Die Zahl der gleich gestrickten Krimis ist so inflationär wie die der Kommissare, während es in den Nachrichtensendungen um Terror und Anschläge und in den Boulevardformaten um Autounfälle oder Kindestötungen geht.
Auf dem scheinbaren Höhepunkt menschlicher Vernunft erleben wir den faszinierenden Widerspruch zwischen der obsessiven Beschäftigung einer Kulturproduktion mit Mord, Sterben und Tod und einer gesellschaftlichen Moral fast hysterischer Todesvermeidung im optimierten Lebensalltag.
Woher kommt die gebührenfinanzierte Faszination des Todes? Und welche Stellung nimmt der Tod in unserer Lebenswelt ein?
Sonntag Abend, Nikolaus, 6. Dezember 2015, Erstes Deutsches Fernsehen, 20:15 Uhr: Tatort München. Titel: "Einmal wirklich sterben". Zwei Schüsse in einem Einfamilienhaus. Als die Hauptkommissare Batic und Leitmayr am Tatort eintreffen, finden sie Michaela Danzer erschossen vor.
Direkt im Anschluss ein Trailer: Mord in bester Gesellschaft - Eine gezückte Pistole, ein Schuss. Danach: Wiederholung des Tatorts aus Weimar. Brigitte Hoppe wurde Opfer eines Gewaltverbrechens. Parallel dazu im ZDF: The Fall - Tod in Belfast: Ein nordirischer Serienmörder jagt Frauen, die Kommissarin jagt ihn.
Am selben Tag auf Sat.1, durchgehend von 20:15 bis 22:15 Uhr: Navy CIS. Navy CIS Miami. Navy CIS L.A.. Morde, Verbrechen, Ermittlungen. Am Tag darauf, Montag, 7. Dezember 2015, ab 18:30 Uhr: Trailer 1: Die Tote aus der Schlucht - für denselben Abend - Trailer 2: Der Kommissar und das Meer - für den kommenden Samstag - Trailer 3: Tod in Belfast - für den kommenden Sonntag.
Im deutschen Fernsehen wird gemordet, getötet, gemetzelt und gestorben
Diese Auswahl ist reine Willkür. Man hätte genauso gut jeden anderen Tag, jede andere Woche, jeden zurückliegenden oder kommenden Sonntag oder Montag oder Mittwoch wählen können.
Oder jeden Freitag. Den Krimi-Freitag. Zum Beispiel 26. Februar 2016, ZDF, 20:15 Uhr: Der Staatsanwalt: "Erben und Sterben". Ein bewaffneter Raubüberfall im Justizzentrum Wiesbaden. Ein Toter liegt auf dem Boden. ARD, 22:00 Uhr: Tatort Ludwigshafen: "Blackout". Ein Mann wurde mit K.O.-Tropfen betäubt, ermordet und in sexuell erniedrigender Situation zurückgelassen.
ARD 23:30 Uhr: Mankells Wallander: "Inkasso". Bei einem Raubüberfall wird die Kampfsportlerin Therese Petterson in der eigenen Wohnung tödlich verletzt. Arte, 20:15 Uhr: Mein Mann, ein Mörder.
Auf ZDFinfo: 20:15 Uhr: Der Hundertjährige Krieg
Auf Phoenix, 20:15 Uhr: Wenn Frauen morden, Teil 1 - 21:00 Uhr: Wenn Frauen morden, Teil 2 - 21:45 Uhr: Wenn Frauen morden, Teil 3
Auf einsfestival, ARD: 20:15 Uhr: Mord mit Aussicht, Teil 20 - 22:35 Uhr: Mord mit Aussicht, Teil 21
ZDFneo: 21:45 Uhr: Camilla Läckberg: Mord!
ARD um 01:15 Uhr: The Fog - Nebel des Grauens. Um 02:45 Uhr wird Wallander wiederholt.
Im deutschen Fernsehen wird gemordet, getötet, gemetzelt und gestorben, was das Zeug hält. Gefolterte, geschändete Frauen, aufgehängte, durchbohrte Leiber, explodierende Autos, gezückte Pistolen, tropfendes, sickerndes, fließendes Blut. Diese Feststellung will keine reaktionäre Klage eines aus der Zeit gefallenen Kulturpessimisten sein, sondern ist das Resultat nüchternen Fernsehkonsums über lange Zeit hinweg.
Das öffentlich-rechtliche deutsche Fernsehen ist ein einziges Schlachtfeld
Es gibt Tage, an denen in deutschen TV-Programmen wenig gemordet wird - aber es gibt keinen Fernsehtag, an dem nicht irgendwo ein Krimi-Mord geschieht. 2004 widmete sich laut einer damals erstellten Medienforschungsstudie jede fünfte fiktionale Sendeminute einem Krimi; über zehn Jahre später dürfte es, geschätzt, mindestens jede vierte sein. Auf dem Bildschirm ist der Tod omnipräsent. Das Leitmedium Fernsehen produziert eine als filmisches Spiel bemäntelte Todesverherrlichung in inflationärer Manier. Man kommt um die Erkenntnis nicht herum: Fernsehkultur ist Todeskultur.
Die flächendeckende Versorgung der deutschen Bevölkerung mit Mord, Gewalt und Tod findet überraschenderweise nicht generalstabsmäßig durch die Privatsender, sondern mit öffentlich-rechtlichen Gebühren statt. Man studiere eine beliebige TV‑Woche ab 11:00 Uhr morgens und rechne hoch: Allein bei den Senderfamilien von ARD und ZDF hat man es im Schnitt mit mindestens 40 Krimis zu tun.
Das heißt: pro Woche 40 Morde, 40 ermittelnde Kommissare, 40 Verhöre. Von mittags bis abends weisen Teaser und Trailer auf Tote, Blut und eine Gewalttat hin: Schlaglichter der Verwüstung, des Vergiftens, des Hinrichtens, des Erschießens. Das öffentlich-rechtliche deutsche Fernsehen ist ein einziges Schlachtfeld.
Und dann schaltet man ein. In den ersten Kamera-Einstellungen: Blut auf einem Messer, Blut aus einem Einschussloch, Blut, das auf Hemden oder Hosen spritzt. Oder ein ratterndes Maschinengewehr. Zwei Vermummte auf Motorrädern, Schüsse durch die Frontscheibe eines Kleinlasters. Eine Explosion. Ein Schrei.
Verlässlich hören wir Verbal-Ikonen, die berechenbarer Bestandteil eines einzigen, ewig wiederholten Krimi-Dialogs sein könnten: "Guten Tag, Kripo XY, das ist mein Kollege Z. Wir hätten da noch ein paar Fragen." - "Ich habe bereits alles gesagt." - "Wo waren Sie gestern Abend zwischen 21:00 und 23:00 Uhr?" - "Zuhause." - "Kann das jemand bezeugen?" - "Verdächtigen Sie etwa mich?" - "Ich stelle hier die Fragen."
Der Tatort wird in mittlerweile 16 Städten zelebriert
Die Präsentation von Mord und Totschlag hat in den Redaktionen unerhörte Kreativität freigesetzt. Die öffentlich-rechtlichen Sender - unterwegs mit Bildungs- und Unterhaltungsauftrag zur Grundversorgung der Republik - bieten immer mehr Blut - und für Titel von neuen Krimis aus der Heimatprovinz neuerdings sogar heitere Reime an: Morden im Norden in der ARD; Nord Nord Mord im ZDF.
In mittlerweile 16 Städten zelebriert das Erste den Tatort, inklusive jahrelanger Wiederholungen alter Folgen in ausrangierten Revieren. Und im Zweiten - mit dem man bekanntlich besser sieht - setzt das Morden und Sterben werktags bereits ab 11:00 Uhr mit den diversen Sonderkommissionen ein: SOKO Wien/Leipzig/Wismar/Köln/ Stuttgart/München/Kitzbühel.
Am Vorabend folgte und folgt wahlweise: Notruf Hafenkante, Nachtschicht, Kommissar Heldt, Kripo Holstein, Küstenwache, Ostsee-Cops, Garmisch-Cops, Mord mit Aussicht. Ab 20:15 Uhr: Der Alte, Die Chefin, Der Kriminalist, Der Staatsanwalt, Wilsberg, Ein Fall für Zwei, Ein starkes Team, Der Kommissar und das Meer. Früher: Derrick, Siska, Stolberg und Der Ermittler.
Samstags die Kommissarinnen Lucas und Heller. Früher: Bella Block, Rosa Roth, Das Duo. Und die Kommissare außer Dienst Stubbe, Sperling, Lutter, Beck. Jetzt dafür die Inspectoren Banks, Lynley und Mathias: Mord in Wales. Und die 100. Folge von Inspector Barnaby Ende Juli wird vom ZDF wie folgt angekündigt: "Die schönsten Morde aus 100 Folgen."
Kaltblütiger oder mysteriöser Mord, Serien-, Frauen- oder Ritualmörder
Die Privatsender flankieren dann all die schönen Morde mit synchronisierten Übernahmen aus den USA: CSI Vegas, CSI New York, CSI Miami, Navy CSI, Criminal Intent; Einsatz in Washington, Bones - die Knochenjägerin, Law & Order New York. Worum geht es? Um Mord. Kaltblütigen Mord. Mysteriösen Mord. Um Serienmörder, Frauenmörder, Ritualmörder.
Womöglich mag es neben dem günstigen Verhältnis von Produktionskosten, Quotenerfolg und Wiederholbarkeit auch am philosophisch überhöhten Gefühl der Erhabenheit angesichts einer Tragödie liegen - diesem von Immanuel Kant ästhetisch verstandenen Gefühlszustand, der tröstend und entlastend zugleich ist: Der vernunftbegabte Fernsehzuschauer erschaudert bei der finalen Katastrophe des Todes, weiß sich aber zugleich in den eigenen vier Wänden geschützt vor allem Unbill und vor der eigenen Ohnmacht.
Die Entwicklung des televisionären Blutrausches entspricht dem Geist einer 500 Seiten starken Anthologie der seinerzeit besten Kriminalgeschichten, die der Diogenes Verlag im Jahr 1967 wie folgt betitelte: Morde. Mehr Morde. Noch mehr Morde.
Der Krimi als Narrativ der Selbstvernichtung des Menschen
Ohne Zweifel: Krimis können gut gemachte Unterhaltung sein. Sie mögen gesellschaftskritischen Anspruch haben und relevante moralische Fragen verhandeln. Sie mögen sich Schuld und Sühne, Korruption, Menschenschmuggel und Waffenhandel widmen und am folgenden Tag zum gemeinschaftsstiftenden Teeküchen-Thema in den Büros der Republik werden. Immer aber liegt ihr Hauptaugenmerk auf der Auslöschung von Leben.
Der Krimi als Garant für Emotion und Entertainment, scheint es, hat die Aufgabe der großen Erzählung in der späten Moderne eingenommen - nicht als Narrativ der Aufklärung, sondern als beständige Koketterie mit dem Höllenbreughelmäßigen - ja als Narrativ der Selbstvernichtung des Menschen.
So entsteht ein apokalyptisch umflorter Zeitgeist, der als Geist der Zeit schließlich zur Mode wird und in den Mainstream einsickert. Es sind dies die Algorithmen des medialen Massen‑Entertainments durch Tragik und Drama mit dem Ziel der Zuschauer- und Leserbindung: Seht, immer naht das Ende der Welt! Und immerzu naht der Tod …
An einem willkürlich gewählten Samstag im August zum Beispiel. Zwischen 20:15 Uhr und 22:00 Uhr laufen parallel: Mord à la carte auf Vox. Halloween - die Nacht des Grauens auf Kabel 1. Mord und Margaritas auf ZDFneo. In Satans Auftrag - satanische Rituale und brutale Morde auf ZDFinfo. Bella Block auf ZDF. Hotel des Todes auf ZDFinfo; Inspector Gamache - Unfall oder Mord auf ZDFneo.
437 Krimis pro Jahr im ZDF
Das ZDF, das nach eigener Aussage die, Zitat, "Vielfalt fiktionaler Genres als eine seiner Kernaufgaben" betrachtet, zeigte im Jahr 2015 an 365 Tagen insgesamt 437 Krimis. An 137 Abenden des Jahres bekam das Mord‑Programm die begehrte Primetime, 20:15 Uhr.
Im Jahr 2014 konnte man in der ARD-Reihe Tatort insgesamt 150 Leichen in 36 Neuproduktionen verzeichnen, darunter die leichenreichste Folge aller Zeiten: "Im Schmerz geboren", mit mehr als 50 Toten. Dazu kam die Rekordquote von 13,2 Millionen Zuschauern des Tatorts Münster mit dem Titel: "Mord ist die beste Medizin".
2015 gab es in dann 40 ausgestrahlten Neu-Tatorten und Polizeirufen 111 Leichen; 84 davon waren männlich, 27 weiblich. Die schnellste Leiche kam nach 59 Sekunden. Die häufigste Todesursache war in 52 Fällen: erschossen. Elf Mal wurde ein Mensch erschlagen. Elf Mal ist jemand zu Tode gestürzt. Sechs Mal wurde jemand erwürgt, zwei Opfer wurden ertränkt, eines starb an den Folgen einer Verätzung.
Und der leichenreichste Tatort des Jahres mit insgesamt neun Toten lief ausgerechnet an Ostern. An jenem Fest also, an dem die Gläubigen daran erinnern, dass Jesus gekreuzigt wurde, ruhte und wiederauferstand, dem wichtigsten Ereignis des friedliebenden Christentums. In der christlichen Theologie ist Jesu’ Tod geradezu Bestandteil des neuen Weges, der zur Erlösung führt; die christlich-abendländische Kultur kommt ohne den Tod so wenig aus wie die Fernsehkultur ohne Mord.
Der Kriminalkommissar: die prägende Gestalt spätmoderner Fernsehkultur
Ostern 2016 wiederum darf sich als Hochamt der fiktionalisierten Fließbandtötungen feiern. Sonntag, 28. März, ARD, Tatort Freiburg, viertel nach Acht: "Fünf Minuten Himmel". Ein Mitarbeiter des Jobcenters wird tot an seinem Schreibtisch aufgefunden, erdrosselt mit einem Kabelbinder. Danach, 21:45 Uhr: Sherlock: "Die Braut des Grauens". Emilia Ricoletti hat sich öffentlich selbst erschossen, doch bereits kurz darauf erscheint sie ihrem Ehemann und erschießt ihn.
Um 23:30 Uhr: Mankells Wallander. Der Fund einer zerstückelten Frauenleiche lässt Wallander keine Ruhe. Danach wird der Tatort wiederholt. Kanalwechsel zum ZDF, 21:50 Uhr: Mord im Mittsommer: "Im Eifer des Gefechts". Eine Gruppe Jugendlicher fährt mit dem Boot auf die Insel Sandhamm. Doch als die Mittsommernacht endet, ist Victor, einer der Jugendlichen, tot.
Danach, 23:45 Uhr: Arne Dahl: Tiefer Schmerz. Eine komplexe Mordserie hält die Stockholmer Sonderermittler Kerstin Holm und Paul Hjelm in Atem. Dann geschieht auf dem jüdischen Friedhof ein kühler, berechnender Mord an einem renommierten schwedischen Hirnforscher. Nachts um 02:45 Uhr: Mr. Ripley und die Kunst des Tötens. Amerikanischer Thriller. Sechs Stunden zuvor auf Arte, 20:15 Uhr: Cocktail für eine Leiche. Die Studenten Brandon und Philip ermorden einen Freund, um mit dem perfekten Mord ihre geistige Überlegenheit zu beweisen.
Auch die Kommissarisierung des deutschen Fernsehens schreitet in verstörendem Maße voran. Nahezu jede Facette polizeilicher Ermittlungsarbeit wird mit fiktionalen Formaten abgebildet, auserzählt und serien-inszeniert: Dauerdienst, Nachtschicht, Sonderkommando. Keine Berufsgruppe ist im deutschen Fernsehen primetime‑prominenter und häufiger vertreten als die des Ermittlers.
Der Kriminalkommissar ist die prägende Gestalt der spätmodernen Fernsehkultur: Wir sehen ähnliche Büros, ähnliche Tagesabläufe, ähnliche Persönlichkeitsprobleme: Kommissars-Vereinsamung, Kommissars-Beziehungsunfähigkeit, Kommissars‑Traurigkeit. Und wir beobachten die immer gleichen Konflikte mit Staatsanwälten, Polizeipräsidenten und der Presse, sodass die Frage legitim zu sein scheint, ob der intellektuelle Anspruch, der dem Zuschauer heute zugetraut wird, darin besteht, wöchentlich 40 Kommissare in ihrer immer gleichen Ermittlungsarbeit phänotypisch auseinanderhalten zu können.
Nachrichten: 24 Stunden umfassende Todesversorgung
In den 80er- und 90er-Jahren war die prägende Fernsehgestalt im deutschen Fernsehen der Arzt, als Klinik-, Krankenhaus- und Tierdoktor, woran abzulesen ist, dass es zwar eine Verlagerung gegeben hat, aber immer noch das gleiche Thema bespielt wird: die Verhandlung der letzten Dinge, die klägliche Endlichkeit des Daseins. Der Arzt rettet Mensch und Tier. Der Krimi im Blutrausch hingegen braucht: Leichen, Leichen, Leichen.
"Können Sie schon was über den Todeszeitpunkt sagen?" - "Genaueres bringt erst die Obduktion." - "Gut, aber so ungefähr." - "Es ist jetzt zwischen neun und elf Stunden her." - "Ich erwarte Ihren Bericht morgen früh."
Wenn die Beobachtung stimmt, dass sich "Realität" weitgehend medial vermittelt, dann ist der Tod auch in seiner nicht-fiktionalen Variante dauerpräsent. Die täglichen Nachrichtensendungen sind tägliche Todesanzeigen: ein 24-Stunden-Service umfassender Todesversorgung. Man könnte hunderte Nachrichtensendungen zitieren und in hunderten Nachrichtensendungen aller Arten Beispiele für die Todessehnsucht im Mediensystem finden.
Zweifelsohne: Auf der Welt wird täglich real gestorben, getötet und gemordet, in einander unvereinbaren je eigenen kulturellen Kontexten und mit verschiedenen politischen oder religiösen Überzeugungen. Vielleicht ist es die Pflicht medialer Aufklärungsinstanzen, das mannigfaltige Sterben der Welt immerzu dann und dort anzuzeigen, wenn und wo es geschieht - was man "Chronistenpflicht" nennt und sich als Rechtfertigung zur Abbildung des Bösen auf die Realität des Bösen beruft.
Der Tod wird vermeldet, wo immer er auftritt
Wo immer der Tod auftritt, wird er vermeldet: Enthauptung in Syrien, Unfall in Mexiko, Grubenunglück in China, Hausbrand in Portugal. Und kürzlich lautete eine Spitzenmeldung auf Spiegel Online: "Viele Tote bei Absturz von Heißluftballon in Texas." Was nur soll diese Nachricht dem deutschen Leser sagen?
Vielleicht ist der Mensch an sich böse und das Leben eine Qual, was an anderer Stelle zu klären wäre. Schlecht widerlegbar aber ist die Beobachtung, dass die Massenmedien die Aufgabe übernommen haben, die Metaphern des fiktiven wie realen Todes durch den öffentlichen Raum zu schleudern und Leid, Schicksal, Scheitern, Schmerz und Sterben zu einer allzeit relevanten Nachricht zu erklären.
Das Prinzip des Katastrophischen ist fester Bestandteil der hochtechnisierten Medienkultur. Zum einen lässt sich bildlich‑sinnlich nichts aufsehenerregender vermitteln als eine über den Menschen hereinbrechende Naturkatastrophe. Zum anderen ist "Mord" die Chiffre für das Böse und den Exzess schlechthin. In der Todeskultur verschmilzt das Bedürfnis nach dem Superlativ des Exzesses mit dem Bedürfnis nach dem Katastrophischen.
Also werden permanent selbst fernste Todesdramen ins Wohnzimmer geholt, Hauptsache, sie erfüllen die Voraussetzungen des exzessiv Katastrophischen: Seilbahnrisse, Erdbeben, Hurrikans, Taifune, Lawinen, Amokläufe, Flugzeugabstürze, Waldbrände, Vergewaltigungen, Raubüberfälle.
Ängste vor der eigenen Sterblichkeit werden ausgeschlachtet
Die täglichen Tode werden von Moderatoren gern mit mimisch höchster Betroffenheit angekündigt. Hallo Deutschland im ZDF zum Beispiel eröffnet seine Spätnachmittagssendung um 17:10 Uhr unter dem Motto "Bewegende Geschichten, emotionale Augenblicke" regelmäßig mit Leichenfunden, Kindstötungen und so gut wie immer mit den tödlichen Autounfällen des vergangenen Tages.
Im bewegenden Reporter-Präsens wird kurz in das Drama eingeführt, um dann freilich festzustellen, dass es für den Protagonisten negativ ausgegangen ist: "Um fünf Uhr nachmittags schneiden die Feuerwehrleute den Körper des Mädchens aus dem Wrack ihres Autos. Die Ärzte können nichts mehr machen."
Dass der Tod, das Sterben, das Böse und die Vernichtung im Gespräch gehalten werden, ist letztlich auch ökonomischer Rationalität geschuldet: Kaum etwas lässt sich im Wettbewerb um Auflagen, Quoten und also Renditen und Arbeitsplatzsicherung besser stimulieren und ausschlachten als die Ängste des Individuums vor der eigenen Sterblichkeit, die kollektiv gebündelt einen höchst attraktiven Markt ergeben.
Hochsommer 2016. Die Meldungen von Amok, Terror und Tod überschlagen sich im Wochen-, gar Tagestakt: In Orlando erschießt ein Amokläufer 50 Menschen. In Nizza überfährt ein Attentäter 84 Mitbürger und Touristen. Bei Würzburg attackiert ein 18-jähriger Zugreisende mit Messer und Axt und wird von der Polizei erschossen.
Die Realität schreibt die dramatischsten Todesgeschichten
In Kabul sprengt ein Attentäter 22 Menschen in die Luft. In München erschießt ein 18-Jähriger neun Menschen in einem Einkaufszentrum. Bei einem Selbstmordanschlag nordöstlich der irakischen Hauptstadt Bagdad sterben 14 Menschen. In einem Behindertenheim nahe Tokio sterben 19 Menschen durch die Messerattacke eines Verwirrten.
Brennpunkte, Sondersendungen, Live-Ticker, Vor-Ort-Schalten, Talkshows, Experten-Runden auf dem überhitzten Nachrichten-Fließband in der Dauerschleife. Morde; mehr Morde; noch mehr Morde: Reale Menschen wurden real getötet, sind real gestorben. Natürlich schreibt die Realität die dramatischsten Todesgeschichten - und das nicht, weil ihr der Flor mehr oder weniger geistreicher Drehbücher umhinge.
Der amerikanische Sozialpsychologe Sheldon Salomon führte in den vergangenen drei Jahrzehnten über 500 Studien durch, um den Einfluss von Todesfurcht und Mortalität auf das Leben der Menschen zu untersuchen. Kultur, lautet seine Erkenntnis, ist das sorgfältig konstruierte Glaubenssystem symbolischer Bedeutungen, das den Tod verneint und von der Hoffnung auf Unsterblichkeit ausgeht:
"Kultur gibt jedem von uns die Sicherheit, dass das Leben eine Bedeutung hat und dass wir selbst Wert haben, indem sie uns ständig unserer Unsterblichkeit versichert."
Inflation der Morde führt zur Enthemmung ihrer Darstellung
Die fernsehkulturelle Entdämonisierung der finalen Katastrophe des Tötens kommt letztlich einer Banalisierung des Todes gleich. Je öfter auf dem Bildschirm gemordet wird, könnte man mutmaßen, desto eher wäre man bereit, Sterben und Tod in manischer Ungerührtheit als Unterhaltungsprodukt und nicht als Exzess der Existenz zu verstehen. Aber stimmt das? Oder überschätzt man mit dieser Annahme die Macht der Bilder? Die zentrale Frage bleibt bisweilen unbeantwortet: Befriedigen oder kreieren die Medien das Bedürfnis ihrer Konsumenten nach Mord?
Munter weiter wird auf den Medienseiten deutscher Qualitätsfeuilletons ein neues ARD-Format angekündigt: Der erste Tel-Aviv-Krimi: "Tod in Berlin". Die jüdische Kommissarin Sara Stein ermittelt: Beziehungstat oder Mord mit politischem Hintergrund?
TV-Ermittler ermitteln jetzt also nicht nur in Freiburg, Konstanz, Stuttgart, München, Saarbrücken, Rosenheim, Garmisch, Luzern, Wien, Regensburg, Nürnberg, Frankfurt, Wiesbaden, Saarbrücken, Köln, Ludwigshafen, Dortmund, Münster, Erfurt, Weimar, Magdeburg, Dresden, Leipzig, Berlin, Lübeck, Bremen, Hamburg, Hannover, Greifswald, Kiel. Sondern auch in Tel Aviv, Istanbul, Bozen und Athen.
Um die immer höhere Aufmerksamkeitsschwelle zu überschreiten, braucht die Fernsehkultur als Todeskultur immer niedrigere Hemmschwellen. Die Inflation der Krimis - die eine Inflation der Morde bei gleichbleibenden Motiven und Tötungstechniken ist - korrespondiert mit der zunehmenden Enthemmung ihrer Darstellung, die peu à peu an die Bilder der Brutalität des realen Terrors heranreicht.
Inszenierte Sichtbarkeit des Todes als moralische Grenzüberschreitung
Die inszenierte Sichtbarkeit von Sterben und Tod stellt, moralisch betrachtet, eine Grenzüberschreitung dar. Die immer drastischeren Formen von Erniedrigung und Quälerei geraten durch ihre audiovisuelle Dauervermittlung zum Normalfall. In den erfolgreichen amerikanischer "Agenten-Attentäter-Terror-Serien" zum Beispiel - beginnend 2001 mit "24" um den Bundesagenten Jack Bauer und gipfelnd 2012 in der Politthriller-TV-Soap "Scandal" - wird regelmäßig und beinahe selbstverständlich gefoltert.
Die fiktive Verhandlung der Folter als Bestandteil politischer Alltagsarbeit wird durch permanente Präsenz zur unhinterfragten Plausibilität. Mit Quentin Tarantino und seinen lustigen Totschießereien im durchaus genialischen Film "Pulp Fiction" wurde 1994 der Ton des popkulturellen Zynismus hoffähig, als Morden und Töten slapstickartig zelebriert wurden. Je skurriler und sympathischer uns die Charaktere sind, umso legitimer scheint ihr enttabuisiertes Vorgehen.
Ein faszinierendes Phänomen tritt zutage: Wenn wir über alle Nachrichtensendungen morgens, mittags, abends und nachts hinweg täglich mit Mord, Sterben und Tod umgeben sind, mit Anschlägen, Abstürzen und Explosionen - warum wollen wir dann trotzdem Krimis lesen, Krimis sehen, Krimis hören, und zwar immer mehr?
Ist neben Fußball nur noch crime in der Lage, den offenbar durch Verbrechen und Mord sedierten Konsumenten in seiner ganzen Gleichgültigkeit und Müdigkeit, in seiner Abgeklärt- und Abgekämpftheit ansprechen zu können?
Das Sterben beherrschbar machen
So etwa am 6. März 2016: ProSieben, 22:25 Uhr, ein Trailer mit raunender Männerstimme kurz nach Ende des ARD-Tatorts Dresden, in dem immerhin vier Menschen zu Tode kamen: "Predators - sie sind zum Töten geboren."
Während im ZDF ab 22:00 Uhr: "Die Brücke III - Transit in den Tod" ausgestrahlt wird: Die Johannsons sitzen tot vor ihrem Weihnachtsbaum. Dem Mann fehlt das Gehirn, der Frau steckt ein Apfel im Gebiss. Beide haben wie die anderen Mordopfer Brandmale im Mund. In der Tanne hängen die Augen des toten Håkan Ekdal.
Die Epoche der Leistungsgesellschaft leistet sich einen bemerkenswerten Widerspruch: Sie feiert das Leben als Optimierungs-Projekt und verfällt dennoch einer allseits sichtbaren Todeskultur. Im Fahrwasser des ökonomischen Sogs durch Funktionstüchtigkeit, Fitness und Flexibilität sind Sterben und Tod die größten narzisstischen Kränkungen des Menschen.
Der Tod wird fast besessen vermieden und verdrängt, bei gleichzeitig hysterischer Erregung hinsichtlich jeder Verletzung, gar Fremdberührung des eigenen Körpers. Alles ist darauf ausgerichtet, das Sterben beherrschbar zu machen. Für jeden denkbaren Defekt gibt es eine Pille, für jeden Schmerz eine Spritze, für jede Ungesundheit eine Therapieform.
Das innere Pflichtgefühl zur totalen Gesundheit führt bisweilen zu Präventionswahn und dem Zwang zur körperlichen Vervollkommnung, um im Verwertungsprozess des Berufslebens eine möglichst perfekte Performance liefern zu können.
Intensive Darstellung von Gewalt bewirkt ein Abstumpfen
Sinkt durch die permanent zu sehenden Morde auch im öffentlich-rechtlichen Programm - das laut Auftrag "die demokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Gesellschaft" zu erfüllen verpflichtet ist - die Hemmschwelle für Gewalt?
Oder ist es genau umgekehrt: Baut der Krimi-Konsument wachsende Aggression, steigenden Stress und latente Gewaltfantasien vor dem Fernseher ab und domestiziert sich selbst erst zu einem gesellschaftsfähigem Subjekt, wodurch eine Inflation der Krimis gerechtfertigt wäre?
Offenbar aber überfordern und bedrängen all die Negativschleifen katastrophaler Nachrichten, all die Bilder von Getöteten, Enthaupteten, Gehenkten, Verletzten und Blutenden in den Nachrichtensendungen den Zuschauer. Vergangenes Jahr führte das Meinungsforschungsinstitut Forsa eine Studie über Bilder und Videos mit schockierenden Inhalten durch. Das Ergebnis:
68 Prozent der Befragten - vornehmlich Frauen und Bürger mit formal höherem Bildungsabschluss - seien über die Zunahme der Schockbilder beunruhigt, gar in Sorge. Sie wünschten sich, dass Redaktionen bewusst darauf verzichten. Obwohl es selbst in Kreisen der Experten eine umstrittene Frage ist, ob die Abbildung von Gewalt reale Gewalt verhindert oder gerade erzeugt, sind vom Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen klare Worte zu hören.
Dessen Vorsitzender Michael Krämer sagte kürzlich, die intensive Darstellung von Gewalt bewirke ein Abstumpfen gegenüber Gewalt - bei denen, die Gewalt ausüben, aber auch bei denen, die Gewaltdarstellungen sehen. Die besondere ethische Verantwortung liege bei den Medien wie auch bei den politischen Akteuren.
Fernsehkommissare als Priester der Industriegesellschaft
Aus der Traumaforschung ist zu hören, dass Bilderschleifen von Mord, Totschlag und Terror auch jene traumatisieren, die das reale Ereignis gar nicht selbst erlebt haben. Und Studien der Kognitiven Psychologie legen nahe, dass fehlerhafte Einschätzungen von Risiken im realen Leben von Umfang und Art der medialen Berichterstattung über Angst und Mord abhängen, ohne dass der Konsument sich dieses Einflusses überhaupt bewusst ist.
Betrachten wir die Todeskultur für einen Moment nicht medienethisch, sondern medienmetaphysisch: Im TV-Krimi wird stellvertretend die Frage nach der Schuld verhandelt. Der Krimi, so hat es Martin Thau, Drehbuchautor und Studienleiter der Drehbuchwerkstatt München einmal ausgedrückt, sei der Mythos der modernen Gesellschaft und liefere die Erklärungen dafür, was die Gesellschaft eigentlich zusammenhalte. So wie man früher jeden Sonntag zur Messe in die Kirche gegangen sei, sehe man heute als Sinnstiftungsinstrument jeden Sonntag den Tatort, dessen Kommissare die Priester der Industriegesellschaft seien.
War dem Philosophen und Bewusstseinsgroßmeister Hegel zufolge die Zeitungslektüre das Morgengebet der bürgerlichen Gesellschaft, so ist der Krimi die Messe der säkularisierten Leistungsgesellschaft. Und am Ende eines Fernsehtages, wenn alle Morde aufgeklärt sind - denn das werden sie fast immer -, stellt sich Genugtuung ein. Und womöglich innere Reinheit zur Bettruhe.
Wir ergötzen uns an stellvertretender Schuld
Es könnte also ein psychohygienischer Auftrag im Krimi liegen, die Simulation einer Opferung, bei der der Zuschauer zwar dabei, aber nur passiver Zeuge ist. Er ist hofierter Voyeur, und sein durch die Gebühr erkaufter Voyeurismus erhält in der Erlösung vom Bösen letztlich die moralische Absolution. "Die Mythologie des Opfers ist die Reaktion auf eine Praxis, die konstitutiv als schuldhaft erlebt wird", notiert der italienische Literaturwissenschaftler Daniele Giglioli in seinem Essay "Die Opferfalle".
In Tagen der Zerstörung, des Mordes, der Folter, der zahllosen Kriege, des Kreislaufs aus Gewalt, Rache und Gegengewalt ergötzen wir uns an stellvertretender Schuld, an stellvertretender Auf- und Erklärung von Schuld, um uns selbst aus dem Schuld-Zusammenhang nehmen zu können. Ist es das, was uns die Fernseh-Todeskultur eingangs des 21. Jahrhunderts ermöglichen will?
Wenn dem so sein sollte, hätten wir es - um es klar zu sagen - mit quasi‑theologischen Heilsmotiven in boulevardisierter Form zu tun. Boulevard ist, was sich von selbst versteht - die medial-säkularisierte Apokalypse darf den Erlösungswilligen ja keinesfalls überfordern.
"Der Schuss kam aus nächster Nähe." - "Was ist nah?" - "So drei Meter." - "Dann kann er also nicht vom Zaun aus geschossen haben, das sind zehn Meter."
Amen.