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Über den Zufall und den Tod

Alfred Döblin wurde mit seinem Roman "Berlin Alexanderplatz" berühmt. Sein Sohn Wolfgang Döblin, der bereits in jungen Jahren wegweisende Erkenntnisse der Wahrscheinlichkeitsrechnung entwarf, ist bis heute weitgehend unbekannt. Er starb mit 25 Jahren im Zweiten Weltkrieg und hinterließ ein mathematisches Werk, dass ihn in die Reihe großer Wissenschaftler stellt.

Von Agnes Handwerk und Harrie Willems | 03.01.2008
    "Dass unser Junge so weggegangen ist. Er hat so gearbeitet. Er trieb seine mathematischen Sachen noch im Feld, und es ging vorwärts, aufwärts - mit ihm. Er hatte Kameraden, mit der jungen Tonnelat war er befreundet und dann wird er in eine so grausige Situation getrieben - und weiß sich keinen Rat, muss mit allem ein Ende machen - es ist unvorstellbar, der Gedanke ist zerreißend und fürchterlich - und keiner da, der ihm hilft und beisteht. Der Gedanke, nicht den Nazis in die Hände zu fallen, war ja fest in ihm. Wenn er doch nicht so fest gewesen wäre, vielleicht hätte er noch die Möglichkeit zur Flucht gehabt. Warum diesem Jungen solch Ende, und er hat noch alles vor sich und steht in Blüte, und ich altes Geschöpf lebe, und das muss auf uns fallen."

    Alfred Döblin hat der Schmerz über den Tod seines Sohnes Wolfgang nie mehr losgelassen. Die niederschmetternde Nachricht, dass er sich im Juni 1940 vor der anrückenden Wehrmacht in einem kleinen französischen Dorf in den Vogesen das Leben nahm, hat die Familie erst nach dem Zweiten Weltkrieg erreicht.

    Alfred Döblin, Schriftsteller, Arzt, Jude und Gegner von Hitler stand 1933 auf der Fahndungsliste der Nationalsozialisten und musste mit seiner Familie über Nacht aus Berlin flüchten. Die erste Station im Exil war Paris, wo sein Sohn Wolfgang zielstrebig sein Mathematikstudium aufnahm. Alfred Döblin wusste von dessen Leidenschaft für dieses Fach, aber er ahnte nichts von dem Genie, das seinen Sohn zu den Wegbereitern der modernen Wahrscheinlichkeitsrechnung machte.

    Eine Fotografie zeigt Wolfgang Döblin im Jahr 1938 vor dem Institut Henri Poincaré in Paris. Er trägt eine Brille, das Haar seitlich gescheitelt, weißes Hemd, Krawatte und dunkles Jackett. Der Ausdruck in seinem Gesicht ist froh und entschlossen: Mit 23 Jahren ist er Doktor der Mathematik und hat seine Promotion mit der Auszeichnung "très honorable" abgeschlossen.

    Schon während seines Studiums beeindruckt Wolfgang Döblin seine Lehrer mit seinen Arbeiten. Er ist gerade 20 Jahre alt, als er in die französische Mathematikergesellschaft, die "Société Mathématique de France" eingeführt wird. Dort lernt er den 29 Jahre älteren Mathematiker Paul Lévy kennen, mit dem er sich anfreundet. Lévy, Professor an der polytechnischen Universität in Paris, gehört den linksgerichteten Akademikerkreisen an.

    Seine Tochter Denise Piron-Lévy erinnert sich an die ersten Besuche des jungen Deutschen bei ihnen zu Hause in der Avenue Théophile Gautier.

    "Mein Vater schätzte die Unterhaltungen mit dem jungen Mann. Er war ein Entdecker wie mein Vater. Ich fragte ihn dann, ob er verwandt sei mit dem großen Schriftsteller Alfred Döblin! Er lächelte und sagte: Das ist mein Vater! Berlin Alexanderplatz stand 1938 auf dem Programm für die Prüfung für das höhere Lehramt an der Sorbonne, auf die ich mich gerade vorbereitete! Meine Eltern haben Herrn und Frau Döblin dann etliche Male zum Essen eingeladen. Meine Eltern haben sich sehr um Flüchtlinge aus Deutschland gekümmert!"

    Die Lévys verstehen sich gut mit der Emigrantenfamilie aus Deutschland. An den gemeinsamen Abenden wird Alfred Döblin aus dem Berlin der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts erzählt haben: Von seiner Tätigkeit als Armenarzt, zuerst an der Frankfurter Allee, dann am Kaiserdamm, und seinen Erfahrungen, die in den Großstadtroman "Berlin Alexanderplatz" eingeflossen sind.

    Der Roman machte Alfred Döblin berühmt. Er wurde an der Seite von Thomas Mann Mitglied der Preußischen Akademie der Künste und war ein streitbarer Intellektueller und Gegner der Nationalsozialisten. Als Emigrant sind Alfred Döblin jedoch politisch die Hände gebunden. Während sein Sohn im Lesesaal des Institut Henri Poincaré arbeitet, studiert er in der Nationalbibliothek seltene Bücher und Landkarten über das Amazonasgebiet. 1935 beginnt Alfred Döblin mit seiner Erzählung "Land ohne Tod".

    Auf den Rückseiten des Manuskripts zu "Land ohne Tod" notiert Wolfgang eine mathematische Abhandlung und beginnt mit diesem respektlosen Umgang väterlichen Schaffensdranges seine Autorenschaft.

    Zwischen 1936 und 1940 veröffentlicht er in schneller Folge 30 Artikel über seine mathematischen Forschungen. Sie erscheinen in den "Comptes Rendus" der "Académie des sciences" in Paris, den "Mathematischen Mitteilungen" in Berlin und Fachzeitschriften in Italien, Skandinavien und Osteuropa.

    Stephan Döblin, der jüngste Bruder von Wolfgang, lebt heute in Frankreich und ist zu dem Haus im Pariser 14. Arrondissement zurückgekehrt, wo die Familie bis 1939 wohnte.

    "Die Zimmer der Wohnung lagen zum Hof. Wolfgang hörte oft Musik oder spielte Klavier. Ich musste dann sehr leise sein und rausgehen. In solchen Momenten schöpfte er neue Kraft. Mein Vater war nachsichtiger mit mir. Für ihn war ich der Kleine, dem man vieles durchgehen ließ. Wie andere Flüchtlinge wollten wir uns unbedingt in die französische Gesellschaft integrieren. Mein Vater sprach sehr schlecht Französisch, obwohl er sich viel Mühe gab. Aber als Schriftsteller machte ihn das sehr befangen."

    Wolfgang dagegen folgt ohne Schwierigkeiten den auf Französisch gehaltenen Mathematikvorlesungen. Paul Lévy ist überrascht, mit welcher Leichtigkeit er schwierige mathematische Fragen anpackt und löst. In seinen Memoiren schreibt er über ein Zusammentreffen:

    "Ich erinnere mich, dass ich ein wenig gekränkt war, als ich seinen Ausführungen über ’la notion de groupe final’ folgte. Wie konnte ich nicht daran gedacht haben etwas so einfach zu sagen?"

    Berlin, Adlershof: Entlang einer schnurgeraden, vierspurigen Strasse reiht sich ein wissenschaftliches Institut an das andere, dazwischen Niederlassungen von Unternehmen, Hotels, Brachen, Baustellen, Kräne. Eine Wissenschaftsstadt entsteht.

    Am Institut für Mathematik der Humboldt-Universität ist Peter Imkeller Professor für Angewandte Wahrscheinlichkeitstheorie; eine populäre Studienrichtung, denn die Absolventen sind in Forschung und Wirtschaft gefragte Nachwuchskräfte.

    Peter Imkeller begegnete während seines Studiums in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zum ersten Mal dem Namen "Döblin", doch er bedauert, dass er damals nichts über dessen Lebensgeschichte erfuhr. Die Katastrophe des Nationalsozialismus - jüdische Wissenschaftler wurden mit Berufsverbot belegt, verfolgt oder nahmen sich aus Verzweiflung das Leben - hatte auch einen Bruch in der wissenschaftlichen Kontinuität verursacht, der lange nachwirkte.

    "Zum ersten Mal habe ich den Namen Döblin im Zusammenhang mit Mathematik gehört, als ich eine Vorlesung über elementare Wahrscheinlichkeitsrechnung oder -theorie gehört habe. In diesem Zusammenhang ist der Name Döblin zum ersten Mal gefallen. Ich habe keinen Unterschied zwischen Vater und Sohn gemacht und dachte, es sei ein und dieselbe Person, sozusagen ein Multitalent, der einerseits clevere mathematische Techniken entworfen hat und andererseits bahnbrechende Romane geschrieben hat. Viel später erst ist mir der Unterschied klar geworden. Eigentlich erst um das Jahr 2000, als das pli cacheté geöffnet worden ist."

    In jenem Jahr gibt die Pariser Académie des sciences eine Sensation bekannt: In ihrem Archiv lag 60 Jahre lang, unberührt in einem versiegelten Brief, ein bahnbrechendes Werk mit einer Formel zur Berechnung zeitlich ablaufender zufälliger Ereignisse. Das Manuskript, mit blauer Tinte in ein einfaches Schulheft geschrieben, trägt den Titel "Sur l'équation de Kolmogorov" - "Über eine Gleichung von Kolmogorov". Der Autor: Wolfgang Doeblin.

    Er hatte den Brief im Februar 1940, als französischer Soldat von der Front an die Akademie geschickt, um seine Formel über die Wirren des Krieges zu retten. Den Mathematiker Peter Imkeller beeindruckt, dass Wolfgang Döblin unter schwierigsten Bedingungen etwas völlig Neues geschaffen hat: Seine Auffassung war unkonventionell und genial.

    "Im Gegensatz zu den Leuten vor ihm hat Döblin mit den Augen des Atomzeitalters auf die Entwicklung physikalischer Prozesse geschaut und hat die Dynamiken beschrieben durch die Teilchenbahnen von Atomen oder Molekülen. Das war eine revolutionäre Neuerung gegenüber der Zeit vor ihm. Es geht um eine ganz neue Idee, Dinge, die vielleicht im Rahmen dessen, was man vorher gewusst hat nicht formulierbar oder nicht erkennbar waren, die sie dann plötzlich zugänglich machte."

    Am Institut Henri Poincaré kommen in einem alten Wandschrank ein Packen loser Blätter zum Vorschein - mit Schrift und Signatur von Wolfgang Döblin. Die "Grundbegriffe der Wahrscheinlichkeitsrechnung", das grundlegende Werk des russischen Mathematikers Andrej Kolmogorov, ein schmales Heft von gerade einmal 62 Seiten, war 1933 nur auf Deutsch erschienen. Wolfgang, so zeigt der Fund, hat dieses Schlüsselwerk handschriftlich ins Französische übersetzt. Andrej Kolmogorov gilt als der Begründer der modernen Wahrscheinlichkeitsrechnung und schreibt in seinem Vorwort:

    "Zweck des vorliegenden Heftes ist eine axiomatische Begründung der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Der leitende Gedanke des Verfassers war dabei, die Grundbegriffe der Wahrscheinlichkeitsrechnung, welche noch unlängst für ganz eigenartig galten, natürlicherweise in die Reihe der allgemeinen Begriffsbildungen der modernen Mathematik einzuordnen."

    Nicht allein Andrej Kolmogorov bewirkte die entscheidende Wende in der Entwicklung der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Albert Einstein entdeckte 1905 den Zufall als wichtiges Phänomen in natürlichen Prozessen. Er griff die Beobachtung des schottischen Botanikers Robert Brown auf, der bei seinen Exprimenten verfolgt hatte, wie unter dem Mikroskop Blütenpollen in einem Wassertropfen sich ununterbrochen zitternd bewegen. Er meinte die Urkraft des Lebens gefunden zu haben, doch Einstein analysierte: Das Zittern der Pollen wird verursacht durch das ständige Zusammenstoßen mit Wassermolekülen.

    Seine Schlussfolgerung: Die Bewegung der Wassermoleküle ist zufällig und damit auch die Bewegung der Pollen. Damit hatte Einstein den Transport von Wärme oder Energie in der zufälligen Dynamik von Atomen entdeckt. Mit den Axiomen von Kolmogorov war der Weg frei zur mathematischen Beschreibung der Brownschen Bewegung.

    Am Institut Henri Poincaré stehen Professoren in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts in engem Kontakt mit Andrej Kolmogorov in Moskau und motivieren ihre Studenten mit seinen Axiomen weiterzuarbeiten. Die Emigration hat Wolfgang Doeblin in ein wissenschaftliches Umfeld katapultiert, in dem Aufbruchstimmung herrscht und Konkurrenz

    Anatol Abragam, ein ehemaliger Studienkollege und heute ein bedeutender Physiker, traf ihn oft im Lesesaal am Institut Henri Poincaré.

    "Ich sah ihn dort immer in einer Ecke mit dem Rücken zur Wand sitzen, damit niemand sehen konnte, woran er arbeitete. Ich hatte von Anfang an den Eindruck, dass er alle um sich herum als Nieten betrachtet hat. Damals wusste ich noch nicht, dass er ein Genie ist. Für mich war er einfach nur ein sehr unfreundlicher Mensch."

    Im Paris der dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts wird die große Begabung Wolfgang Döblins erkannt. Der einflussreiche Mathematiker Émile Borel, als Abgeordneter der Radikalsozialisten im französischen Parlament, stellt auf Sitzungen an der "Académie des sciences" Arbeiten des jungen deutschen Emigranten vor. Aber was heißt deutsch?

    1936 erhält Familie Döblin die ersehnte französische Staatsangehörigkeit, die zu einer dramatischen Wende im Leben von Wolfgang führt. Er und sein jüngerer Bruder Klaus müssen zum Militär. Wolfgang arbeitet über eine Gleichung von Kolmogorov und die Angst treibt ihn um, ein anderer könnte vor ihm auf die gesuchte Formel kommen. Er bittet deshalb einen väterlichen Freund in der Schweiz seine Aufzeichnungen zu verwahren.

    "Ich werde im September zum Regiment einrücken. Ich gestehe, dass ich für meine Person keine große Angst habe, sehr wohl aber für meine wissenschaftlichen Arbeiten. Ich würde daher gerne eine Skizze meines Manuskripts in relative Sicherheit bringen. Wenn Sie es gestatten, würde es mich beruhigen, wenn ich Ihnen einen Enveloppe schicken könnte, der etwa dreißig, jedem anderen als mir völlig unverständliche Manuskriptseiten enthält."

    Die politische Situation ist bedrückend. Hitler hat das Münchner Abkommen unterzeichnet und Frankreich akzeptiert den Einmarsch in die Tschechoslowakei. Wolfgang muss zur Militärausbildung in die Ardennen. Paris, die Bibliothek am Institut Henri Poincaré, die Gespräche mit Paul Lévy - das alles wird ihm fehlen. Und noch etwas muss ihn damals bewegt haben: In der Bibliothek traf er oft die junge Physikerin Marie-Antoinette Tonnelat. Sein Bruder Claude alias Klaus erinnert sich:

    "Mein Bruder Wolfgang war eher innerlich. Er erzählte nicht viel, aber überlegte viel und dachte an viele Sachen. Ich war Dekorateur und er war schon Doktor. Aber wir haben uns über vieles unterhalten. Er war damals verliebt in Monette Tonnelat. Er hat sich zu spät erklärt, dann war sie schon verheiratet mit Tonnelat."

    In Givet, einer kleinen Garnisonsstadt an der Grenze zu Belgien, nicht weit zu Deutschland, wird Wolfgang zum einfachen Soldaten ausgebildet. Mit Schießübungen und tagelangen Übungsmärschen durch die nahe gelegenen Wälder muss er sich abquälen. Beim Militär "französiert" er seinen Namen in Vincent Doblin und gibt sich seinen Kameraden, mit denen er Tag und Nacht auf engem Raum zusammenlebt, als Elsässer aus.

    Seine mathematischen Arbeiten veröffentlicht er weiterhin unter seinem deutschen Namen, nur das "ö" in Döblin mit "oe" geschrieben. Im März 1939 schreibt er einem Freund in Paris, der am Institut Henri Poincaré arbeitet:

    "Diese Woche habe ich 36 Stunden Ausgang. Leider habe ich zwei Tage Arrest, weil an meiner Waffe Rostspuren waren. Die letzten Kommentare im Zentralblatt betrafen meine Doktorarbeit. Könnten Sie bitte die noch folgenden Artikel für mich kopieren? Seit ich beim Militär bin, habe ich Depressionen - das erste Mal in meinem Leben."

    Mit seinem Bataillon wird Wolfgang zum Ausbau der Verteidigungslinie entlang der Maas abkommandiert und in dem Dorf Sécheval stationiert. Zusammen mit seinen Kameraden ist er im Stall der Familie Canot untergebracht. Als Telegrafist seiner Einheit empfängt er dort die Meldung vom Beginn des Zweiten Weltkriegs. Janine, die Tochter der Canots, ist damals sieben Jahre alt. Nun sitzt sie am Fenster ihrer großen Wohnküche und denkt zurück an den Winter 1939 und 1940.

    "Sie haben nicht realisiert, was auf sie zukommen würde. Sie waren im Dorf unterwegs, scherzten und waren nicht wirklich traurig."

    Wolfgang dagegen sieht die Gefahr als Deutscher in französischer Uniform von der Wehrmacht gefangen genommen zu werden und zieht erste Konsequenzen. Seine größte Sorge gilt seiner mathematischen Arbeit. Während seiner Nachtdienste als Telegrafist im Stall einer kleinen Bauernstelle beginnt er mit der Niederschrift seines Manuskripts "Über eine Gleichung von Kolmogorov". Seinem Professor in Paris, Maurice Fréchet, schreibt er, dass allein die Mathematik ihm über die schwierige Lage hinweghelfe. Bei den Canots holt sich Wolfgang jeden Abend einen Becher Milch. Immer nach dem Melken, wenn sie noch warm war, erinnert sich Janine.

    "Er kam mit meinen Eltern ins Gespräch und hat ihnen anvertraut, dass er Jude sei. Er sagte, dass er für den Fall in deutsche Gefangenschaft zu geraten eine Kugel aufbewahre und sich das Leben nehmen würde, um nicht in die Hände der Nazis zu fallen."

    Einige Monate später wird seine Einheit näher an die Front verlegt. Von dort schreibt Wolfgang im März 1940 seinem Mentor Maurice Fréchet:

    "Wir sind in einem kleinen Dorf mit ungefähr 150 Einwohnern irgendwo in Lothringen. Misthaufen gibt es hier wie in den Ardennen, wo wir in den ersten Monaten des Krieges stationiert waren. Ich habe mein Manuskript über eine Gleichung von Kolmogorov beendet. Eine Skizze habe ich nach Hause geschickt, die angekommen ist und das Manuskript versiegelt in einem Umschlag an die Akademie, aber ich fürchte, dass es dort nicht angekommen ist."

    Zwei Monate später beginnt die Offensive der deutschen Wehrmacht. Alfred Döblin und seine Frau flüchten aus Paris über Südfrankreich nach Spanien und später nach Amerika. Wolfgangs Bataillon kämpft tapfer, aber es wird bald aufgerieben.

    Am 20. Juni 1940 erklärt die Französische Armee ihre Kapitulation. Noch am selben Abend beschließt er sich alleine in eine Zone durchzuschlagen, die noch nicht von den Deutschen besetzt ist. Am Morgen erreicht er das kleine Dorf Housseras. Als dort eine Vorhut von Soldaten der Wehrmacht eintrifft, nimmt er sich in einer Scheune das Leben.

    Als Unbekannter wird Wolfgang Döblin auf dem Dorffriedhof beigesetzt. Sein Bruder Claude, dem es gelingt unterzutauchen, hat kaum Möglichkeiten nach ihm zu forschen, doch Marie-Antoinette Tonnelat macht sich auf eine lange Suche bei der Militärverwaltung.

    "Monette Tonnelat hat ihn sehr geliebt, denn als wir nach ihm suchten, da habe ich sie mehrmals getroffen und da hat sie immer sehr geweint. Und sie hat auch keine Ruhe gehabt, bis sie ihn endlich gefunden hat. Man hat ja alles zerstört was er hatte, aber er hatte eine Blechmarke und da stand sein Name drauf. Und sie hat ihn wieder erkannt an der Brille, die man gefunden hat. Durch die wenigen Sachen konnte man sagen, das ist Wolfgang Döblin gewesen."

    Die schreckliche Nachricht vom Selbstmord ihres Sohnes erreicht Erna und Alfred Döblin erst 1945 im amerikanischen Exil, aus dem sie kurze Zeit später nach Frankreich zurückkehren. Erna Döblin versucht in den folgenden Jahren das Werk ihres Sohnes zu retten. Ehemaligen Kommilitonen in den USA schickt sie alles, was er zurückgelassen hat. Der Mathematiker Paul Lévy unterstützt sie dabei. Er schreibt 1955 in seinem Nachruf auf Wolfgang Döblin:

    "Man ist immer wieder verblüfft über die Sicherheit und Präzision seiner Überlegungen und über sein außerordentliches Vermögen, die unterschiedlichsten Schwierigkeiten zu lösen, entweder sie direkt anzugehen oder die verschlungenen Wege zu entdecken. Ich glaube, sagen zu können, um eine Vorstellung zu geben auf welchem Niveau er sich bewegt hat, dass man die Mathematiker an einer Hand abzählen kann, die seit Abel und Galois so früh gestorben sind und ein so bedeutendes Werk hinterlassen haben. Es ist unbestritten, dass sein Name einen wichtigen Platz in der Geschichte der Wahrscheinlichkeitsrechnung einnehmen wird."

    Die Wahrscheinlichkeitsrechnung ist heute im täglichen Leben allgegenwärtig. Mit ihren Methoden werden Versicherungsprämien kalkuliert, demografische Entwicklungen modelliert, die Preise von Optionen berechnet. Überall wo es um Risikoabschätzung und Zukunftsprognosen geht kommt sie zur Anwendung. Die Bandbreite reicht bis zur Klimaforschung.

    In den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts beginnt Amerika die Entwicklung der Wahrscheinlichkeitsrechnung voranzutreiben. Es kommt deshalb nicht von ungefähr, dass Mathematiker aus den USA eine internationale Tagung zur Erinnerung an Wolfgang Doeblin organisieren. Sie findet 1991 in dem kleinen Blaubeuren im Schwarzwald statt.

    Dem französischen Mathematiker Bernard Bru fällt es zu, dort über die Lebensgeschichte und die Todesumstände des ehemaligen Emigranten aus Deutschland zu berichten, der nach dem Zweiten Weltkrieg auch in Frankreich in Vergessenheit geraten war. Bei seinen Recherchen findet er den Brief, in dem Wolfgang Doeblin seinem Mentor Maurice Fréchet schreibt, er habe sein Manuskript "Über eine Gleichung von Kolmogorov" an die Académie des sciences geschickt. Mit Datum vom 26.Februar 1940 findet Bernard Bru bestätigt, dass der Brief als "pli cacheté", als versiegelter Brief eingegangen ist.

    Das Verfahren des "pli cacheté" stammt aus dem 17. Jahrhundert und dient dem Schutz von Urheberrechten. Berühmte Wissenschaftler, wie Louis Pasteur haben es in Anspruch genommen. Nur die rechtmäßigen Erben können die Öffnung eines versiegelten Briefes erwirken. Bernard Bru muss noch fast zehn Jahre warten, bis die Brüder Döblin ihr Einverständnis geben.

    "Ich hatte gelesen, dass Wolfgang Döblin einen versiegelten Brief an die Akademie geschickt hatte, und wollte wissen, ob dieser noch existiert. Wie Sie sehen: Er war da, unversehrt in diesem Umschlag. Doch ich wusste nicht, was er enthielt. Die Prozedur war kompliziert und dauerte lange. Im Jahr 2000 öffnete eine Kommission den versiegelten Brief. Er enthielt dieses Schulheft. Seine Schrift war am Anfang noch ziemlich gut und wurde immer schlechter. Stück für Stück versuchte ich dann, das Geschriebene zu entziffern."

    Die Mathematiker Bernard Bru und Marc Yor stellen fest, dass die Formel von Wolfgang Döblin zur Berechnung der Rolle des Zufalls in stetigen Prozessen vergleichbar ist mit dem berühmten Itô-Calculus des Japaners Kyioshi Itô, geboren 1915 wie Wolfgang Döblin. Beide Mathematiker - der eine an der Front im Zweiten Weltkrieg, der andere im fernen Japan - haben sich mit ein und derselben Frage beschäftigt!

    1989 wurde Itô feierlich in die Reihen der Wissenschaftler der Académie des sciences aufgenommen und für seine epochale Formel, den Itô-Calculus geehrt. Da ruhte noch im Archiv der Akademie, vergessen und versiegelt, der Brief von Wolfgang Döblin. Mit der Entdeckung seines Manuskripts ist er in die Reihen der ganz Großen in der Mathematik aufgestiegen. In Lehrbüchern, jüngst in Amerika erschienen, ist eine neue Schreibweise eingeführt: Man spricht jetzt von der "Itô/Döblin-Formel".

    Am Square Delormel, im 14. Arrondissement von Paris versammelt sich an einem warmen Nachmittag im Mai 2006 eine kleine Gesellschaft. Veteranen des Zweiten Weltkrieges mit Barett tragen die Trikolore in den Innenhof. Es folgen einige ältere Damen und Herren. Der Bruder von Wolfgang, Stephan Döblin kommt mit seiner Frau Nathalie, seinen Kinder und Enkelkindern.

    An einer dünnen Schnur zieht ein offizieller Vertreter der Stadt Paris das Fahnentuch von der Gedenktafel am Eingang zum Haus Nummer 5; eingemeißelt in hellen Sandstein sind folgende Worte zu lesen:

    "Vor dem Nationalsozialismus geflohen, wohnte hier von 1934 bis 1939 der Schriftsteller Alfred Döblin mit seiner Familie. Verfolgt von der Wehrmacht: sein Sohn Wolfgang Döblin, Mathematiker und Vorläufer der Wahrscheinlichkeitsrechnung."