Noemi Schneider: Sir Tom, warum soll man ins Theater gehen?
Tom Stoppard: Oh, aus denselben Gründen, aus denen die Leute seit zwei Jahrtausenden ins Theater gehen. Es ist ein Ort, an dem man zusammen kommt. Es gibt jede Menge guter Gründe. Für mich hat Theater vor allem etwas mit Unterhaltung zu tun. Unterhaltung in Gesellschaft anderer verbunden mit tiefen Fragestellungen, politischen Fragestellungen, das Denken wird angeregt, der Diskurs gefördert und so weiter...
Schneider: Wer soll ins Theater gehen?
Stoppard: Ich glaube nicht, dass JEDER gehen "soll". Wenn Sie mit "sollen" eine moralische Pflicht oder so etwas meinen, dann soll NIEMAND gehen. Aber es sollte eine für alle offene Veranstaltung sein. Und ich glaube, dass die Leute, die am meisten davon haben, die sind, die dem Theater begegnen wollen. Es ist ein bisschen wie mit der Kirche. Es macht keinen Sinn in die Kirche zu gehen, wenn man kein Interesse an Religion hat.
Schneider: Die Zeiten in denen wir leben, sind das gute Zeiten fürs Theater oder schlechte?
Stoppard: Wenn man das Theater ganzheitlich betrachtet, dann sind es gute Zeiten. Ich spreche jetzt für England, aber, wenn ihre große Liebe dem Sprechtheater gilt und nicht einem, sagen wir, wunderbaren Musical, dann sind es nicht gerade gute Zeiten. Obwohl ich das Gefühl habe, dass es wieder besser wird...
Ich glaube das Theater in diesem Land hatte immer eine besondere Anziehungskraft seit Elisabeth I. Wir profitieren immer noch von diesem Sonderfall in unserer Geschichte, dem elisabethanischen Theater. Wenn man also die letzten fünfhundert Jahre nimmt, dann sind es gute Zeiten.
Schneider: Was soll das Theater? Soll es gesellschaftliche und politische Verhältnisse spiegeln? Hat es einen erzieherischen Auftrag, im Brecht'schen Sinn?
Stoppard: Nun, die letzten zwei oder drei Abende, die ich im Theater verbracht habe, drehten sich um Genderfragen oder irische Politik und andere politische Themen. Aber interessanterweise beinhaltet ihre Frage erneut das Wort "sollen", so als ob das Theater und das Publikum aus ihrer Sicht eine moralische oder soziale Pflicht zu erfüllen hätten. Und dazu sage ich ganz klar: Nein.
"Ernst sein ist alles" oder "Monsieur Hulot macht Ferien" - das ist jetzt ein Film - aber sagen wir Stücke von Feydeau oder Nestroy sind auch ein essentieller Teil der zweitausendjährigen Überlieferung in der sich ein Theaterpublikum auf die ein oder andere Weise selbst betrachtet.
"Vor hundert Jahren gab es hier noch keine Regisseure"
Schneider: In Deutschland wurde der Begriff "Regietheater" geprägt, ein Theater also, in dem der Regisseur im Fokus steht und nicht der Autor. Wie gehen Sie damit um? Werden Sie damit konfrontiert?
Stoppard: Nicht wirklich, aber für diese Art Theater ist Deutschland hier in England geradezu berühmt.
Ich habe ein, zwei deutsche Freunde, die schreiben, einer von ihnen war mit einer bestimmten Inszenierung eines seiner Stücke sehr unzufrieden, und ich sagte:
"Also ich verstehe nicht, wie das für dich eine Überraschung sein konnte, hast du denn nicht gewusst was passiert? Warst du nicht bei den Proben?"
Und er sagte: "Ich darf nicht zu den Proben."
Und das ist für mich schlichtweg ein ziemlich bizarrer Satz, aus dem Mund eines Theaterautors.
Und das hat etwas mit dem Selbstverständnis des Englischen Theaters als literarischer Gattung zu tun. Es bleibt ein literarisches Unterfangen, eine literarische Bestrebung, die im Schauspiel und in der Ausstattung und allem anderen ihren Ausdruck findet. Vor hundert Jahren gab es hier noch keine Regisseure. Es gab vielleicht jemanden der die Schauspieler ein bisschen herumgeschoben hat aber die Idee des eigenständigen Inszenierens, Regie, als gesondertes Gestaltungsmittel zu betrachten, ist ziemlich neu für uns.
Ich kann nur sagen, dass unser Theaterverständnis das heute auch mit umfasst, das sogenannte Regietheater aber ich glaube nicht, dass es das ist, was das englische Publikum vom Theater erwartet.
Schneider: Es ist wirklich auffällig, wenn man hier in London die Werbeplakate für Ihr Stück betrachtet, darauf sind die Namen der Schauspieler und Ihr Name, der Name des Autors, sehr prominent platziert. Auch der Name des Regisseurs taucht auf einigen Plakaten auf, aber verhältnismäßig kleingedruckt.
Stoppard: Wenn Sie das Publikum nach dem Theater fragen, wer das Stück inszeniert hat, dann haben die meisten keine Ahnung. Sie denken an die Autoren, wer das Stück geschrieben hat und natürlich, wenn es sich um bekannte Schauspieler handelt, sind sie sich der Stars bewusst.
Aber es gibt etwas, was ich am Selbstverständnis des deutschen Regietheaters fast beneidenswert finde, und das ist diese wundervolle Ernsthaftigkeit und obwohl ich wundervoll und beneidenswert sage, will ich das nicht haben, aber ich hege eine widerwillige Bewunderung für jeden, der etwas so sehr ernst nimmt und es für so wichtig hält, da schwingt die Überzeugung mit, dass es sich um etwas sehr Bedeutsames handelt, aber damit geht auch immer die Gefahr der Selbstherrlichkeit einher. Ich fühle mich sehr wohl in unserer großen offenen Kirche, die wir hier Theater nennen. Die gleichen Leute gehen zu Shakespeare oder einer Feydeau-Farce, wenn es gut gemacht ist.
Es wäre natürlich vollkommen falsch vom Britischen Theater zu behaupten, dass es keinen Wert darauf läge, mit der sich wandelnden Gesellschaft im Dialog zu stehen, oder diese darauf hinzuweisen, was sie anrichtet. Ein Theater, das sich zugleich als Ankläger und Zauberer versteht und auf poetische Weise tieferliegende Wahrheiten im Alltäglichen aufdeckt. All das gehört zu den Tugenden des Theaters und man wäre ein Idiot, wenn man das verachten wollte. Trotzdem wehre ich mich dagegen, wenn das Theater den Zuschauern mit dem Zeigefinger kommt.
Ich sehe unsere Aufgabe darin, das Publikum auf den Sitzen zu halten. Und ich bin dafür, dass wir das mit guter Bühnenarbeit tun und nicht weil das, was auf der Bühne passiert, so wichtig ist oder besonders tiefschürfend.
Ich glaube, dass zu jedem Theater die gute Bühnenarbeit gehört und bin davon überzeugt, dass das Publikum von Land zu Land mehr miteinander gemein hat, als man meint. Ein Clown ist lustig in jeder Kultur und lustig auf dieselbe Art. Die Annahme, man müsse Qualität automatisch mit etwas "Sinnvollem" gleichsetzen ist falsch, das ist nicht der Grund, weshalb wir ins Theater gehen. Wir gehen ins Theater, weil es verdammt schwierig ist, gutes Theater zu machen. Nicht jeder kann auf einem Einrad fahrend ein Tablett Tee in der einen Hand balancieren und in der anderen Hand Orangen jonglieren. Das können nicht viele Leute. Wenn man jemanden sieht, der das kann, dann denkt man, gute Arbeit…..und klatscht.
Es geht darum, ob etwas gut oder schlecht gemacht ist, das ist das Entscheidende für den Zuschauer. Und wenn es sich dabei um eine Polemik über die morgendlichen politischen Schlagzeilen handelt, in Ordnung, aber wenn sich die Schauspielkunst jemandem ohne Hosen, der sich im Kleiderschrank der Ehefrau versteckt hat, widmet, auch gut, wieso auch nicht?
Stoppard: Habe nichts für die Bühne geschrieben, über das man nicht irgendwie schmunzeln kann
Schneider: Es gibt eine kurze Geschichte von Thomas Bernhard mit dem Titel "Ein eigenwilliger Autor". Die handelt von einem Theaterautor, der ein tolles Stück geschrieben hat, und sich bei der Premiere mit einem Maschinengewehr im Zuschauerraum verschanzt, um jeden abzuknallen, der an der falschen Stelle lacht. Es bleibt kein Zuschauer übrig und das Stück spielt unverdrossen weiter.
Sind Sie ein eigenwilliger Autor?
Sind Sie ein eigenwilliger Autor?
Stoppard: Nun ja, ich habe nichts für die Bühne geschrieben, über das man nicht irgendwie schmunzeln oder lachen kann. Ich habe über jüdisch-russische Dissidenten geschrieben, die in einer Psychiatrie eingesperrt sind, aber selbst das ist lustig und die Zuschauer lachen darüber. Die Falle, in die man tappt, wenn man für das Theater arbeitet, ist die, dass man Gefahr läuft, eine Geisel des Lachens zu werden, der Zuschauer-Reaktion. Man geht automatisch davon aus oder erwartet, dass das Publikum in einem bestimmten Moment reagiert, und wenn das nicht passiert, dann fragt man sich, was falsch läuft.
Wenn ein Stück über mehrere Wochen gespielt wird, fertigt das Bühnenmanagement nach jeder Vorstellung einen Bericht an, dem man entnehmen kann, wie alles lief und so weiter, ob sie drei Minuten draufgegeben haben oder um eine Minute verkürzt haben. Man kriegt den Bericht um nachzuvollziehen, was so passiert ist den Abend über, und sehr häufig steht dann im Bericht:
"Das Publikum war heute sehr zurückhaltend, aber nachdem der Vorhang fiel, waren sie begeistert." Das Schweigen eines Publikums ist also sehr beredt und kann verschiedenes heißen.
Ich habe immer gerne vereinfacht und glaubte irgendwann, Lachen stünde für Verständnis und Schweigen sei darum Unverständnis. Das war ein Fehler.
Schneider: Sir Tom, erinnern Sie sich noch an den Moment, als Sie sich in die Worte verliebt haben?
Stoppard: Daran kann ich mich nicht erinnern. Ich habe Wörter immer geliebt. Ich habe es immer geliebt, zu lesen, und ich schätze, ich schreibe, weil alle, die schreiben, in gewisser Weise versuchen, etwas zu schreiben, das so gut ist wie das Beste, was sie gelesen haben. Ich liebe das Schreiben, weil ich es liebe zu lesen.
Schneider: Was ist das Faszinierende daran, fürs Theater zu schreiben?
Stoppard: Ich liebe das Theater, weil es eine sehr tiefe Wahrheit enthält und für das Theater zu schreiben beinhaltet einige sehr spezielle Eigenheiten. Denn was man schreibt, ist immer der Versuch, ein Ereignis sehr präzise zu beschreiben, das noch gar nicht stattgefunden hat. Das ist ein Theater-Stück. Ich habe einmal aus einem Theaterstück einen Film gemacht, Rosenkranz und Güldenstern sind tot, und es war für mich sehr erstaunlich und erschütternd festzustellen, dass was man einmal gemacht hat, immer genauso bleibt. Beim Theater ist es am nächsten Abend immer anders, irgendetwas ist verloren gegangen oder vielleicht sogar hinzugekommen.
Die Tatsache also, dass das Theater unberechenbar ist, sich chemisch verflüchtigen kann, macht es zu einer gefährlichen Beschäftigung. Das ist ein etwas übertriebenes Adjektiv nicht war? Es ist keine gefährliche Beschäftigung, wenn man es mit dem Entschärfen von Bomben vergleicht, aber als Kunstform betrachtet hat es die Macht, dich wie einen Idioten aussehen zu lassen. Deine Fehleinschätzungen werden öffentlich zur Schau gestellt. Du weißt nicht, ob du richtig liegst, was passieren wird, bis das Stück zum ersten Mal vor Publikum gespielt wird. Du weiß nicht, was passieren wird. Und das ist einfach wunderbar. Das gilt auch fürs Ballett oder die Oper, aber das mache ich nicht. Ich mache Theater und das ist sehr reizvoll für mich, denn auch das Schreiben verändert sich mit der Zeit und muss sich verändern. Ich würde gerne gute Gedichte schreiben, aber das kann ich eben nicht.
"Mich hat es gereizt, innerhalb eines vorgegebenen Rahmens zu arbeiten"
Schneider: Shakespeare hat Rosenkranz und Güldenstern im "Hamlet" getötet beziehungsweise für tot erklären lassen. Haben Sie je mit dem Gedanken gespielt, die beiden todgeweihten Studenten aus Wittenberg "ihr Stück" überleben zu lassen?
Stoppard: Nun, wenn man sich nicht festlegt, kann man mehr oder weniger seine eigenen Regeln aufstellen. Aber wenn das, was man erzählt, die Logik der Shakespear'schen Wirklichkeit mit einschließt, dann geht man davon aus, dass die Figuren bei Shakespeare nicht lügen. Wenn also der Bote aus England am Ende von Hamlet sagt: "Rosenkranz und Güldenstern sind tot!", dann ist das die gültige Wahrheit.
Natürlich hätte ich einen Grund dafür erfinden können, weshalb der Bote gelogen hat, aber das hat mich nicht gereizt. Mich hat es gereizt, innerhalb eines vorgegebenen Rahmens zu arbeiten. Das heißt, man hat etwas, mit dem man arbeiten kann und gegen das man arbeiten kann. Es ist sehr aufregend, wenn es funktioniert, und es gibt vermutlich nicht so viele Klassiker, mit denen man das machen kann, vielleicht ist Shakespeare der Einzige.
Mein Stück "Travesties" zum Beispiel hat eine Binnenebene, die auf dem Stück "Ernst sein ist alles" basiert. Viele Leute, die das Stück heute in England sehen, sind sich dessen nicht bewusst und wenn, dann sind sie nicht so vertraut mit Wildes Stück, wie man es sein müsste, um zu erkennen, welche Sätze daraus gestohlen oder abgeändert wurden. Da gehen Dinge vor sich, und ich bereue es wirklich sehr, das zu sagen, die sich einem Teil des Publikums nicht völlig erschließen. Ich zwinge mich jetzt geradezu, das in ihr unheimliches Mikrofon zu sprechen, denn ich würde gerne von mir behaupten, dass man nichts im Voraus wissen muss, um jedes meiner Stücke zu verstehen.Das würde ich wirklich gerne!
"In den letzten Jahren hat mich das Problem des Bewusstseins sehr interessiert"
Schneider: Im Zentrum ihres letzten Stücks "The Hard Problem" steht eine junge Psychologin, die sich mit dem sogenannten "Hard Problem", dem Leib-Seele-Dualismus, auseinandersetzt, der Frage nach dem Bewusstsein. Wie verlief der Entstehungsprozess dieses Stückes?
Stoppard: Wie bei den meisten meiner Stücke. Ich lese etwas, das mich nicht mehr los lässt und dann kann ich nicht aufhören, alles darüber zu lesen. Und in den letzten Jahren hat mich das Problem des Bewusstseins sehr interessiert, die Tatsache, dass das Bewusstsein für die meisten Leute ein nicht messbares, unerklärliches Mysterium ist. Natürlich gibt es die verschiedensten philosophischen und wissenschaftlichen Erklärungsmodelle dafür, was das Bewusstsein ist, trotzdem bleibt es ein Mysterium.
Es ist ein sehr kurzes Stück über ein sehr großes Thema geworden und es setzt sich auch noch mit einer anderen Sache auseinander, die mich schon länger umtreibt, dem Ausbruch der Bankenkrise, 2008 in Amerika.
Ich habe Regale mit Büchern gefüllt und am Ende saß ich da und schrieb "The Hard Problem", mit einem Wissen, das weit über das hinausging, was man in ein Stück oder einen dicken Roman packen kann. Ich hatte eine Struktur im Kopf und mir fest vorgenommen, ein Stück zu schreiben, das hundert Minuten dauert, ohne Pause.
Früher habe ich Stücke geschrieben, die immer fünf Minuten zu lang waren, meistens im ersten Akt. Die hatten eine Pause, das heißt, man setzt sich um halb acht hin und wenn man Glück hat, kommt man um viertel nach zehn wieder raus. Und ich war schon immer neidisch auf Autoren, die es schaffen, alles in neunzig oder hundert Minuten unterzubringen, denn dann kann man danach noch in den Pub gehen oder in ein Restaurant. Also habe ich mir gesagt, ich mache es diesmal ohne Pause, und deshalb darf es nicht länger als hundert Minuten werden. Das war eine gute Entscheidung und und eine sehr befriedigende Erfahrung.
Schneider: Wenn Ihr Leben ein Theaterstück wäre, welchen Titel hätte es?
Stoppard: Oh, auf solche Fragen muss man vorbereitet sein. Da kann ich nur improvisieren, vielleicht... Es hat nie für einen Titel gereicht... Das ist wirklich eine gute Frage, aber ich habe leider keine gute Antwort.
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