Die Öffnung der Mauer habe sein Leben in 'Vorher' und 'Nachher' geteilt, sagt Thomas Oberender. Besonders eindrücklich blieb die Erfahrung, "dass nicht geschossen wurde". Vor dem Hintergrund der Tragödie vom Tiananmen-Platz sei das für ihn nicht selbstverständlich gewesen. Er habe sich aber schon als Ostdeutscher gefühlt, als "Deutscher in Klammern", zum Beispiel durch Erfahrungen im Ausland, wo man von den Westdeutschen deutlich abgegrenzt wurde. Den Moment des Mauerfalls bezeichnet Oberender als einen der schönsten seines Lebens, "diese Herzlichkeit, das Aufgenommensein, die Freundlichkeit der Grenzsoldaten, die total überfordert waren und das Glück haben strömen lassen. Es war eine tolle Großzügigkeit unter den Leuten. Schon U-Bahnfahren war toll."
Eine Verfassung für eine andere DDR
Die Chancen dieser Offenheit und Neuorientierung in einem "window of opportunities", in einem "kleinen Zeitfenster im großen Fluss der Geschichte, in dem alles so oder so ausgehen kann", hätten schon besser genutzt werden können, meint Oberender. Diejenigen, die bewusst nicht ausgereist seien damals, sondern eine andere DDR wollten, hätten mit neuen Bewegungen und Initiativen den Staat in die Knie gezwungen und die "seltene Situation hergestellt, in der Volks- und Bürgerbewegung eins wurden. Das hat den Staat hinfortgespült". Einen Entwurf zu einer neuen Verfassung habe es damals gegeben, mit einer Präambel von Christa Wolf, in der es um Recht auf freies Wohnen und Arbeit, ums Recht auf Partizipation ging. Dieselben sozialen Fragen kämen heute, nach 3 Jahrzehnt en Neoliberalismus in Ost und West, mit aller Macht wieder zurück. "Und da ist es gut, weiter zu denken und sich auf das Selbstbewusstsein, die Kraft, die Freude, die in dieser Zeit damals lag, zu besinnen und mit den Aktivisten von heute zusammen zu führen."
Grauer Osten?
Dass die historische Entwicklung heute so überlagert sind von Wut, Enttäuschung und Ausländerhass, erklärt Oberender mit "dreißig Jahren wohlwollenden Kuratels", eine Erfahrung, die Ostdeutsche ironischerweise mit vielen Migranten teilten. Die vielen Kränkungen, die Härten, den Paternalismus müsse man zur Kenntnis nehmen und zum Teil unserer Erfahrung machen. "Es war eine Gewalterfahrung, die als solche nie besprochen wurde. Und es gibt eben auch ein Trauma, das in dieser Wiedervereinigungsgeschichte verborgen liegt." Darüber zu reden dürfe man nicht der AfD überlassen. Und nicht zulassen, dass die DDR nur grau in grau erinnert wird. Ihm habe es "eine Riesenfreude" bereitet, als die Frankfurter Allgemeine Zeitung die kulturellen Leistungen der DDR würdigte, mit ihren eigenen Avantgarden in Musik, Literatur und Design - in Farbe und "nicht unter dem Vorzeichen der historischen Verschrottung. Das zu wertschätzen würde der AfD viel Wind aus den Segeln nehmen."
Thomas Oberender, geboren 1966 in Jena, ist Intendant der Berliner Festspiele. Als Student der Theaterwissenschaft in Berlin erlebte er die Wende, sein Studium schloss er mit einer Arbeit über Botho Strauß ab und arbeitete lange als Kritiker, Essayist und Dramatiker. Er war Dramaturg in Bochum, Zürich und bei der Ruhrtriennale sowie Leiter der Salzburger Festspiele, bevor er 2012 wieder nach Berlin ging.
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