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Über die Familie

Der Tod eines Elternteils wird immer wieder Anlass für erwachsene Söhne und Töchter, über familiäre Verstrickungen nachzudenken. So auch im neuen Roman von Angelika Overath, der mit dem Tod der Mutter einsetzt: Johanna, die erwachsene Tochter, verbringt eine Nacht in Mutters letzter Wohnung und erinnert sich. Das Einzelkind, aufgewachsen in den 60er Jahren, hatte keine geringere Aufgabe, als die Familie - die Großmutter, einen schwachen Vater, vor allem aber die Mutter - zu halten.

Von Sabine Peters |
    Ein Kind als Lebenssinn einer Frau, die selbst einerseits immer die Tochter ihres geliebten Vaters blieb, und die andererseits ganz in ihrer Mutterrolle aufging. So brauchte sie den Ehemann hauptsächlich in seiner Funktion als Ernährer und konzentrierte sich auf Johanna, die das zweifelhafte Glück erlebte, als Kind eine Mutter ganz für sich allein zu haben. "Nahe Tage" umreißt Elemente einer Kindheit und Jugend, die an Gefangenschaft denken lassen; ob es ganz konkret um Hausarrest geht oder um mütterliche Selbstmorddrohungen. Überwachung und Kontrolle, Mutters dauernde Übergriffigkeit, ihr Einbruch ins Ungeschützte, Intime der Tochter führt gelegentlich an Schmerzpunkte; man möchte fast sagen, ans Grauen. Dabei gründet die Radikalität dieses Textes auf Haltungen wie Bescheidenheit, Diskretion und Diszipliniertheit. Hier gibt es keine große Geste des Anklagens und Urteilens, es fehlt bei aller Detailgenauigkeit und analytischer Kraft in der Erinnerung auch die Attitüde des Enthüllens. Der Text tritt zurück, wo etwas nicht gewusst, nicht verstanden wird. Er lässt ein Befremden, er lässt Leerstellen da, wo ja tatsächlich in Familiengeschichten die Lücken, die weißen Flecken, die Tabus sind.

    Nicht nur zwischen den Erwachsenen und dem Kind, auch zwischen Vater und Mutter ist Vieles nicht sagbar. Man ahnt aber etwas vom "ungelebten Leben" der Eltern , das auch die Möglichkeit einschloss, mit einem anderen als dem angetrauten Partner zusammen zu sein. Lässt sich dem Geflecht, dem Gespinst, der Familiengeschichte entkommen? Angelika Overath schreibt der Tochterfigur die Möglichkeit eines Ausschlupfes zu. Etwa in der Mitte des Textes wird das scheinbar geschlossene Vater-Mutter-Kind-Dreieck aufgebrochen: Anfangs irritiert, liest man, dass Johanna einer Angestellten vom Pizzadienst, mit der sie nachts zusammen in Mutters Küche isst, wie nebenbei ein paar Lügen über ihr Leben auftischt. Wenn man sich auf diesen Bruch einlässt, leuchtet einem schließlich ein: Die Erfindung ist ein notwendiges Pendant zur Erinnerung. Sie erlaubt, sich selbst anders zu denken.

    Der Roman verlässt den privaten Raum der Familie auf einer weiteren Ebene. Die Fragen, ob eine Flüchtlingsfrau aus dem Sudetenland noch einmal eine Heimat finden kann, und wie lange der Krieg noch dauert, wenn er "vorbei" ist, finden keine Antwort. Aber sie haben sich in den Körpern eingenistet; sie bestimmen das alltägliche Verhalten. Angelika Overath zeigt, und übrigens nicht nur für die Eltern, dass Gewohnheiten beibehalten werden, auch wenn sie nicht mehr von ökonomischer Not diktiert werden. So sammelt die Tante noch in den sechziger Jahren alle Bade- Küchen- und Waschwasser, um damit die Toilettenspülung zu betreiben. Für das Kind war selbstverständlich und "normal", wie immer die Erwachsenen sich verhielten; auch wenn es sich dabei um noch so bizarre Rituale handelte. Es bleibt offen, ob sich speziell der elterliche Kosmos je verlassen lässt, ja sogar, ob das denn der eigentliche Wunsch ist. Man ist der Autorin dankbar dafür. Das Erwachsene an diesem Roman besteht darin, dass er nicht die einfache Möglichkeit eines Schlussstrichs behauptet. Gegen Ende streift der Text sehr beiläufig an die großen alten Ge- bzw. Verbote; an das Gebot, die Eltern zu lieben und an das universelle Tötungsverbot. Diese "große" Opposition von töten oder lieben ist der Erzählerin zu hoch. Das Wort, das ihr am Ende durch den Kopf geht, heißt "ertragen".

    Das Thema "Familie" ist auch deshalb so unendlich, weil Familien, wenn man den Begriff nicht allzu eng fasst, im Grunde keinen Anfang und kein Ende haben. Vieles wird weitergereicht, vererbt - und damit zu einem weiteren Buch, das Angelika Overath soeben veröffentlichte. Der Essay "Generationenbilder" beschränkt sich nicht auf das Dreieck Vater-Mutter-Kind, sondern zieht weitere Kreise um die Familie. Dem oft so jammernd vorgetragenen Satz, Familie sei heutzutage nicht mehr, was sie einmal war, hält die Autorin Tatsachen entgegen. Sie fängt bei Adam und Eva an, um auf gerade einmal 90 Seiten in leichten Bögen den historischen Veränderungen im familiären Zusammenleben nachzugehen. Wann gab es eigentlich den wunderbaren Kosmos Großfamilie? In welchen gesellschaftlichen Schichten waren denn jeweils Kinder so erwünscht? Fällt ihr ökonomischer Nutzen, so sie denn einen haben, notwendig mit ihrer Wertschätzung zusammen? Wie viele Bilder der heilen Großfamilie sind Ideologie und wurden in der Praxis widerlegt? In der antiken Familie etwa lernte ein Enkel nicht unbedingt seinen Großvater kennen; die Lebenserwartung lag unter dreißig Jahren. Den so genannten "Scheidungswaisen" von heute setzt Overath die früheren Halb- und Vollwaisen entgegen; sie erinnert an Kindersterblichkeit und Kinderaussetzung. Familie: Ein "Wir"- Begriff, der ähnlich wie "Nation" oder "Klasse" in Zeiten der Mobilität, Flexibilisierung und Globalisierung an Bedeutung abzunehmen scheint. Wo wäre noch ein "wir" zu finden, d.h. ein sinnstiftendes, Identität und Zusammenhang versprechendes gemeinsames Ganzes? Der Zeitgeist schwört auf den windigen Generationenbegriff: Generation Golf, Generation Ally, Generation XXL; und wie sie alle heißen. Angelika Overath schildert den Paradigmenwechsel, der sich zwischen den Generationen vollzieht; wenn, zumindest in technischer Hinsicht, die Jüngeren ihren Eltern voraus sind. So etwas wie "Generationenkonflikte" konnte es über viele Jahrhunderte nicht in dem heute bekannten Maß geben, weil die Söhne und Töchter weitgehend so wie ihre Eltern lebten. Und schließlich thematisiert der Essay das Alter als letztes großes Lebensprojekt. Die "jungen Alten" haben nach dem Ende ihrer Berufstätigkeit statistisch gesehen mehr Lebenszeit vor sich als je zuvor denkbar; und wer es bezahlen kann, dem winken die zahllosen Angebote für Senioren. Das Problem des Altwerdens wird damit allerdings nicht gelöst, sondern lediglich verschoben. Es bleibt als schwierige Anforderung, die am Ende oft zur Überforderung wird: Die Zahl der Alten, die den Jüngeren nicht "zur Last fallen wollen", nimmt zu, die Selbstmordrate unter ihnen steigt.

    Angelika Overaths Essay pendelt zwischen persönlichen Alltagsschilderungen und soziologischen, historischen Passagen; er balanciert leichtfüßig zwischen Nähe und Distanz. Nur der Schluss des Buchs weckt einen kleinen Einwand. Ist es nötig, mit einem Plädoyer für mehr Gerechtigkeit zwischen den Generationen zu enden? Mit einem Plädoyer für einen verantwortlichen, behutsamen, solidarischen Umgang miteinander? Das Ohnmächtig- Wohlmeinende solcher Appelle kann einen deprimieren. Dieser Einwand entwertet das Buch allerdings nicht; insgesamt hat man es mit einem gut lesbaren, erhellenden und stellenweise leise witzigem Text zu tun.

    Angelika Overath: Nahe Tage
    Roman. Wallstein-Verlag, 160 Seiten, 16 Euro

    Angelika Overath: Generationen-Bilder
    Erkundungen zum Familienglück. Essay Libelle-Verlag, 92 Seiten, 14, 90