten, die intimen Momente aus großer Nähe zu zeigen, so weit das die Quellen natürlich hergeben, also erfinden kann ich nichts, das wäre ja absurd. Ich versuche also, einen Wechsel zu schaffen zwischen der Beobachtung intimer Momente und dann so panoramischen Blicken, wie sie zum Beispiel im Prolog angewendet werden. Das heißt, man sieht eine Menschenmenge, und man sieht wie sie reagiert, und es wird eine Atmosphäre, die in einer Stadt herrscht, in einer ganzen Stadt, und nicht nur in einem Viertel, einer Familie oder einer Schicht, sozusagen versucht, lebendig zu machen."
Stach kann mit dieser Dramaturgie, in der immer wieder von der Vogelperspektive zu Nahaufnahmen gezoomt wird, über 700 Seiten hinweg die Spannung halten. Sein Buch scheint weniger auf eine Zeit zu blicken, als aus ihr heraus selbst zu entstehen. Kafka tritt auf in einer breit vor dem Leser entfächerten Lebenswelt.
"Die Jahre der Erkenntnis" beginnen, wo der letzte Band endete: im Jahr 1915. Schon in den "Jahren der Entscheidungen", die die Zeit zwischen 1910 und 1915 behandelten, hatte Stach deutlich gemacht, welche Rolle der Erste Weltkrieg für Kafka spielte. Die bisherige Forschung war darüber meist hinweg gegangen.
"Ich würde sogar sagen, es hat sein Leben auf allen Ebenen beeinflusst, wirklich auf allen. Zum Beispiel die Beziehung zu Frauen: Die wurde erheblich erschwert durch den Krieg, weil: Kafka durfte nicht mehr reisen, er war ja militärpflichtig, das heißt, wenn er nach Berlin wollte, zu Felice Bauer, musste er sich irgendeine Ausrede einfallen lassen, um da wenigstens mal für Samstag, Sonntag hinfahren zu dürfen, denn das war ja Ausland. Die sozialen Kontakte sind abgerissen, die er außerhalb von Prag schon angeknüpft hatte und die wahrscheinlich für seine Entwicklung als Schriftsteller sehr, sehr wichtig gewesen wären, wenn er sie hätte aufrecht erhalten können. Anderes Beispiel natürlich: seine finanziellen Verhältnisse. Er hat durch den Krieg eigentlich alle Ersparnisse verloren."
Auch sein Schreiben ist von der neuen Situation beeinflusst. Es gibt eine lang andauernde Phase der Unproduktivität. Die Verlobung mit Felice Bauer war am 12. Juli 1914 im Berliner Hotel Askanischer Hof aufgelöst worden; ein Erlebnis, das Kafka wie ein Tribunal vorgekommen ist - man hatte über ihn zu Gericht gesessen.
Die Arbeit am "Proceß" kann als unmittelbare Folge dieses Erlebnisses gelesen werden; sie gerät aber bald ins Stocken. Nachdem schließlich der Krieg seine langen Schatten warf und auch die neuerliche Beziehung zu Felice trotz kurz aufflammender Hoffnungsschimmer stagnierte, senkte sich "eine "Dunkelheit über Kafkas Leben":
"Es ging ihm jetzt darum, den Stand der Dinge zu reflektieren, den äußeren wie den inneren. Das ist auch der Grund dafür, warum mein jetziger Band, der nun erschienen ist, über die letzten Jahre, 'Die Jahre der Erkenntnis' heißt."
Kafka fragte sich, welche Fluchtmöglichkeiten er habe: Die Büroarbeit empfand er als Fron, die Enge von Prag bedrängte ihn; die Verpflichtungen, die ihm die Eltern durch die Beteiligung an der Asbest-Fabrik des Schwagers aufgedrängt hatten, erzeugten zusätzliches Leid.
"Ich werde, solange ich in die Fabrik gehen muss, nichts schreiben können. Ich glaube, es ist eine besondere Unfähigkeit zu arbeiten, die ich jetzt fühle, ähnlich jener, als ich in der 'Generali' angestellt war. Die unmittelbare Nähe des Erwerbslebens benimmt mir, trotzdem ich innerlich so unbeteiligt bin, als es nur möglich ist, jeden Überblick, so als wäre ich in einem Hohlweg, in dem ich überdies noch den Kopf senke."
Sein Wunsch, zu entkommen, geht so weit, dass er seinem Vorgesetzten eine unmögliche Bitte vorträgt: Entweder sollte er ihn frei stellen, damit er Soldat werden könne, oder er möge zwei Jahre unbezahlten Urlaub genehmigen. Sein ihm wohlgesinnter Vorgesetzter konnte darauf nicht eingehen. Nur wenig später bricht dann die Krankheit zum Tode aus. Um 1917/18 zeigen sich die ersten Symptome der Tuberkulose, und für Kafka beginnen die "Jahre der Erkenntnis": Er spürt den Willen, seine Lebensweichen neu zu stellen, sich von den Forderungen seiner Umgebung los zu machen. Auch seine Literatur radikalisiert sich in diesen Jahren.
"Es kommt jetzt ein analytisches Schreiben bei ihm auf, selbst die späten Erzählungen, zum Beispiel 'Forschungen eines Hundes' hat keine Handlung; das ist ein analytischer Text, im Grunde, ein interpretierender Text; ein Tier, ein Hund interpretiert seine Lebenswelt, Handlung kommt eigentlich nur anekdotisch vor, genauso 'Josefine die Sängerin', da wird der Status einer Künstlerin analysiert. Handlung hat diese Erzählung keine."
"Alles ist Phantasie, die Familie, das Bureau, die Freunde, die Strasse, alles Phantasie, fernere oder nähere, die Frau die nächste, Wahrheit aber ist nur dass Du den Kopf gegen die Wand einer fenster- und türlosen Zelle drückst."
Kafka gerät hier in einen existenziellen Kampf um sein eigenes Leben, und eine Sprache in die Nähe des Absurden - und weist schon voraus auf Samuel Beckett.
In seinen letzten Lebensjahren beschäftigt sich Kafka ausführlich mit dem Zionismus - die fantasierte Auswanderung nach Palästina als weitere Fluchtoption. Er verlobt sich mit Julie Wohryzek und scheitert, er verliebt sich in die von Stach mit großem Einfühlungsvermögen porträtierte Milena Jesenska und scheitert.
"Das hätte klappen können, die Milena konnte aber nicht, weil: Sie war nicht nur verheiratet, sondern sie war von einem Mann ganz massiv abhängig. Das hat sie auch selber gewusst und selber gesagt, aber konnte das offenbar nicht - aus Kafkas Sicht - schnell genug bearbeiten, dieses Problem. Es war wirklich aus seiner Sicht zum Verzweifeln, muss man sagen, weil der Mann - Ernst Pollak hieß er, ein Literat - die Milena wirklich sehr schlecht behandelt hat. Sie hat an Max Brod geschrieben: Kafka ist von uns allen der einzig Gesunde. Das ist eine starke Äußerung. Das hätte nicht einmal Brod übers Herz gebracht, so etwas zu sagen. Also, sie hat Kafka sehr bewundert und hat ihn für einen absolut unkorrumpierbaren Menschen gehalten, eigentlich der einzige nicht-korrumpierbare Mensch ihrer Umgebung."
Kafka leidet von Jahr zu Jahr stärker an seiner Tuberkulose-Erkrankung, die er zu Anfang noch als Erleichterung empfindet, weil er nun keinen Konventionen und keinen an ihn herangetragenen Wünschen mehr entsprechen muss. Die Behandlungen allerdings sind halbherzig, sein Zustand verschlimmert sich. Es scheint jedoch, als würde er in Todesnähe zu einer Konsequenz des Handelns gelangen, zu der er zuvor nicht in der Lage gewesen war.
Tatsächlich wagt er den großen Schritt, ausgerechnet zur Zeit der größten Hungersnot und Inflation, mit der Ostjüdin Dora Diamant nach Berlin zu ziehen. Diesem Traum von der Metropole und einem eigenen Leben widmet Reiner Stach viel Raum in seiner Biografie. Die letzten Lebenswochen schließlich in einem Sanatorium bei Wien werden mit großer Empathie, gleichwohl fest gestützt auf die dünne Quellenlage geschildert.
"Es ist sehr schwer, sich in jemanden zu versetzen, der erstens unmittelbar vor dem Tod steht, aber der sozusagen intellektuell völlig auf der Höhe ist. So jemand hat natürlich Todesangst, er möchte dem Tod entgehen, aber sein Verstand sagt ihm, es ist unwahrscheinlich, dass ich davon komme. Und deswegen die scheinbar widersprüchlichen Äußerungen. Es gibt die Überlieferung, dass ein Arzt bei ihm war, der einmal pro Woche kam, und dieser Arzt hat in seinen Hals geschaut und gesagt: 'Das sieht ja besser aus als letzte Woche.' Das ist das erste Mal seit Monaten, dass Kafka irgendwas von Besserung gehört hat, und er hat vor Freude geweint."
Kafka starb am 3. Juni 1924, einen Monat vor seinem 42. Geburtstag. Vermutlich hatte ihm der Freund Robert Klopstock auf sein Verlangen hin eine hohe Dosis Morphium verabreicht.
Unter den biografischen Bemühungen - in diesem Sommer erscheint etwa ein Großessay von Louis Begley, der Althergebrachtes reproduziert - sticht Reiner Stachs Arbeit heraus: Seine Großbiografie, die gekonnt ein Gleichgewicht zwischen Lebensroman und wissenschaftlicher Studie herstellt, mit den Archivmaterialien sorgsam und zugleich spielerisch umgeht, ist ein Lesevergnügen - eine stilistische Meisterleistung und eine Fleißarbeit.
Aus Hunderten verstreuter Quellen setzt er ein Lebensbild zusammen, das dem Genie Kafka nahe zu kommen sucht und trotzdem ein verlockendes Rätsel lässt - vor dieses wird jeder Leser bei der Lektüre von Kafkas Texten immer wieder aufs Neue gestellt.
Reiner Stach: Kafka. Die Jahre der Erkenntnis
Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008, 726 Seiten, 29,90 Euro
Die Hörbeispiele stammen von den folgenden CDs:
Franz Kafka: Die Verwandlung
Gelesen von Bernhard Minetti
Der Hörverlag 2008
Franz Kafka: tagebücher. Auszüge aus den Heften 4 - 12. 1912 - 1923
Gesprochen von Axel Grube
Onomato Verlag 2003, 9,80 Euro
Weitere Informationen:
Hartmut Binder: Kafkas Welt. Eine Lebenschronik in Bildern
Circa 1200 zweifarbige Abbildungen
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2008, 656 Seiten, 68 Euro
Klaus Wagenbach: Franz Kafka. Bilder aus seinem Leben
Wagenbach Verlag, Berlin 2008., 4. erweiterte Auflage, 256 Seiten, 39 Euro
Hans-Gerd Koch: Kafka in Berlin
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2008, 140 Seiten, 15,90 Euro
Louis Begley: Die ungeheuere Welt, die ich im Kopfe habe
Über Franz Kafka
Aus dem Englischen von Christa Krüger
DVA, München 2008, 335 Seiten, 16,95 Euro