Seit Ende 1970 hielt Michel Foucault Vorlesungen am Collège de France, dem Olymp des französischen Geisteslebens. Sein Lehrauftrag lautete: Über die "Geschichte der Denksysteme" forschen. Damals erreichte der Pariser Philosoph unter den Intellektuellen einen Kultstatus, denn sein zuvor erschienenes Buch "Les mots et les choses", das ein völlig neuartiges Konzept menschlicher Geschichte entwarf, avancierte zum unbestrittenen Bestseller. Innerhalb von zwei Wochen verkaufte es sich besser als sämtliche Auflagen von Sartres "Das Sein und das Nichts". Das war im Sommer 1966. Nachdem sich vier Jahre später herumsprach, dass Foucault ins Collège de France gewählt worden war, gerieten seine Vorlesungen zum Massenspektakel. Während der Veranstaltungen waren die 300 Sitzplätze restlos besetzt, weitere 500 Leute standen dicht gedrängt daneben, andere lagen auf dem Boden. Anwesend waren internationale Schriftsteller, Politiker und Theaterleute. Derweil war Foucaults Pult mit zahlreichen Mikrofonen bedeckt. Das ging so bis 1976, als sich Michel Foucault eine andere Strategie überlegte: Kurzerhand verlegte er seine Vorlesung von den Abendstunden auf 9 Uhr vormittags. Doch vergebens. Seine Fans strömten weiterhin jeden Mittwoch in die zwei Amphitheater des Collège de France.
Seit vier Jahren gibt der Suhrkamp-Verlag Foucaults Vorlesungen am Collège heraus. Dabei galt es, die Vortragsmitschriften und die Audio-Mitschnitte der Zuhörer umständlich zu rekonstruieren. Zunächst begannen die Editoren mit Foucaults letzten Vorlesungen "Die Regierung des Selbst und der anderen" sowie "Der Mut zur Wahrheit", die er bis zu seinem Tod 1984 hielt. Der nun herausgekommene Band "Über den Willen zum Wissen" über den ersten Vorlesungszyklus beweist Foucaults anhaltendes Interesse für die Wahrheitsfrage.
Bedauerlich ist nur, dass es der Suhrkamp-Verlag versäumte, die am 2. Dezember 1970 gehaltene Inaugural-Vorlesung in den Band mit aufzunehmen. Denn dort kündete Foucault an, von nun an werde er einen ganz anderen Blick auf die geschichtliche Entwicklung werfen. Nicht mehr die geschlossenen Zeiträume des Wissens von "Les mots et les choses" stehen im Vordergrund, sondern Begriffe wie Zufall und Diskontinuität. Und der Begriff des Ereignisses:
Die grundlegenden Begriffe, die sich jetzt aufdrängen, sind nicht mehr die des Bewusstseins und der Kontinuität (mit den dazugehörigen Problemen der Freiheit und Kausalität), es sind auch nicht die des Zeichens und der Struktur. Es sind die Begriffe des Ereignisses und der Serie, mitsamt dem Netz der daran anknüpfenden Begriffe: Regelhaftigkeit, Zufall, Diskontinuität, Abhängigkeit, Transformation" (S. 39).
Mit seiner Vorlesungsreihe betritt Michel Foucault neues Terrain: Um die Entwicklung der abendländischen Subjektivität besser begreifen zu können, geht er bis in die Frühgeschichte der Antike zurück. Schließlich: Er bedient sich eines neuen Methodengerüsts. Doch eines ändert sich keineswegs: Die Wahl eines ganz bestimmten Sujets, eines Sujets, das typisch für die Arbeitsweise von Foucault ist.
Ich schreibe die Geschichte der Problematisierungen, der Art und Weise, wie etwas zum Problem wurde. Wie und auf welche Weise wurde etwa der Wahnsinn zum Problem der Moderne? (…) Mich interessiert also nicht die Geschichte der Theorien, der Ideologien, nicht einmal die Geschichte der Mentalitäten, mich interessiert vielmehr die Geschichte der Probleme. Weshalb wurde etwas zum Problem und weshalb in dieser speziellen Form? Weshalb tauchte ein Problem zu einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten Gebiet auf?
Michel Foucault widmet sich zu Beginn seiner Vorlesungsreihe einem Satz des Aristoteles, dessen scheinbare Banalität darüber hinwegtäuscht, wie nachhaltig er die Geschichte der abendländischen Wissenschaften geprägt hat. Der Satz lautet: "Alle Menschen streben von Natur nach Wissen." Was uns heute selbstverständlich erscheint, deutet Foucault als unerhört, da Aristoteles etwas als naturgebunden versteht, was tatsächlich erst im Verlauf der zivilisatorischen Entwicklung entstand. Aristoteles hat – wie Foucault sagen würde – ein neues Wahrheits-Dispositiv durchgesetzt, das von nun an allgemein anerkannt wurde. Seitdem gilt, dass ein philosophischer strikt von einem nicht-philosophischen Diskurs getrennt werden soll. Denn nur wer sich im Medium des Wahren aufhält – Aristoteles behauptet das von jedem Philosophen -, ist imstande, die Wahrheit auszusagen. Der Wille zur Wahrheit und der Wille zum Wissen behaupten sich demnach auf einem genau abgezirkelten Terrain, das genau regelt, was wahrheitskonform und was nicht wahrheitskonform ist. Die Nachtseite der Philosophie hat bei Aristoteles einen Namen: Es ist der Sophist.
"In der Philosophiegeschichte repräsentiert der Sophist das Äußere, (…) das es zu eliminieren gilt: (…) ein Außen, dessen Ausschaltung erst die Existenz der Philosophie ermöglicht; ein Außen, an das sich der philosophische Diskurs in undurchsichtiger Weise anlehnt. Wenn wir behaupten, dass die Wissenschaft ihren Ursprung im Innern des philosophischen Diskurses hat, wird klar, worum es bei diesem Problem letztlich geht. Der Vorgang, der durch Ausschluß ein Außen des philosophischen Diskurses definiert und eine bestimmte Verbindung zwischen Philosophie und Wahrheit herstellt, dieser Vorgang muss charakteristisch für den Willen zum Wissen sein" (S.61).
Michel Foucault spricht von einem Diskursereignis, weil seit Aristoteles neue Bedingungen für das wahre Sprechen gelten. Nicht alle hielten sich aber an Aristoteles’ Diktat. Und so vertrieb der griechische Philosoph die Sophisten aus den heiligen Räumen der Akademie, weil ihre Argumente die klare Unterscheidung von wahr und falsch missachteten.
Foucault, der einige Jahre vor den Vorlesungen über die Geschichte und den Ausschluss des Wahnsinns schrieb, fragt sich jetzt, warum das neue Wissens-Dispositiv zum Problem werden konnte. Ganz einfach, meint der französische Philosoph, denn plötzlich wurde das vorsokratische, das archaische Wissen verfemt: Es galt als "überschreitend, verboten und furchtbar" (S.31). Aristoteles schlüpfte in die Rolle des Oberzensors und schloss dieses Wissen aus der Philosophie aus.
Michel Foucault spricht im Amphitheater des Collège de France vom Umschlag des Wissens, der sich zwischen zwei gänzlich verschiedenen Gesellschaftsformationen ereignete: Zwischen der vor-rechtlichen Zeit der Tyrannen und der gesetzeskonformen Athener Polis, zwischen dem archaischen Griechenland Homers und der weitaus späteren Philosophenschule Platons. Noch zur Zeit Homers gab es keine Prüfung der Wahrheit vor dem Richterstuhl des Philosophen. Ganz im Gegenteil: Die Wahrheit wurde im Kampf der Parteien – etwa im Streit zwischen Menelaos und Antilochos – erstritten. Wer die Wahrheit behaupten wollte, wählte das Risiko, denn sein Schwur forderte die Götter heraus. In diesem Wettkampf waren Ausgang und Wahrheitsprobe höchst ungewiss, weshalb Foucault meint, die Wahrheit in der minoischen Ära sei noch von einer "unbegrenzten und wilden Souveränität" (S. 107) bestimmt gewesen.
Anders Griechenlands klassische Antike! Plötzlich änderten sich die Bedingungen für die Subjektivität, denn es oblag dem Menschen, innerhalb der Ordnung der Dinge gerechte Verhältnisse herzustellen. Der Zeitgenosse Platons, der sich nach dem nómos, dem Gesetz, ausrichtete, lebte in einer anderen Wahrheit als derjenige, der für die Wahrheit noch sein Leben aufs Spiel setzen musste.
Diesen Wandel der Subjektivität verfolgte Michel Foucault auch in den späteren Vorlesungen am Collège de France. In seiner Inaugural-Vorlesung deutete er bereits an, dass im 16. und 17. Jahrhundert der Wille zum Wissen durch neue politische, religiöse und wissenschaftliche Strukturen geformt wurde. Selbstverständlich war das, wie Foucault anfügte, nicht die letzte Transformation, dem sich der Wille zum Wissen im Verlauf der späteren Jahrhunderte ausgesetzt sah.
Angesichts dieser tief greifenden Prozesse fragt es sich: Gibt es so etwas wie eine anthropologische Konstante, eine Identität des Menschen? Michel Foucault ist da sehr skeptisch:
"Der Mensch ist, wenn nicht ein Alptraum, so doch eine sehr eigenartige Figur. Im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert war man überzeugt, der Mensch sei die Grundlage aller Realitäten. Man ging davon aus, die Suche nach der Wahrheit des Menschen habe seit der frühen Antike alle Forschungen beseelt – die Forschungen der Wissenschaft, der Moral und ganz gewiss die der Philosophie. (…) Offen gesagt, bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, etwa bis zur Französischen Revolution, hat sich niemand mit dem Menschen als solchem beschäftigt. Der Begriff des Humanismus, den wir der Renaissance zuschreiben, ist viel jünger, er ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. (…) Ich glaube, die Entwicklung der Humanwissenschaften führt uns heute nicht zu einer Vergötterung des Menschen, sondern paradoxerweise zu seinem Verschwinden. Was geschieht heute mit den Humanwissenschaften? Sie entdecken überhaupt nicht den konkreten Kern der menschlichen Existenz. Ich möchte aber zeigen, dass das Individuelle und Einzigartige am Menschen nur ein Funkeln und Glitzern an der Oberfläche ist".
Was bedeutet diese Erkenntnis für die Aufgaben der Philosophie? Wissen und Wahrheit ändern sich zwangsläufig, je nach den Herrschaftssystemen, denen sie unterliegen. Das ist vielleicht die Quintessenz der Vorlesungen am Collège de France. Michel Foucault verteidigte das Denken als existentielle Tätigkeit. Als ein Denken in der Leere des verschwundenen Menschen, als ein von neuem beginnendes Denken. Diese Chance beschrieb Foucault eindrücklich in der berühmten Passage aus "Les mots et les choses":
"Das Ende des Menschen ist die Wiederkehr des Anfangs der Philosophie. In unserer heutigen Zeit kann man nur noch in der Leere des verschwundenen Menschen denken. Diese Leere stellt kein Manko her, sie schreibt keine auszufüllende Lücke vor. Sie ist nichts mehr und nichts weniger als die Entfaltung eines Raums, in dem es schließlich möglich ist, zu denken" (S.412/353)"
Michel Foucault: Über den Willen zum Wissen.Aus dem Französischen von Michael Bischoff. Suhrkamp 2012, 394 S., 42,95 Euro