Das Gemälde, das "gehen" soll, ist "Open Casket" (Offener Sarg). Es ist eines von mehreren Werken, mit denen Dana Schutz auf der diesjährigen Whitney-Biennale vertreten war - amerikanische Gegenwartskunst und eine abstrahierende Interpretation eines Schwarz-Weiß-Fotos, das den Jugendlichen Emmett Till 1955 in seinem Sarg zeigt und die Gewalt, die gegen Till verübt wurde, thematisiert.
Die Stimme, die "Das Bild muss weg" fordert, gehört Hannah Black. Auch sie ist Künstlerin. In ihrem an das Whitney Museum gerichteten offenen Brief erhebt sie gegen das Bild Anklage, verbunden "mit der dringenden Empfehlung, das Bild zu zerstören und es weder auf den Kunstmarkt noch in ein Museum gelangen zu lassen." In diesem viel diskutierten Brief verurteilt Black die Darstellung schwarzen Leids durch eine weiße Künstlerin. Sie erkennt darin einen Akt der Ausbeutung und der Gewalt, der gegen Emmett Tills Andenken verübt werde.
Julia Pelta Feldman untersucht in ihrem Essay die Debatte um Verbote und Zensur von Kunst und berücksichtigt eine in Deutschland oft vernachlässigte Perspektive: die Idee einer Zensur von unten.
Der gesamte Beitrag zum Nachlesen:
1955 wurde im Bundestaat Mississippi ein 14-jähriger schwarzer Junge namens Emmett Till von zwei weißen Männern verstümmelt und getötet. Till stammte aus Chicago und war gerade auf Verwandtenbesuch. Die beiden Täter, Roy Bryant und sein Halbbruder J. W. Milam glaubten, Till habe Bryants Frau Carolyn Avancen gemacht. In Wirklichkeit log Carolyn Bryant, als sie Till bezichtigte, sie belästigt und bedroht zu haben. Dass sie diese Unwahrheit erst 2008 zugab, in einem Interview, das erst dieses Jahr veröffentlicht wurde, mindert weder den Mord noch die Tatsache, dass Bryant und Milam seinerzeit freigesprochen wurden.
Der Mord an Emmett Till machte deutlich, dass die Gewalt, Unterdrückung und ökonomische Ausbeutung der Sklaverei im segregierten Amerika der Fünfzigerjahre noch sehr lebendig waren. Und damit diese Wahrheit nicht ignoriert oder in Vergessenheit geraten konnte, bestand Mamie Till Mobley, Tills Mutter, darauf, Fotografien zu veröffentlichen und zu verbreiten, die das entsetzlich entstellte Gesicht ihres Sohnes in jenem offenen Sarg zeigten, den sie für seine Beerdigung ausgewählt hatte.
Die Bilder sind erschütternd. Die Brutalität, die sie dokumentieren, befeuerte die Bürgerrechtsbewegung der Sechziger. Heute sind sie leicht im Internet zu finden und Teil einer Vergangenheit, die noch immer sehr gegenwärtig ist.
Adornos Frage nach Schuld und Freiheit
In seinem Essay "Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit" schrieb Theodor W. Adorno 1959, vier Jahre nach Tills Ermordung und in Bezug auf das Nachleben des Nationalsozialismus in Deutschland:
Zitat:
"Man will von der Vergangenheit loskommen: mit Recht, weil unter ihrem Schatten gar nicht sich leben läßt, und weil des Schreckens kein Ende ist, wenn immer nur wieder Schuld und Gewalt mit Schuld und Gewalt bezahlt werden soll; mit Unrecht, weil die Vergangenheit, der man entrinnen möchte, noch höchst lebendig ist."
Adorno ging es um die Frage, wie man der Gewalt, die geschehen ist, entkommen kann, ohne die eigene Schuld zu verleugnen. In der Tat ist es nicht immer leicht, zwischen einer heilenden und einer die ursprüngliche Verletzung wiederholenden Geste zu unterscheiden. Die offene Debatte, die Adorno anmahnte - und die sich mit einiger Verzögerung in Deutschland entfachte - ist sicherlich ein erster Schritt. Und sie kann ohne Konflikte nicht ausgetragen werden. Aber müssen einem solchen Dialog und der kulturellen Produktion, die ihm entspringt, Grenzen gezogen werden? Kann eine künstlerische Schöpfung sich als destruktiv erweisen - und kann ein Akt der Zerstörung je produktiv sein?
Amerikas Geschichte der Sklaverei
Es ist leicht zu erkennen, dass in den USA die Geschichte der Sklaverei keine Sache der Vergangenheit ist. Noch immer existieren im öffentlichen Raum mehr als 1.500 Symbole der konföderierten Südstaaten - Denkmäler, Flaggen, Ortsnamen, die diese Geschichte oft noch feiern.
Nicht erst nachdem am 11. August in Charlottesville, Virginia, Heather Heyer bei einer Gegendemo zu einer rechtsextremen Demonstration getötet wurde, gibt es Rufe danach, diese Symbole abzubauen.
Der Protest der weißen Rassisten war gegen die Entscheidung der Stadt gerichtet, ein Reiterstandbild des Konföderiertengenerals Robert E. Lee zu demontieren. Doch ist die Gewalt, die an solchen Standbildern haftet, nur für die Kunst der Vergangenheit ein Problem? Oder kann auch ein Werk aus der Gegenwart die amerikanische Geschichte der Unterdrückung fortführen?
"The painting must go." Vor einigen Monaten hallte dieser Satz durch die New Yorker Kunstwelt. Das Gemälde, um das es dabei ging, trägt den Titel Open Casket - Offener Sarg. Es ist eines von mehreren Werken, mit denen die Künstlerin Dana Schutz auf der diesjährigen Whitney-Biennale vertreten war, eine Art Schnappschuss amerikanischer Gegenwartskunst. Open Casket zeigt eine abstrahierende Interpretation eines Fotos, das Emmett Till in seinem Sarg zeigt.
Kunst als Akt der Gewalt und Ausbeutung?
Üppige Farben des Gemäldes ersetzen das Schwarzweiß des fotografischen Originals. Tills Gesicht ist nicht als menschliches Antlitz zu erkennen. Schutz hat es aus dicken Schichten von Ölfarbe geformt, sein Mund wie mit einem Hieb hineingehauen, so als habe Schutz die Gewalt, die gegen Till verübt wurde, auf das Material ihrer Kunst übertragen.
"Das Bild muss weg" - die Stimme, die dieses fordert, gehört Hannah Black. Auch sie ist Künstlerin. Ihre Forderung durchzieht mantrahaft den an das New Yorker Whitney Museum gerichteten offenen Brief. Darin erhebt Black gegen das Bild Open Casket Anklage, verbunden mit,
Zitat, "der dringenden Empfehlung, das Bild zu zerstören und es weder auf den Kunstmarkt noch in ein Museum gelangen zu lassen." Zitatende.
In diesem viel diskutierten Brief verurteilt Black die Darstellung schwarzen Leids durch eine weiße Künstlerin. Sie erkennt in dieser Darstellung einen Akt der Ausbeutung und der Gewalt gegen Emmett Tills Andenken.
Zitat: "Jene nicht-schwarzen Künstler, denen aufrichtig daran gelegen ist, die schändliche Form weißer Gewalt hervorzuheben, sollten zuerst davon ablassen, schwarzen Schmerz als Rohmaterial zu benutzen. Das Thema gehört Schutz nicht. Weiße Redefreiheit und weiße Kunstfreiheit sind darauf gebaut, anderen diese Freiheiten zu verwehren; sie sind kein Naturrecht."
Zitatende.
"Schwarzer" Protest gegen "weiße" Kunst
Auch der Künstler Parker Bright protestierte in einem T-Shirt mit der Aufschrift "BLACK DEATH SPECTACLE" vor dem Gemälde von Dana Schutz. Parker Bright und Hannah Black sind nicht die einzigen Kritiker von Open Casket, neben diesen beiden jungen schwarzen Künstlern fand der offene Brief fast 50 weitere Unterzeichner.
Manche Stimmen in den Medien befürworten den Protest ebenfalls. Kritiker des Bildes halten Schutz' Darstellung von Till für einen Akt kultureller Aneignung sowie eine Wiederholung und Ästhetisierung der Gewalt, die ihm angetan wurde. Einige Kunstmagazine und Zeitungen haben die Debatte weiter angefacht. Manche wiederholen (und stärken) Blacks Argumente aus der Perspektive sozialer Gerechtigkeit, andere lehnen sie als Beschneidung der Redefreiheit ab oder verteidigen das Bild von Dana Schutz aus ästhetischen Gründen.
Dass diese sehr amerikanische Debatte auch in Deutschland kommentiert wurde, ist nicht überraschend: Blacks Refrain, "Das Bild muss weg", erscheint vielen wie ein Aufruf, eine Stimme zum Schweigen zu bringen, die sich einer dunklen Vergangenheit stellen will. Zensur ist für Liberale ein Tabu. Aber in diesem Fall schließt ihre Ablehnung ein, auch die Stimmen junger Nichtweißer abzuweisen, deren eigene Erfahrung, in einer Gesellschaft ungehört zu bleiben, sehr real ist.
Es kommt vielleicht darauf an, wer spricht. Ich selbst bin eine weiße Amerikanerin. Ich lehne Zensur instinktiv ab, aber gleichzeitig gibt es mir zu denken, dass ich damit Stimmen beiseite wischen würde, die von Weißen so oft ignoriert oder mit Gewalt zum Schweigen gebracht werden. Der Protest gegen Open Casket handelt von Perspektiven - davon, ob eine weiße Künstlerin die Erfahrung schwarzer Amerikaner nachvollziehen und zum Ausdruck bringen kann. Ich verstehe nicht alle Einwände, die gegen Schutz' Bild vorgebracht worden sind. Aber ebenso wenig kann ich behaupten zu verstehen, was es heißt, schwarz zu sein.
Viele weiße Liberale - damit ist in den USA die fortschrittliche und moderate Linke gemeint - verärgert der Gedanke, dass ihre Identität ihrer Verständnisfähigkeit Grenzen auferlegen sollte. Sie glauben, dass die Einschränkung dessen, was einer Künstlerin darzustellen "erlaubt" sein sollte, eine gefährliche Beschneidung ihrer Meinungsfreiheit bedeute. Allerdings ist es eines von Blacks zentralen Argumenten, dass schwarze Amerikaner immer schon solchen Beschränkungen ausgesetzt waren, seien sie nun rechtlich oder sozial durchgesetzt. Daher hält Black es für falsch, so zu tun als existierten diese Beschränkungen nicht.
Meinungsfreiheit in den USA und in Deutschland
Und tatsächlich wird die Spielart der in den Vereinigten Staaten herrschenden Meinungsfreiheit in Deutschland oft für gefährlich gehalten. Der Staat setzt ihr gewisse Grenzen, um die Schutzbedürftigen vor jenen zu bewahren, die über die Macht zu ihrer Ausgrenzung verfügen.
In Deutschland sind die Symbole des Nationalsozialismus verboten. In Amerika hat die American Civil Liberties Union, kurz ACLU, eine normalerweise von der Linken gefeierte Organisation, in einem berühmt gewordenen Fall das Recht amerikanischer Nazis verteidigt, durch ein jüdisches Viertel Chicagos zu marschieren. Und die rechtsextreme Demonstration in Charlottesville, bei der auch Hakenkreuzfahnen geschwungen wurden, konnte ebenfalls dank der ACLU durchgeführt werden.
Dass Juden in Deutschland heute besondere Berücksichtigung erfahren und etwa ihre Synagogen beschützt werden, ist bereits eine Form von Identitätspolitik - einer auf Interessen und Perspektiven sozialer Gruppen beruhenden politischen Positionierung -, auch, wenn das hierzulande oft für spezifisch amerikanisch gehalten wird.
Eine deutsche Kommentatorin erklärte die Kontroverse um Open Casket dann auch so:
Zitat "Es geht, wie heute meistens, wenn in den USA eine emotional hochbesetzte Debatte ausbricht, um 'identity politics'." Zitatende.
Vielleicht steckt dahinter der deutsche Verdacht, dass die Identitätspolitik der amerikanischen Linken gefährlich nah an die Gemeinschaftsideale der Rechten rücken kann.
Der "Identitätsliberalismus" mit dem Rücken zur Wand?
Nach den Präsidentsschaftswahlen, die Donald Trump ins Weiße Haus geführt haben, riefen einige Liberale dazu auf, die Prioritäten der amerikanischen Linken zu überdenken. Der Identitätsfrage dürfe nicht mehr eine so zentrale Bedeutung zukommen. In einem Artikel, der sowohl in den USA als auch in Deutschland breite Beachtung fand, forderte der amerikanische Historiker Mark Lilla,
Zitat, "dass die Zeiten des Identitätsliberalismus beendet werden müssen." Zitatende.
Lilla meint, der auf soziale Identität gerichtete Fokus habe die Basis der Demokratischen Partei zersplittert. Er sieht das Versagen dieser Politik gerade in Trumps Wahlsieg.
Hillary Clintons Fehler im Wahlkampf sei gewesen, individuelle Gruppen anstelle von breiten Kategorien wie Klassen anzusprechen. Und Lilla lehnt die Idee ab, dass weiße Männer überhaupt eine solche Gruppe ausmachten:
Zitat "Das neue und nachgerade anthropologische Interesse der Medien am zornigen weißen Mann enthüllt ebenso viel über den Zustand unseres Linksliberalismus wie über jene viel geschmähte und zuvor geflissentlich übersehene Spezies." Zitatende.
Das impliziert, dass die Identitätspolitik "unseren Liberalismus" in einen erbärmlichen Zustand gestürzt habe, wenn wir nur dabei angelangt sind, weiße Männlichkeit als eine Identität statt als breite Mehrheit zu betrachten.
Der Fortschritt der Identitätspolitik
Das aber ist schlicht falsch: Seit jeher hat "anthropologisches Interesse" an jeder denkbaren Gruppe bestanden, nur nicht an weißen Männern. Dass uns heute bewusst wird, dass dies ebenfalls eine Identität ist - und nicht einfach ein Standard -, beweist den Fortschritt der Identitätspolitik, nicht ihr Versagen. Wenn die Demokratische Partei das etwas früher erkannt hätte, wäre die Wahl vielleicht anders ausgegangen.
Darum geht es der Identitätspolitik letztlich: dass es keine Standardposition gibt. Nur weiße Männer besaßen den Luxus zu glauben, sie existiere, weil ihre Identität weithin für eine solche gehalten wird. Daher ist es erstaunlich, dass so viele Kommentatoren, vor allem in Deutschland, sich wie von einem universellen Standpunkt aus in diese Debatte eingeschaltet haben, die, in ihrem Kern, uns doch gerade zur Reflexion darüber auffordert, ob dieser Standpunkt nicht eher eine gefährliche Illusion ist.
Für manche Autoren scheint das ein blinder Reflex zu sein, während andere daraus geradezu eine Pointe machen, als wollten sie sagen: Dass Dana Schutz weiß ist, hat mit der Wahl ihres Sujets nichts zu tun; dass ich weiß bin, hat mit meiner Haltung in dieser Kontroverse nichts zu tun - mir geht es nur um die Wahrheit!
Das Problem ist, dass Wahrheit selbst einen subjektiven Aspekt besitzt, der von den enorm verschiedenen Erfahrungen und Geschichten abhängt. Die Idee eines universellen Subjekts uneingeschränkt zu verteidigen bedeutet, diese Unterschiede zu leugnen; weiß zu sein, wird so zur Norm, und white supremacy, also die Doktrin der weißen Überlegenheit, lediglich die bewusste Verteidigung dieser unbewussten Haltung.
Ich verstehe, dass diese Vorstellung vielen Weißen zuwider ist. Ich verstehe es, weil ich diesen Widerstand auch in mir selbst spüre. Gehört es nicht zum wichtigsten Erbe der Aufklärung, dass jede Person als Individuum anerkannt werden muss, das seine Religion, Hautfarbe und Kultur transzendiert?
Jüdische Identität in den USA
Meine liberalen, progressiven Überzeugungen begehren gegen die Vorstellung auf, dass ein universales Subjekt unmöglich sein sollte; dadurch wird diese Einsicht aber nicht weniger wahr. Unterdrückung, Genozid und Sklaverei, die dunkle Seite des aufklärerischen Erbes, haben das universale Subjekt erledigt, das eben jene Aufklärung versprach. Darauf zu insistieren, dass schwarze und weiße Amerikaner im selben Land leben und dieselben Chancen haben, bekämpft den Rassismus daher nicht, sondern normalisiert ihn nur.
Historische Gewalt bleibt real für die Nachfahren derer, die sie erlitten haben. Ich weiß das ganz konkret: Meine Großeltern sind Holocaustüberlebende und ich verdanke meine eigene Existenz einer ganzen Reihe von Glücksfällen - etwa dem, dass mein Großvater, kurz bevor das Ghetto von Łódź liquidiert wurde, dank eines Hinweises den Zug bestieg, der in ein Arbeits- und nicht in ein Todeslager fuhr. Ebenso ist die Tatsache, dass ich Amerikanerin bin, eine Laune des Schicksals: Im Lager für displaced persons, in dem sich meine Großeltern nach Kriegsende begegneten und in dem die ältere Schwester meiner Mutter geboren wurde, erwogen meine Großeltern, sich in Palästina oder Frankreich niederzulassen. Trotz dieser Zufälligkeit ist mir mein Amerikanischsein für meine Identität stets zentraler vorgekommen als mein Judentum; meine Familie ist ausgesprochen säkular und mein Leben lang habe ich in großen Städten im Nordwesten der Vereinigten Staaten gelebt, wo es leicht fällt, Antisemitismus für ein Problem der Vergangenheit zu halten.
Im April besuchte ich meine Eltern in ihrem Haus in einem Vorort von Philadelphia, um Pessach zu feiern, einen Feiertag, der so wichtig ist, dass selbst meine nicht besonders religiöse Familie ihn begeht. Bei der Zubereitung des traditionellen Seder-Essens war Donald Trump das ständige Diskussionsthema. Als ich Petersilie und Muskat in den Teig für die Matzeknödel mischte (die Adaption eines Traditionsrezepts durch meine Mutter), gestand ich, dass mir in den letzten Wochen die Augen geöffnet worden waren, was die Gegenwart des Antisemitismus in den USA angehe. Die Welle antijüdischen Hasses, die nach der Wahl aufbrandete und die, wie es schien, nur auf ihre Zeit gewartet hatte, zeigte mir, wie kurzsichtig es ist zu glauben, dass im säkularen Westen Antisemitismus nur in den Geschichtsbüchern existiert. Oder in der Erinnerung von Überlebenden wie der meiner Großeltern. Während ich sprach, schöpfte meine Mutter Fett von der Hühnersuppe und schwieg für einen Moment.
"Wir haben in diesem Land bisher viel Glück gehabt", sagte sie. Ihre Worte bestätigten mir, dass es naiv ist zu glauben, dass mein Judentum kein primärer Aspekt meiner Identität sei oder schnell wieder dazu werden kann.
Ich kann mich entscheiden, jüdische Feiertage zu begehen oder sie zu ignorieren, aber auf gewisse Weise habe ich, was meine Identität betrifft, keine Wahl. Und ein Aspekt meiner Identität - nicht nur jüdisch, sondern eben auch weiß zu sein - steht mir auf die Haut geschrieben. Die pointiertesten Stimmen auf beiden Seiten der Schutz/Black-Kontroverse um das Open-Casket-Gemälde erkennen das. Eine dieser Stimmen gehört Coco Fusco, einer kubanisch-amerikanischen Künstlerin, deren Arbeiten und Schriften jene kolonialen Machtstrukturen aufzudecken versuchen, die dazu führen, dass kulturelle Identität stets im Vordergrund unserer Erfahrungswelt bleibt. 1992 stellten sie und der Künstler Guillermo Gómez-Peña ein bis heute umstrittenes Werk in Madrid, London, Sydney und New York aus.
In Two Undiscovered Amerindians Visit the West - Zwei unentdeckte amerikanische Indianer besuchen den Westen - präsentierten sich Fusco und Gómez-Peña ihrem Publikum in einem Käfig, verkleidet als echte "Ureinwohner" einer neuentdeckten Insel im Golf von Mexiko. Ihre bizarren "Rituale" wurden durch einen Begleittext in pseudowissenschaftlicher Sprache interpretiert, die jene Vorannahmen parodierte, denen Nichtweiße aller Hintergründe im Westen ausgesetzt sind. Fusco lehrt an Kunsthochschulen; ihre Erfahrungen mit nicht-weißen Kunststudenten und ihre Befürchtungen, dass die eigene kulturelle Identität deren Arbeit womöglich zu sehr bestimme, spielten in ihrem Artikel, der Blacks Brief behandelt, eine große Rolle.
Vehemente Verteidigung des Kunstwerks
Ohne Open Casket im Sinne der Künstlerin Dana Schutz zu verteidigen, stellt sich Fusco gegen Blacks Aufruf, das Bild zu zensieren. Unter anderem kritisiert sie Black dafür, sich anzumaßen, für alle schwarzen Menschen sprechen zu können. Sie kritisiert weiter, dass Black Abstraktion als unpolitisch ablehnt und unterstellt, Schutz habe aus Profitgier gehandelt - es sei ja zunächst nicht verkehrt, wenn Künstler von ihrer Arbeit leben können.
Ebenso verurteilt Fusco Blacks Behauptung, Mamie Till habe die Fotos ihres toten Sohnes nur für ein schwarzes Publikum verbreitet wissen wollen. Es besteht in der Tat kein Zweifel daran, dass Mamie Till die Bilder von 1955 auch Weißen zeigen wollte - nicht nur den Rassisten, die ihren Sohn umgebracht hatten, sondern auch den guten Liberalen: denen, die den Rassenhass kleinreden, weil sie ihn vergessen wollen, die damit aber ignorieren, dass er nach dem Ende der Sklaverei in den Vereinigten Staaten weiterhin existiert.
Zu Blacks Forderung, dass das Bild nicht nur aus der Öffentlichkeit verschwinden, sondern auch zerstört werden müsse, schreibt Fusco, Zitat: "Black und ihre Unterstützer stellen sich auf die falsche Seite der Geschichte, gesellen sich zu Falangisten, die Bücher verbrannten, autoritären Regimes, die Kultur zensieren und Künstler einsperren, und religiösen Fundamentalisten, die Kunst im Namen ihres Gottes verbieten."
Zitatende.
"Verbrennen […] geht gar nicht"
Dieses Argument war auch von vielen weißen Liberalen im Zuge dieser Kontroverse zu hören: Dass sie zwar das Recht schwarzer Künstler zu protestieren unterstützten, dass aber der Ruf nach der Zerstörung von Kunst einfach zu weit gehe. In Antwort auf einen Twitter-Kommentar, der die Verbrennung von Open Casket forderte, schrieb etwa Brigitte Werneburg in der taz empört: "Verbrennen […] geht gar nicht."
Eine jede Diskussion um die Zerstörung von Kunst ist besorgniserregend. Aber in diesem Fall verdreht Fusco Ursache und Reaktion: Wir haben es in der Geschichte um das Gemälde Open Casket nicht mit der bloßen Androhung von Gewalt, sondern mit dem Faktum von Gewalt zu tun. Zudem dürfen wir nicht die historischen Täter solcher Gewalt mit ihren Opfern verwechseln.
Leben sind vernichtet worden, unter anderem das von Emmett Till. Sein Tod im Jahr 1955, ein grausamer Mord, konnte den Tod von Michael Brown, Philando Castile, Jordan Edwards, Eric Garner, Freddie Gray, Akai Gurley, Trayvon Martin, Laquan McDonald, Tamir Rice, Walter Scott und Alton Sterling nicht verhindern - und das ist nur eine Auswahl schwarzer Männer, die in den letzten Jahren von weißen Polizisten in den USA erschossen wurden, obwohl sie unbewaffnet waren. Offizielle Zahlen darüber, wie viele Zivilisten von Polizeibeamten getötet wurden, gibt es nicht.
"Die Hautfarbe der Künstlerin ist relevant"
Eine ernsthafte Vergangenheitsbewältigung hat in den USA bislang nicht stattgefunden. Unter diesem Aspekt scheint es fragwürdig, auf der Unantastbarkeit von Kunst zu bestehen, die von Weißen geschaffen wurde. Wir alle würden es vorziehen, wenn die Hautfarbe von Dana Schutz hierbei irrelevant wäre, aber sie ist es nicht - und sie wird es nicht sein, bis es die von Black nicht auch ist.
Aus diesem Grund liegt Fusco auch falsch, wenn sie Black und ihre Forderungen mit einem autoritären Regime vergleicht. Der Unterschied lautet: Macht.
Anders als Regimes, die die Macht besitzen, ihre Gewaltandrohungen auch Wirklichkeit werden zu lassen, ist Black - eine junge schwarze Künstlerin ohne institutionelle Autorität - dazu gerade nicht in der Lage. Sie spricht aus einer historisch ohnmächtigen Position heraus und anders als autoritäre Regimes oder auch nur eine einflussreiche Institution, kann sie die Zerstörung zwar einfordern, aber nicht realistisch auf ihre Umsetzung hoffen.
Das ist der springende Punkt, der in dieser Diskussion fehlt: Ob Black ihren Aufruf zur Zerstörung nun wörtlich oder rhetorisch meint - er kann nur als letzteres verstanden werden, als Geste des gerechten Zorns einer Person, die ihn nicht ausführen kann. Blacks Ohnmacht angesichts der Rassengewalt sollte daran erinnern, was wir riskieren, wenn wir die Stimmen von Minderheiten unterdrücken, und wenn sie noch so extrem erscheinen mögen.
Horst Hoheisels Idee der Zerstörung des Brandenburger Tores
Black ist nicht die erste Künstlerin, die um der Gerechtigkeit willen zur Zerstörung eines Kunstwerkes aufruft. Ein anderes wirkungsvolles Beispiel findet sich in Horst Hoheisels Ein unübersehbares Zeichen aus dem Jahr 1995. Eine Wettbewerbseinreichung zum Denkmal für die ermordeten Juden Europas, das vorsah, kein neues Wahrzeichen zu schaffen, sondern ein altes zu zerstören - das Brandenburger Tor zu Staub zu zermahlen und ihn auf der Stelle zu zerstreuen, die dem neuen Denkmal zugewiesen worden war. Hoheisels Entwurf ersetzt die bombastische Präsenz eines traditionellen Denkmals mit seiner augenfälligen Absenz. Wie Black insistiert er darauf, dass keine Schöpfung den Verlust menschlichen Lebens gutzumachen vermag. Hoheisel konnte kaum davon ausgehen, den Wettbewerb zu gewinnen. Sein Beitrag stellte zu keinem Zeitpunkt eine Gefahr für das Brandenburger Tor dar, denn er war nie in der Position, es zermahlen zu können. Die Macht seiner Geste ist daher ihr Paradox: Die Zerstörung des Tors ist gleichermaßen zu viel und zu wenig verlangt um den Mord der sechs Millionen aufzuwiegen. In seiner Ohnmacht erinnert Hoheisel an die Grundfrage aller Identitätspolitik, der sich auch Black stellt: Es kommt nicht nur darauf an, wer sprechen darf, sondern auch, wer wirklich gehört wird.
Dass die Geschichte der Unterdrückung den Zensurbegriff verkompliziert, ist interessanterweise das Thema eines anderen Werkes der diesjährigen Whitney Biennale, das nur ein paar Schritte von Open Casket entfernt ausgestellt ist. Frances Starks Ian F. Svenonius' "Censorship Now!" for the 2017 Whitney Biennial nimmt sehr viel mehr Ausstellungsfläche ein als Schutz' Gemälde und ist ohne Frage ein polemischeres Werk, wurde in der Presse aber vergleichsweise wenig beachtet. Stark benutzte ihre acht großflächigen Leinwände wie die Doppelseiten eines Buches und kopierte Wort für Wort den titelgebenden Essay eines kleinen polemischen Sammelbandes von Svenonius, einem Underground-Musiker und kaum bekannter Autoren. Censorship Now! ereifert sich gegen Meinungsfreiheit und behauptet, dass "wir heute Zensur brauchen" - vor allem,
Zitat, "Zensur in der Kunst, deren Sonderstatus, der sie gegen alle Schuldfähigkeit immunisiert, die degenerierte Ideologie erklärt und entschuldigt, die all diese 'Freiheit' möglich macht." Zitatende.
Plädoyer für eine "Graswurzelzensur"
Stark machte das Buch zu ihrem Gegenstand, weil sie seinen Titel provokativ fand, und hat das Unbehagen, das er heraufbeschwört, selbst thematisiert.
Zitat: "Es lässt sich kein skandalöserer unangenehmerer Satz vorstellen, mit dem man sich als Künstler oder Kreativer oder Museumsbesucher auseinandersetzen könnte." Zitatende.
Aber indem sie den gesamten Essay auf die Leinwand bringt, nicht nur seinen beunruhigenden Titel, und zwar in großen Lettern in einem großen Museum, macht Stark es einem schwer, Svenonius' Botschaft zu ignorieren. Und wenn man auch nur ein paar Zeilen des Textes liest, wird schnell deutlich, dass es Svenonius nicht um Zensur geht, wie wir sie für gewöhnlich verstehen. Statt Zensur von oben, diktiert von Regierungen, mächtigen Institutionen oder der Finanzelite, tritt er ein für eine, Zitat, "Volkszensur, eine Graswurzelzensur, eine Zensur als Aufstand." Zitatende. Es ist eine Zensur von unten. Svenonius geht es darum, dass trotz allen leidenschaftlichen Vertrauens in die "Redefreiheit" manche Rede eben doch freier ist als andere. Qualität und Expertise mögen nebulöse Kriterien sein, aber sie haben wenig zu tun mit Erfolg in Kunst, Literatur, Musik und sogar Journalismus, deren Verbreitung von den Verbindungen, finanziellen Ressourcen und, natürlich, der Identität ihrer Schöpfer abhängt, beruht sie nun auf Hautfarbe, Geschlecht, Religion oder etwas Anderem. Statt dies passiv zu akzeptieren, drängt Svenonius darauf, dass "we the people" uns aktiv für jene Werke einsetzen sollten, von denen wir glauben, dass sie eine Plattform verdienen - so wie Stark es tat, als sie ihm die ihre zur Verfügung stellte - und uns auch gegen die Werke aussprechen, die wir für inakzeptabel halten.
Wie kann so eine "Graswurzelzensur" aussehen? Eine Antwort liefert Blacks Brief. Durch die Linse des unkonventionellen Verständnisses von Meinungsfreiheit betrachtet, das Svenonius und Stark artikulieren, unterscheidet sich Blacks Aufruf zur "Zensur" grundsätzlich von den Machenschaften von Medienkonglomeraten, repressiven Regierungen und reichen Mäzenen. Er ist ein Plädoyer für die Umverteilung von Redefreiheit und eine Mahnung, dass der Mord an Emmett Till keine Sache der Vergangenheit ist, sondern bis in unsere Gegenwart hineinreicht.
Adorno schließt seinen Essay,
Zitat: "Aufgearbeitet wäre die Vergangenheit erst dann, wenn die Ursachen des Vergangenen beseitigt wären. Nur weil die Ursachen fortbestehen, ward sein Bann bis heute nicht gebrochen." Zitatende.
Solange also die rassistische Vergangenheit Amerikas noch lebendig ist, solange sie weiter die Leben und den Lebensunterhalt von Schwarzen zerstört, sollte man Hannah Blacks Aufruf zur Zensur nicht als Akt der Zerstörung begreifen, sondern als Mahnmal für das betrachten, was bereits Opfer der Zerstörung wurde.
Absage:
Das Bild mus weg. Von Julia Pelta Feldman. Mit Edda Fischer. Technik: Markus Braun. Regie: Anna Panknin. Redaktion: Barbara Schäfer.