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Über die Verfassung der Moderne

T.C. Boyle hat keinen Kriminalroman über eine relativ neue Sorte von Verbrechen, den Identitätsdiebstahl, geschrieben. Er nutzt in "Talk Talk" das relativ neue Phänomen, um in ein sehr viel komplizierteres und obendrein schwer vermintes Gebiet vorzudringen: die Identität einer Person. Und das ist eine zentrale existenzielle Paradoxie der Moderne.

Von Walter van Rossum |
    Dana Halter hat es eilig an diesem Freitagmorgen. Sie ist mal wieder spät dran. Zuerst wartet der Zahnarzt auf sie, dann der Unterricht, und niemand kann sie vertreten. Also hetzt sie los und - es kam eh gerade keiner - überfährt das Stoppschild. Dummerweise lauert ein Polizist in seinem Auto. Genervt akzeptiert Dana Halter, was da folgen müsste. Allerdings kommt es ganz anders. Sie reicht dem Polizisten ihre Papiere, kurz darauf steht der Mann mit entsicherter Pistole vor ihr und erklärt sie für verhaftet.

    "Zuerst hatte sie vor lauter Angst nichts sagen können. Sie hatte stumpf gehorcht, eingeschüchtert von der elementaren Gewalt des Augenblicks. Er hatte sie, noch immer den Revolver in der Hand, aus dem Wagen gezerrt, ihr Gesicht an das heiße Blech und Glas gepresst, ihre Arme auf den Rücken gedreht, um ihr die Handschellen anzulegen, sich mit seinem ganzen Gewicht gegen sie gelehnt und mit dem Amboß seines Knies ihre Beine auseinandergedrückt. Dann hatte er sie abgetastet, erst die Knöchel, dann die Beine hinauf zu den Hüften, dann den Bauch, die Achselhöhlen, prüfend, forschend. Sie hatte eine scharfe männliche Ausdünstung gerochen, die Verachtung und Wut, und bei den Frikativ- und Plosivlauten hatte sie seinen heißen Atem am Ohr gespürt. Er war energisch, geradezu brutal gewesen und hatte ihr nichts erspart. Ihre Hände waren zusammengebunden wie gefangene Fische. Vielleicht hatte er ihr Fragen gestellt oder Anweisungen gegeben, vielleicht hatte er seinen Ton gemäßigt, doch sie hatte ihn weder hören noch sein Gesicht sehen können."

    Denn Dana Halter ist gehörlos. Auf der Wache erfährt sie endlich durch einen Gebärdendolmetscher welcher Verbrechen sie beschuldigt wird: ungedeckte Schecks, Autodiebstahl, Drogenbesitz, Angriffe mit einer tödlichen Waffe und noch ein paar Kleinigkeiten. Erstaunlicherweise wurden diese Verbrechen in Bundessaaten begangen, in denen sie noch nie gewesen war und überhaupt: außer vielleicht hier und da einen Joint, hatte sie keine der ihr zur Last gelegten Untaten begangen. Es musste sich um ein Missverständnis handeln. Doch die Polizei verweist auf die Haftbefehle, die auf ihren Namen lauten. Und also nimmt das Gesetz seinen Gang. Dana Halter verschwindet in der Arrestzelle.

    Immerhin durfte sie noch ihren Freund Bridger vom Gebärdendolmetscher anrufen lassen. Der kommt und verbringt den halben Tag vergeblich auf der Wache, ohne Dana zu Gesicht zu bekommen. Am folgenden Wochenende droht zwar nicht das Gesetz, doch die Vollzugsbehörden. Und Danas Freund verbringt seine Zeit damit, einen Anwalt aufzutreiben. Was allerdings an den Vorschussforderungen, von bescheidenen 80.000 Dollar aufwärts, scheitert. So macht die gehörlose Dana die grausame Erfahrung von zwei Tagen Aufenthalt in einem Provinzgefängnis. Am Montag schließlich wird sie endlich in Häftlingskleidung der Haftrichterin vorgeführt. Ihrer Pflichtverteidigerin gelingt es, nachzuweisen, dass nicht Dana Halter all die Verbrecher begangen hat, derer sie beschuldigt wird, sondern jemand anderes, der sich ihrer Identität bemächtigt hat. Es handelt sich um einen Fall von Identitätsdiebstahl. Und auch wenn der Fall so fürs erste erledigt scheint: für Dana Halter kommt die Aufklärung zu spät. Sie hat die erste Drehung auf der Eskalationsspirale bereits gemacht, und sie ist keineswegs bereit, sich zu beruhigen, umso weniger, als ihr klar wird, dass die Behörden den Fall nicht sonderlich ernst nehmen. Außerdem flattern ihr stets neue Rechnungen ins Haus, die der Betrüger in ihrem Namen gemacht hat.

    Zusammen mit ihrem Freund Bridger beschließt sie, die Sache selbst in die Hand zu nehmen und den Täter zu fassen. Und es beginnt eine atemberaubende Jagd, die in Kalifornien beginnt und an der Ostküste mündet, genauer gesagt: in Peterskill, einem Städtchen unweit von New York, das den Fans von T. C. Boyle aus früheren Büchern bekannt sein dürfte.

    "Es herrschte fast kein Verkehr, und das war gut, denn Bridger war so auf die Rücklichter des Mercedes fixiert, dass er nicht mal flüchtig zur Seite sah, als er auf die Straße einbog. Er trat aufs Gaspedal. Die Räder drehten durch bis die Reifen zirpend griffen, und dann kam das vertraute Gefühl der Beschleunigung, der plötzlichen Schwere des Körpers. Zwei rote Punkte, er jagte zwei rote Punkte. Der Nebel teilte sich, schwankte und löste sich auf, und dann war er wieder da, und Bridger hatte Mühe zu erkennen, wo der Asphalt endete und die Böschung begann, der Straßengraben. Das wär's doch - von der Straße abzukommen, so dass ein Reifen platzte oder eine Achse brach oder sie einen Baum rammten, einen ganzen Wald! Dana sagte etwas, so aufgeregt, dass sich die Worte überschlugen, und sie bewegte die Hände wie Signalflaggen, aber er konnte nur irgendwie weiterfahren - kein Licht, kein Licht -, und die beiden roten Punkte waren das einzige, woran er sich orientieren konnte."

    Die Jagd quer durch die Vereinigten Staaten ist so unglaublich spannend, steckt derart voller dramatischer Finten und Finessen, dass man fast geneigt ist, diesen Spannungsbogen dem Autor zum Vorwurf zu machen. Nicht allein als Anwalt des eigenen Nervenkostüms, sondern der Leser gerät in Gefahr wegen des Krimiplots die großartigen erzählerischen Nuancen des Romans aus den Augen zu verlieren. Übrigens hätte es keinen Sinn, mal schnell einen Blick auf die letzte, auf die 395. Seite zu werfen, um sich des glücklichen Endes zu versichern. Es gehört zu den Qualitäten dieses Buches, dass sein Ende jenseits von glücklich und unglücklich verläuft. Und man kann es erst verstehen, nachdem man 395 Seiten lang auf dieses Ende hin erzählerisch trainiert wurde.

    "'Wir müssen rational vorgehen', sagte er. Jedenfalls glaubte sie, dass er das sagte. Rational, das war doch das Wort, oder? Vielleicht sprach er aber auch von Rashomon, dem Kurosawa-Film, und für den winzigsten Bruchteil einer Sekunde, fragte sie sich, wie sie - sie, Bridger und der Dieb - in dieses Szenario mit seinen wechselnden Perspektiven und der dekonstruierten Erzählweise passten. Sie sah Toshiro Mifune das Schwert schwingen, sein Gesicht eine von Angst und Aggression verzerrte Fratze, und dann war sie wieder bei Bridger, der jetzt noch etwas sagte. Sie war zu müde, um es zu verarbeiten."

    Man muss ein Missverständnis vermeiden: T.C. Boyle hat keinen Kriminalroman über eine relativ neue Sorte von Verbrechen, eben Identitätsdiebstahl, geschrieben, obwohl das Buch einem erschreckend klarmacht, wie sehr man von dieser Art Betrug bedroht ist und welche Ausmaße das annehmen kann. Doch Boyle nimmt vor allem das relativ neue Phänomen des Identitätsdiebstahls, um in ein sehr viel komplizierteres und obendrein schwer vermintes Gebiet vorzudringen: die Identität einer Person. Und das ist nicht mehr und nicht weniger als eine zentrale existenzielle Paradoxie der Moderne: Einerseits verstehen wir uns nicht wirklich, andererseits müssen wir uns als Urherber unserer Handlungen verstehen. Das Leben ist ein komplexer Blindflug. Die zuverlässigste Figur in diesem Spiel, die immer wissen muss, was sie tut, ohne es in Wahrheit je wissen zu können, bleibt die eigene Identität. Die Identität einer Person besteht auch nicht in einem rational verfügbaren Wissen, sie besteht aus einem Selbstgespräch:

    "Wir sind unsere Sprache, aber unsere wirkliche Sprache, unsere eigentliche Identität liegt in der inneren Sprache, in jenem unablässigen Strom, jenem ständigen Hervorbringen sinnhafter Zusammenhänge, das den individuellen Geist bestimmt."

    Diese Sätze des Sprachphilosophen L. S. Wygotski stellt Boyle seinem Buch voran. Und insofern ist es eine großartige Idee von Boyle, das Drama der Identität an einer Person durchzuspielen, die nicht nur von den Zeremonien des Normalen ausgeschlossen ist, sondern durch ihre Behinderung sehr viel intensiver auf ihre innere Stimme angewiesen ist als andere Menschen. Dana Halter ist seit ihrem vierten Lebensjahr taub, äußerlich eine hochattraktive junge Frau, lebt sie seit 25 Jahren mit ihrer inneren Stimme als einzigem Geräusch. Die Taubheit verursacht wiederum eine andere kommunikative Anomalie: Dana Halter kann zwar sprechen, aber ihre verbale Artikulation ist davon gezeichnet, dass sie sich nicht selbst hören kann:

    "Sie war müde und hungrig, und da kam das Thunfisch-Sandwich, das sie mit einer Stimme bestellt hatte, die die langen Vokale wahrscheinlich ebenso falsch aussprach wie die ungeheuer kniffligen Frikative ('und eine Portion Pommes frites'), denn die Kellnerin hatte sie angesehen wie eine Außerirdische, und sie fühlte sich wie ein Zirkustier an der Leine, aber das war ihr gleichgültig: Dies war ihr Leben, und sie konnte nichts daran ändern."

    Dana Halter arbeitet als Lehrerin an einer Gehörlosenschule. Und die zuverlässigste Art verbaler Kommunikation besteht für sie in der Gebärdensprache. Das erklärt auch den Titel des Romans. "Talk talk" ist ein Ausdruck aus der amerikanischen Gebärdensprache und bedeutet ein entspanntes Gespräch unter Gehörlosen mittels Gebärden.

    "Seit sie den Zettel aus der Tasche gezogen hatte, redete er ohne Punkt und Komma. Wie hieß doch gleich das Wort dafür? Logorrhö. Ja, eine weitere Vokabel, die sie ihren Schülern einhämmern konnte, nur dass sie jetzt keine Schüler mehr hatte. Sie war mal wieder unterwegs, und unvermittelt musste sie an die Gesprächsorgien denken, die sie im Wohnheim in Gallaudet veranstaltet hatten, hauptsächlich in Gebärdensprache, aber auch unterlegt mit laut gesprochenen Worten, die für einen Hörenden praktisch unverständlich waren, einer Art gesungenem Stöhnen. Reden, reden, reden. Das passierte, wenn Gehörlose zusammen kamen: Sie redeten, sie redeten unentwegt, sie redeten wie Bridger jetzt redete, nur mit den Händen. Der Zeigefinger tippte an den Mund, um die Worte zu zeigen, die herauskamen. Wenn Gehörlose zusammen sind, reden und reden sie die ganze Zeit. Kommunikation, das universale Bedürfnis. Information. Zugang. Ein Ausweg aus dem Gefängnis der Stille. Talk, talk - reden, reden, reden."

    Tom Coraghessan Boyle wäre nicht T. C. Boyle, wenn er sich allein mit dem Drama des Opfers befasste. Im Übrigen beschränkt sich Boyles Porträt seiner Heldin keineswegs auf die Dimension der verfolgten Unschuld. Er führt uns genauso gründlich in die Welt von Dana Halters Gegenspieler ein. Der Dieb ihrer urkundlichen Identität heißt Peck Wilson, zumindest wurde er unter diesem Namen geboren, im Laufe der Zeit hat er diesen Namen unter einer dicken Schicht von gestohlenen Identitäten begraben. Wir lernen Peck Wilson kennen als einen Genießer, der den kalifornischen dream of life zu leben scheint. Ein junger Mann mit Traumhaus am Pazifik, Traumfrau aus Russland und diversen Traumautos aus Deutschland. Peck Wilson weiß wie man Jacobsmuscheln sautiert und mit Brocoli al dente serviert und dazu einen Pomard Jahrgang '67 kredenzt. Der Beruf des Identitätsbetrügers scheint seinen Mann ausgezeichnet zu ernähren.

    "Er sah es bereits vor sich: den neuen Wagen - heute Nachmittag auf dem Rückweg vom Fitnessstudio, würde er sich einen Mercedes ansehen - mit viel Platz auf dem Rücksitz für Madison und ihr Spielzeug, ihre Decken und Kissen, und er und Natalia auf den Vordersitzen, stilvoll. Sie würden anhalten, wo sie wollten, alles erster Klasse natürlich, ein hübscher kleiner Urlaub, und außerdem bildend für die Kleine. Sie würden sich das Land ansehen. Die Sehenswürdigkeiten. Pike's Peak. Die großen Seen. Gettysburg. Und Vegas, auf jeden Fall Vegas. Dagegen würde Natalia wohl kaum etwas einwenden."

    Je mehr wir Peck Wilson kennen lernen, umso mehr entdecken wir eine gewisse Ähnlichkeit mit Diana Halter. Beide haben einen geradezu aggressiven Eigensinn. Beide teilen eine große Leidenschaft für Autonomie. Und wer Peck Wilson in die Quere kommt, der muss mit dem Schlimmsten rechnen, dann wird aus dem coolen Schlaumeier im Seidenanzug eine irre Kampfmaschine, die den Überblick verliert.

    "In seinem Kopf war nichts anderes als der Wunsch, sie zu schlagen, zu verletzen, er wollte sie vor sich liegen sehen und sie zertreten. Bei seinem ersten wütenden Sprung hätte er sie beinahe gehabt. Er griff nach ihrem schwingenden Arm und spürte die zarten, sich unter der Haut abzeichnenden Knochen ihres Handgelenks, doch sie war zu schnell für ihn, und die Wut darüber - diese Schlampe, diese Schlampe, diese elende Schlampe - blühte in einem heißen Pulsieren hinter seinen Augen auf und machte ihn blind für alles außer den braunen Sohlen ihrer hüpfenden Schuhe und dem Wehen ihres Haars. Er brannte, er brannte. Jede Faser seines Körpers war angespannt. Er war in Form, in guter Form, aber das war sie auch. Sie rannte um ihr Leben, sie rannte um ihm zu entkommen, um ihn zu demütigen, zu zermürben. Sie waren am Ende des Blocks angelangt, und noch immer war sie drei Meter vor ihm.""

    Man könnte natürlich fragen, ob es hier nicht in Wahrheit um zwei verschiedene Typen von Identität geht. Wer sich Sozialversicherungs-, Konto- oder Kreditkartennummern eines anderen verschafft, der raubt ihm noch lange nicht die innere Stimme seiner intimen Intimität. Selbst wenn, wie Danas Verhaftung zeigt, die Angelegenheit weit tiefer gehen kann als finanzieller Verlust und jede Menge Verwaltungsärger. Kurzum, ist die standesamtliche, juristische Identität einer Person mit der Handlungen, Zahlungen et cetera jemandem zugerechnet werden nicht etwas ganz anderes als die psychische Identität einer Person? Im Grunde genommen werden auch die beiden Protagonisten des Romans von dieser Frage überrascht - allerdings aus ganz entgegengesetzten Motiven. Die taube Dana Halter hatte im Laufe ihres Lebens Mittel gefunden als autonome Fürstin ihr Reich der Stille zu regieren. Bis zu dem Moment, da der Missbrauch ihrer juristischen Identität, sie in den Tumult der Gesellschaft stürzen lässt.

    Und daraus erklärt sich auch die ungeheure Wut, der Hass, mit dem sie sich auf die Suche nach Peck Wilson macht. Bei dem wiederum lief es genau andersherum. Er glaubte, im Glanz seiner gestohlenen juristischen Identität seine persönliche Identität hinter sich lassen zu können

    "Er ging in die Küche und machte sich ein Sandwich. Er stand lange an der Theke, kaute mechanisch und musterte die mexikanischen Kacheln, die Tontöpfe und Körbe und den ganzen Kram, den Natalia gekauft hatte, um der Wohnung ein bisschen Charme zu verleihen, den neuen Mikrowellenherd, die Navajoteppiche. Das Licht rieselte durch die Fenster und stieg an den Wänden empor. Es war ein exklusives Licht, es war das Sonnenlicht, das flüssig, flirrend von der Shelter-Bay reflektiert wurde, und es gab Tage, da saß er, ein Cocktailglas in der Hand, stundenlang da und sah dem Licht zu, das sich bewegte und veränderte wie ein Bildschirmschoner. Es würde ihm fehlen. Auch der Nebel würde ihm fehlen, die Art, wie er die ganze sichtbare Welt einhüllte, als wäre es schwebender Schnee, und fortwährend in Bewegung war."

    Seinen entscheidenden Fehler begeht Peck Wilson deshalb nicht im Jähzorn, sondern weil er - ohne es genau zu bemerken -, sich in Peck Wilson zurück verwandelt und weil es ihn einfach nach Hause zieht, dahin, wo man ihn noch unter seinem echten Namen kennt. Tückisches Blei der Innerlichkeit.

    Mehrfach im Laufe dieses langen und dramatischen Showdowns zwischen Dana Halter und Peck Wilson wechseln die beiden die Rollen, wird der Jäger um Gejagten und die Gejagte zur Jägerin. Der Roman durchquert dabei nicht nur das US-amerikanische Territorium, sondern auch die menschliche Realität des american way of life.

    "Sobald er das Haus sah, wusste er, dass er es haben musste. Damals als er mit Gina zusammengewesen und ziemlich gut zurechtgekommen war, niemanden Rechenschaft schuldig und auf niemanden neidisch, war er manchmal von hier nach dort gefahren - um etwas zu erledigen oder in einem seiner Restaurants nach dem Rechten zu sehen - und hatte vom Wagen aus ein Haus wie dieses gesehen, und dann hatte er etwas gespürt. Ehrfurcht. Eine Art Ehrfurcht. Allein schon der Gedanke, was für Leute dort lebten: Ärzte, Rechtsanwälte, altes Geld mit echter Klasse und Blue Chip Portfolios, von einer Generation an die nächste weitergegeben, und in der Garage standen der Jaguar und der SLK 280 einträchtig nebeneinander. Sie kamen manchmal ins Lugano, Leute in den Vierzigern, Fünfzigern, sogar Sechzigern, die sich mit Weinen auskannten, nie Erläuterungen brauchten und immer wussten, wie man etwas aussprach, ganz gleich, ob es ein italienisches, französisches oder deutsches Wort war. Und dann fuhren sie wieder nach Hause, in ein Haus wie dieses: Schieferdach, Sprossenfenster, hundertjährige Büsche, sorgsam gestutzt und gezähmt, so dass sie aussahen wie eine Erweiterung der Mauern, Blumenbeete, Efeu, Glyzinien. Und immer auf einem Hügel mit altem Baumbestand. Damit sie hinuntersehen konnten."

    Zeile für Zeile beschreibt T. C. Boyle eine Welt in der Identitätsdiebstahl gewissermaßen eine Lebensform ist. Alles sieht aus wie etwas, alles schwitzt vor präparierter, inszenierter Bedeutung. Das Label als Heimat. In den Villenviertels Neuenglands stehen mehr englische Villen als in England je gestanden haben - und englischer als in England. An gewissen Straßen Kaliforniens steht ein verkleinertes Loire-Schloss neben einer maurischen Kashba, gefolgt von einem toskanischen Landhaus. Der größte Schutz gegen den flüchtigen Hauch des Scheins bietet die Aura der Tradition. Als kämen die Dinge und die Menschen von weither aus angestammten Gebieten. Würde des Seins. Alles gerät zur Requisite eines Stils. Man könnte das als Geschmacksfrage abtun, womöglich sogar als "typisch amerikanisch". Doch in Wahrheit geht es um die existenzielle Verfassung der Moderne. Und diese Verfassung hat in T. Boyle einen glänzenden Chronisten gefunden.