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Über die Lebenskraft der Sprache

Autoren und ihre Übersetzer stecken in heiklen Verbindungen, geht es doch um nichts weniger als um das Fundament von Sprache und Dichtung überhaupt. Davon handelt der Roman "Vom Schweigen meines Übersetzers", der einen namenlosen kalifornischen Autor in ein jahrzehntelanges Gespräch mit seinem ebenso namenlosen deutschen Übersetzer schickt.

Von Dorothea Dieckmann |
    Wenn sich heutzutage ein Buch den sperrigen Titel "Vom Schweigen meines Übersetzers" leistet, dann zeugt das von beträchtlichem Mut. Damit aber nicht genug. Der Roman, von dem hier die Rede ist, trägt die Gattungsbezeichnung "Eine Fiktion", und die Verfasserangabe lautet "Deutsch von Hans-Ulrich Möhring". Der Autor nämlich gehört als Englischübersetzer selbst zu jener Zunft, die hinter ihrer scheinbar nur dienenden Funktion verschwindet, einem Gewerbe, welches das Paradox einer unhörbaren Stimme erfüllt, ohne die wir taub für die Sprachen fremder Zungen, die Literatur fremder Autoren wären. Autoren und ihre Übersetzer sind heikle Verbindungen, geht es doch um nichts weniger als um die Frage des Verhältnisses von Echtheit und Wahrheit, Original und Verwandlung, und mithin auch um das Fundament von Sprache und Dichtung überhaupt. Davon handelt dieser ungewöhnliche Roman, der einen namenlosen kalifornischen Autor in ein jahrzehntelanges Gespräch mit seinem ebenso namenlosen deutschen Übersetzer schickt. Wiewohl Hans-Ulrich Möhring darin seine Übersetzererfahrung komprimiert hat, wählt er die Perspektive des Schriftstellers:

    "Für mein spontanes Empfinden (...) war es ein Ding der Unmöglichkeit, dass ein Übersetzer, und mochte er sich noch so sehr in den ursprünglichen Sprecher, seine Welt und seine Sprache hineinzuversetzen versuchen, mehr zu leisten vermochte als eine halbwegs glaubwürdige Inhaltsangabe. Andererseits (...): War ich nicht selbst schon darauf gestoßen, dass auch ich mich, über eine große Distanz hinweg, in jemand anders hineinversetzte, ihm eine Stimme lieh, die so niemals hätte von ihm kommen können, ihn mir nach meinem Bilde formte und für mein Publikum auf der Bühne der Literatur (...) spielen ließ?"

    Was ist das, mag man sich fragen, eine groß angelegte Sprachreflexion oder eine erzählte Geschichte? Zugegeben, die Handlung ist sparsam: Der junge, weltläufige Amerikaner und der ältere Deutsche, ein wortkarger Eigenbrötler, tauschen sich Buch um Buch, Jahr um Jahr immer wieder aus, doch der eine, ein typischer Vertreter des aktiven, kreativen, nomadischen Pols, fühlt, dass sich der andere, ein ebenso typischer Schweiger und kontemplativer Sesshafter, seinem Verständnis entzieht. Schließlich will er ihn zum Protagonisten eines Romans über Deutschland machen, dem Herkunftsland seines Vaters, das ihm immer fremd geblieben ist. Diese Komposition ist das Gerüst für eine so flüssige wie spannende Erkundung des Themas der Übersetzung, das im Kern nichts Geringeres beinhaltet als das Problem von Eigenem und Anderem, von Fremdheit und Verstehen.

    "Ich glaube, ich selber habe, um über die Dinge reden zu können, über die ich reden wollte, die Fiktion dieser Konfrontation gebraucht - und natürlich in Weisen, die mir nahe sind. Aber indem ich diese extreme Konfrontation habe spinnen können, war es mir auf einmal möglich, auch für mich überraschend möglich, zu den Dingen zu kommen, die mir am Herzen liegen, aber auch lange an diesem Herzen gelegen haben. Diese beiden menschlichen Möglichkeiten, die da entworfen sind, sind Möglichkeiten, die ich beide in mir habe - aber natürlich in einem individuellen Gleichgewicht, das dann mich ausmacht. Woran ich Interesse hatte, ist, die zwei Seiten, die in mir in einem bestimmten Spiel sind, zu verselbständigen und in andere Extreme zu treiben. Und in diesen Extremen (...) ergeben sich auf einmal Spiele, die ganz anders sind, die mit meiner eigenen Autobiographie fast nichts mehr zu tun haben."

    In der Tat spielerisch verläuft die Entwicklung dieses Romans, den man eher einen Romanessay nennen könnte. Während der Schriftsteller auf seinen Deutschlandreisen den Übersetzer trifft, mal auf einer Veranstaltung in Göttingen, mal auf einem Symposium in Hamburg, anfangs in seinem Domizil in einer Sackgasse am Berliner Grunewald, später in seinem Bauwagen im Harz, zwischen einer Liebschaft hier und einem politischen Ereignis wie dem 11. September dort, währenddessen entstehen hunderterlei Anlässe zu immer neuen Exkursen und Abschweifungen. Sie beleuchten stets neu die kulturelle Grundfrage, wie die Aneignung, Anverwandlung oder (Neu-)Schöpfung des Fremden geschieht - sei es beim Musikverstehen oder in der Sexualität, ja selbst beim Essen, sei es bei der Begegnung mit fremden Völkern, mit der Natur, beim Reisen. Das erste Buch des Schriftstellers etwa begibt sich in die Welt des mexikanischen Indianerstamms der Tarahumaras, wo schon der französische Surrealist Artaud mystische Erleuchtung suchte, nicht zuletzt mit Hilfe der Kaktusdroge Peyote - ein Selbstversuch, den auch der Übersetzer eines Tages im Beisein des Autors unternimmt. Das Gift löst ihm die Zunge:

    "Er stand auf und trat ans Fenster. 'Ein Garten der Erinnerung, das ist die Muttersprache. Ich gehe durch meinen Garten, durch die altneuen Formen, ich sinke in die Tiefe der Zeiten, bis ins Schweigen der Wurzeln. In allem höre ich ihren Herzton, den Herzton der deutschen Sprache. Den Ton, auf den ich gestimmt bin, ob ich will oder nicht. Rauher und schwerer vielleicht als manch anderer, aber auf eigene Weise schön. Eine einzigartige Saite zwischen Himmel und Erde gespannt.' (...) Wider Willen musste ich denken, dass er für einen Liebhaber geistiger Gärten das irdische Gegenstück draußen vor dem Fenster ziemlich verlottern ließ."

    Diese freundliche Ironie ist kennzeichnend für das Buch, dem das verblüffende Kunststück gelingt, philosophische Gelehrsamkeit mit einer zwanglosen Erzählhaltung zu verbinden, ohne ins trocken Diskursive hier, in platte Didaktik dort abzugleiten. Natürlich ist es für Leser geschrieben, die Interesse für das Thema mitbringen, das Möhring die "Lebenskraft der Sprache" nennt, und die gedankliche Komplexität ebensowenig scheuen wie einen ausschweifenden Erzählstil. Diese aber werden belohnt durch einen Lesegenuss, in dem sich intellektuelles Vergnügen mit der Lust des Wiedererkennens verbindet, egal ob es sich um banale Alltagsphänomene oder skurrile Erlebnisse handelt. In jeder Zeile ist spürbar, dass die dicken Theoriebretter, die hier gesägt werden, durch praktisches Erleben und lange Erfahrung abgelagert sind.

    "Das heißt, das Ziel war immer, einen Punkt zu erreichen, wo ich zwar dieser Schwere kein Gramm wegtun muss, aber sie ist trotzdem leicht. Also ich erreiche für mich selber im Mitsein mit diesen Dingen eine Leichtigkeit, die eben dann auch für den Leser, der sich einlassen mag auf solche Geschichten, was Spielerisches, was Leichtes, auch was Befreiendes hat, indem er sieht: Man muss nicht die Dinge sich aufladen wie einen Felsblock, man kann sie auch spielerisch nehmen wie einen Luftballon."

    Und so erfährt man, bevor sich nach über 400 Seiten die Begegnung zwischen Autor und Übersetzer zu einer Freundschaft rundet, vom Wesen der Sprache in Dialogen wie diesem:

    "' ... einige deiner Metaphern sind mir tatsächlich etwas zu frei. (...) Es gibt kein freundliches Knie.'
    'Es gibt auch kein blaues Wasser.'
    'Das wird aber so wahrgenommen.'
    'Das Knie auch.'
    'Aber doch micht von den Sinnen.'
    'Nein, vom Gefühl. Klar, wenn Sprache nur Bezeichnung von Dingen ist und ein Knie nur das Ding da unten (...)'.
    'Was sollte denn ein Knie sonst sein?' (...)
    'Ein Wort.'"


    Hans-Ulrich Möhring: Vom Schweigen meines Übersetzers. Eine Fiktion
    Fahrenheit Verlag 2008, 428 Seiten