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Über Reduktion und Muße
Der zeichnerische Weg des Illustrators Jörg Mühle

Der Illustrator Jörg Mühle ist bekannt durch seine Tier-Kinderbuchfiguren. Zum Durchbruch auf dem deutschen Markt führte das Kinderbuch "An der Arche um Acht". Er erzählt über seine Prägungen durch Tomi Ungerer und Marc Boutavant, über die Kunst der Reduktion und vom Glück der Muße.

Jörg Mühle im Gespräch mit Ute Wegmann |
    Werkauswahl des Illustrators Jörg Mühle
    Eine Auswahl der Bücher von Jörg Mühle (Ute Wegmann)
    "Ich frag mich selbst, woher die Vorliebe kommt"
    Ute Wegmann: Seine Tiere heißen Bär, Hasenkind, Giraffe oder Pinguin. Er malt Bilder für eigene oder fremde Kindergeschichten. Er arbeitet mit anderen Künstlern in einer Gemeinschaft und zusammen machen sie auch Bücher, die heißen dann KinderKünstlerBücher, zum Beispiel mit gesammelten Erlebnissen oder vom Bauen und Wohnen. Und zuletzt ein tolles Buch über uns, die Menschen, mit dem Titel "Ich so du so". Mit diesem Buch und einem weiteren - "Viele Grüße, deine Giraffe" – ist der Künstler im Jahr 2018 gleich zweimal für den DJLP nominiert. Ich begrüße heute im Studio Jörg Mühle aus Frankfurt am Main und gratuliere zur Doppelnominierung.
    Wie das alles anfing, mit dem Zeichnen und Malen. Studiert haben Sie an der Hochschule in Offenbach, später in Paris. Was haben Sie in Paris gelernt, was Ihnen Offenbach nicht hätte bieten können?
    Jörg Mühle: Vielen Dank, erst einmal, dass ich hier sein darf. Genieße das. Meine Schule in Offenbach hat durchaus einen guten Ruf, war aber im zeichnerischen Bereich nicht besonders gut besetzt. Es gab zwar einen Illustrationskurs, aber im Prinzip spielte die Illustration dort keine große Rolle und Kinderbuch schon gar nicht. Und ich habe als Schwerpunkt Grafik Design gehabt und kurz vor meinem Diplom hab ich gemerkt, dass mich das gar nicht interessiert. Und dann dachte ich, ich muss noch mal weg und so kam ich nach Paris. Das war ein extrem glücklicher Umstand, der auch sehr prägend war, weil ich zu dem Zeitpunkt schon alle Scheine hatte und in Paris das machen konnte, was mich interessiert und das war das Illustrieren. So konnte ich in alle Klassen gehen, hab die Typographie außen vorgelassen und hab gelernt, dass ich illustrieren möchte. Hab ein Jahr lang gezeichnet und kam zurück nach Offenbach mit dem Entschluss, Illustrator zu werden.
    Wegmann: Und war das von Anfang klar, dass Sie Kinderbücher machen wollten?
    Mühle: Ja, das war von Anfang klar. Und ich frage mich selbst oft, woher die Vorliebe kommt, was mich dazu treibt, den ganzen Tag Kätzchen, Hexen, Bären und Häschen zu zeichnen. Rational kann ich das auch nicht begründen. Das macht mir einfach Spaß.
    Wegmann: Gibt es ein Kinderbuch aus der eigenen Kindheit, das die Triebfeder sein könnte?
    Mühle: Tomi Ungerer hat mich extrem geprägt. Da gab es den Zauberlehrling, den fand ich großartig. Ich hatte als Kind eine Diogenes Paperback-Ausgabe, daran erinnere ich mich, da gab es auf der letzten Seite einen empörten Leserbrief, der musste aus Amerika kommen, von einer Frau, die alle Szenen aufzählte, die Kindern nicht zugemutet werden können. Den Brief hab ich immer wieder gelesen und hab dann auf den entsprechenden Seiten die angekreideten Szenen gesucht, ich weiß nicht, ob man manche raus retouchiert hat, manche hab ich nie gefunden, die hab ich mir dann im Kopf ausgemalt – das fand ich das Tollste an dem Buch, diese Randbereiche des "Zumutbaren". Verrückterweise mache ich so etwas überhaupt nicht, aber das fand ich toll. Und wer mich auch sehr beeindruckt hat, war Ali Mitgutsch. Da hab ich schon früh begriffen, dass der ganz besonders ist beim zeichnen technischer Geräte. Ich hab das Gefühl, es gibt Zeichner, die können gut Menschen zeichnen, andere können gut Bagger: Ali Mitgutsch kann beides. Das fand ich sehr eindrucksvoll.
    Wegmann: Das waren die Prägungen der Kindheit. Und wer war wichtig während der Studentenzeit?
    Mühle: Da war tatsächlich der Parisaufenthalt augenöffnend. Ich hab in der Jugend schon viele Comics aus dem Franko-Belgischen gelesen, aber als ich nach Paris ging, hatte ich das Gefühl, fand da auch ein Umbruch statt mit anderen Erzählern und neuen Erzählformen, Graphic Novels wurden da in den späten 90er Jahren mitgeboren. Wer mich sehr sehr sehr beeinflusst hat, ist Marc Boutavant, fand ich sensationell, wie der zeichnet.
    Wegmann: Im Jahr 2007 – Sie waren da 34 Jahre alt – erschien im damaligen Patmos Verlag ein großartiges Buch, von Ihnen bebildert, das einen immensen Erfolg hatte: "An der Arche um Acht" von Ulrich Hub, ein Mann, der vom Theater kommt, ein Mann, der Dialoge schreiben kann und etwas von Dramaturgie versteht und dessen Kindergeschichte eine philosophische, amüsante Erzählung über die Sintflut und Noahs Idee, nur Tierpaare mitzunehmen, und wie sich in der schwierigen Situation wahre Freundschaft zeigt. Kann man sagen, dass das der Durchbruch für Sie war?
    Mühle: Es war auf jeden Fall ein sehr wichtiges Buch. Ich habe nach dem Diplom fünfzehn Jahre lang fast nur fremde Texte illustriert und habe viel ausprobiert, Sachbücher, vieles für Kinder im Grundschulalter. Als ich den Text von "An der Arche um Acht" bekam, hatte ich zum ersten Mal einen Text habe, der mir was bedeutet. Das hört sich jetzt vielleicht merkwürdig an, aber illustrieren ist ja auch einfach ein Beruf. Und das war auf einmal etwas ganz Besonderes, dass ich ein Buch hatte, das ich toll fand.
    Wegmann: Also so wie ein Kinderbuch sein sollte: Eine zweite Ebene haben auch für den Erwachsenen?
    Mühle: Ganz genau. Es hat mir Spaß gemacht, aber es war damit auch ein Druck verbunden. Ich wollte mich gerne damit zeigen. Und es war das erste Buch, das wirklich wahrgenommen wurde in Deutschland. Und vielleicht auch etwas verändert hat, kann ich nicht beurteilen.
    Alptraum für Illustratoren
    Wegmann: Wenn ich mich in der Illustrationsszene umschaue, dann glaube ich, festzustellen, das jeder Illustrator ein Lieblingstier hat: Axel Schefflers Eichhörnchen, Rotraut Susanne Berners Katzen, Philip Waechters Schafe, Torben Kuhlmanns Mäuse und Jörg Mühles Pinguine. Ist mit Hubs Buch die Leidenschaft für die Pinguine entbrannt, oder gab es die vorher schon?
    Mühle: Der Text hat Pinguine von mir gefordert. Wenn die Geschichte mit Häschen oder Katzen gewesen wäre, hätte ich das mit Häschen oder Katzen illustriert. Es ist der reine Zufall. Aber Pinguine kommen mir auch entgegen, weil es mir Spaß gemacht hat, den Pinguin auf seine Grundformen zu reduzieren: einfach ‚nen Knubbel und ‚nen Schnabel und zwei, drei schwarze Flecken und fertig ist der Pinguin. Gleichzeitig stellte der Text eine große Herausforderung dar, weil er auf einem Theaterstück basiert und nicht viel mehr passiert, als dass die Pinguine miteinander reden. Eigentlich ein Alptraum für Illustratoren, für mich grandios, weil ich nicht so super gerne Dekors zeichne und glaube, dass meine Stärke darin liegt, Figuren zu beleben. Und Bilder zu zeichnen, auf denen Pinguine miteinander reden, ohne dass das fünfte Bild so aussieht wie da erste.
    Wegmann: Auf die Pinguine kommen wir noch später zu sprechen. Ich habe vorhin von der Ateliergemeinschaft mit Kollegen gesprochen, damit ist die Frankfurter Labor Ateliergemeinschaft gemeint, mit Anke Kuhl, Philip Waechter, Moni Port uva. Waren Sie von Anfang an dabei?
    Mühle: Ich bin in der zweiten Welle reingekommen. Anke Kuhl, Philip Waechter, Moni Port haben das gegründet. Innerhalb des ersten Jahres hat sich dann die Gruppe gefunden, die jetzt seit 18 Jahren dort gemeinsam arbeitet.
    "Ein Thema und alle geben ihre Inhalte hinein."
    Wegmann: Sie geben zusammen die KinderKünstlerBücher heraus. Thematische Werke. Eins der letzten – "Ich so Du so" – ein großartiges Werk zum Thema: Wer bin ich? Wie sehen mich andere? Wie will ich sein? Was ist überhaupt normal? Wie entsteht ein solches Buch in der Zusammenarbeit?
    Mühle: Wir essen jeden Tag zusammen zu Mittag und da hat man viel Zeit zum Reden. Nachdem wir eine ganze Reihe der erfolgreichen Kritzelbücher gemacht haben, wollten wir mal was Anderes machen und waren auf der Suche nach Themen. So werden Themen in den Raum geworfen. Wir wussten, dass wir ein Sammelsurium machen wollten, weil das der Arbeitsweise der Gruppe entspricht: Ein Thema und alle geben ihre Inhalte da rein. Und irgendwann kamen wir auf das Thema der Normalität. Ein Thema, das eine gewisse Relevanz hat und wo jeder etwas zu sagen kann, wo jeder eine Haltung hat, Erfahrung hat.
    Wegmann: Bei einem Ihrer Beiträge geht es um die Hautfarbe (S.24). zwei Mädchen – hell- und dunkelhäutig malen, und eins sagt zum anderen: Gib mal die Hautfarbe! Solche feinen Kleinigkeiten. Oder Alles ich (S.34/35), da sieht man, was man alles verkörpern kann. Es gibt auch eine Seite mit Comicfiguren, Spielzeug, Einhörnern, und ein Bild haben Sie zu einem fremden Text gemacht. Kurzsichtig – jedes Mal sehen hier verschiedene Jörg Mühles. Vor allem bei dem fremden Text. Öffnet ein Fremdtext und verleitet schon mal eher zu einem anderen Strich?
    Mühle: Ja, das ist sicherlich so. Vor allem ist es hier ein sehr kurzer Text, der nach einer einzelnen Illustration verlangt hat, da kann man ganz anders arbeiten, als wenn ich ein Bilderbuch illustriere. Aber es war bei mir schon immer so, dass ich gerne verschiedene Techniken, verschiedene Stile ausprobiert habe und gerade am Anfang habe ich auch noch viel für Zeitschriften und Werbeagenturen gemacht. Ich hatte immer gerne die Mischung, auch für unterschiedliche Zielgruppen zu arbeiten. Das nimmt heute immer mehr ab, der Anteil der Kinderbücher nimmt zu. Aber es macht mir Spaß mich auszuprobieren, oder mich selber zu überraschen. Natürlich ist es auch immer wieder ein Thema, dass ich keinen klar identifizierbaren wiedererkennbaren Stil habe, und gleichzeitig denke ich: Dann ist es halt so!
    "... ich bleib mir treu, wenn ich was ausprobiere ..."
    Wegmann: Das wäre meine nächste Frage gewesen: Wie sehr glaubt man, sich treu bleiben zu müssen?
    Mühle: In meinem Fall ist es so, dass ich das Gefühl habe, ich bleib mir treu, wenn ich was ausprobiere, wenn ich versuche, die Lust am Zeichnen hoch zu halten. Ich habe mehr Angst mich zu langweilen, wenn ich mich festlege auf eine bestimmte Arbeitsweise. Und gleichzeitig hat es ehrlicherweise manchmal auch ökonomische Gründe, wenn ich das mache, wo ich am meisten Routine habe, das hat auch was Beglückendes.
    Der Moment der Magie
    Wegmann: "Nur noch kurz die Ohren kraulen" – der Titel eines Pappbilderbuches für die Kleinen mit großem Erfolg. Das liegt zum einen sicherlich an dem niedlichen Hasenkind, das wir beim Zubettgehen begleiten. Und das heißt, wir werden aufgefordert, etwas zu tun, z.B. dem Häschen auf die Schulter tippen, dann hat es sich auf der nächsten Doppelseite herumgedreht, oder in die Hände klatschen, dann hat es auf der nächsten Seite den Schlafanzug angezogen usw. Ein schönes Spiel der Interaktion zwischen Leser und Protagonist des Buches. Fern jeder Knopfdruck-Akustik-Technik, die immer mehr Einzug hält in den Bilderbuchbereich. Also fern jeder Digitalisierung. Ein Gegenentwurf?
    Mühle: Es ist sicherlich auch eine Parodie auf die Möglichkeiten, die man mit interaktiven Büchern hat. Aber zuerst ist es eine Spielerei. Die Idee zu dem Hasenbuch hatte ich schon lange in der Schublade liegen. Nur finde ich meine eigenen Ideen oft gar nicht so toll. Die vage Absicht, mal eigene Texte zu schreiben, die hab ich schon ewig mit mir rumgeschleppt, dann wurde meine Tochter geboren, dann fing sie plötzlich beim Vorlesen an, die traurigen Tiere in den Büchern zu trösten. Und da dachte ich, ich sollte die Idee mal aus der Schublade herausholen. Habe es bei ihr ausprobiert und gemerkt, dass es gut funktioniert. Und das war der Moment, wo ich die eigenen Zweifel überwinden wollte und konnte und einfach machen wollte. Der Moment der Magie, den Bilderbücher bei kleineren oder größeren Kindern haben, wenn eine Zeichnung belebbar ist. Und das ist auch der Punkt, der auch für Eltern besonders ist, dass die Kinder glauben, was da steht.
    Wegmann: Selbst ich hab dem Häschen auf die Schulter getippt. Das ist wunderbar, es funktioniert 100%. Der Verleger, den Sie gefunden haben, ist Markus Weber vom Moritz Verlag, der sich sehr freut, weil das Buch ungeheuer erfolgreich ist, schon Preise gewonnen hat.
    Heute zu Gast im Studio der Frankfurter Illustrator Jörg Mühle.
    Alle Angaben zu den Büchern finden Sie auf unserer Webseite deutschlandfunk.de.
    "Es gibt keine Rückgängig-Taste"
    Eins Ihrer letzten Bücher war auf der Deutschlandfunk-Bestenliste, den besten 7 "Zwei für mich, einer für dich". Es geht um zwei Freunde, Wiesel und Bär, die vor der schwierigen Aufgabe stehen, drei Pilze teilen zu müssen. Hier wird argumentiert, debattiert und schließlich freut sich ein Dritter, aber damit ist die Geschichte nicht zu Ende, denn es gibt noch drei Erdbeeren. Sehr klug. Sehr witzig. Die Gestaltung der Geschichte, die mit vielen amüsanten Details aufwartet, und überhaupt schön, dass man mitten im Wald in eine gut ausgestattete Küche eingeladen werden kann. Bei der Illustration war hier ihr bevorzugtes Material Buntstifte. Fordert jede Geschichte ihr eigenes Material?
    Mühle: Ich bin mir nicht sicher, ob das von der Geschichte gefordert war. Ich hätte sie vielleicht auch in der üblichen Technik machen können. Normalerweise mache ich die Zeichnungen mit der Hand, die Farben dann digital am Computer. Ich dachte, ich müsste mal was Neues ausprobieren, um die Spannung hochzuhalten. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich mir damit Stress gemacht habe oder ob es ein gelungenes Experiment war. Das wird die Zukunft zeigen, ob ich Bücher wieder rein analog mache: Also Zeichnung, bisschen reinaquarelliert, dann mit Buntstift drüber. Es war auch wirklich aufregend im körperlichen Sinne, weil ich ein paar Stunden an einem Bild gesessen habe und dann wusste, jetzt geh ich mit dem Stift drüber und wenn es misslingt, kann ich alles wegschmeißen. Es gibt keine Rückgängig-Taste. Dann hab ich tief Luft geholt, reingezeichnet, und das war großartig, aber auch mit Stress verbunden. Ich werde sehen, ob ich da weitermache oder wieder zu meinen Leisten zurückkehre.
    "Ich entscheide mich für die reduzierte Variante"
    Wegmann: Also bei dem Buch, über das wir gerade sprechen zwei für dich, einer für mich, empfinde ich die analoge Gestaltung, die Farbgestaltung mit den Buntstiften als unbedingt gelungen und nicht umsonst ist dieses Buch auf der Deutschland Bestenliste gelandet.
    Das zweite Buch, mit dem Sie auf der Nominierungsliste des DJLP stehen, ist ein Erst-Lesebuch von Megumi Iwasa, über Freundschaft und Langeweile: "Viele Grüße, deine Giraffe". Der Titel verrät es schon, es geht ums Briefeschreiben. Aus Langeweile eröffnet Pelikan in der Savanne eine Poststation, und aus Langeweile überlegt Giraffe, einen Brief an ein Tier hinter dem Horizont zu schreiben. So entsteht ein Briefwechsel zwischen Savanne und Südpol, und es werden kluge Beobachtungen thematisiert: Welche Farbe hat das Meer? Im Eimer sieht es ganz anders aus als das Meer selber. Was ist eigentlich ein Hals und wo ist der beim Pinguin? Letztendlich geht es um Neugierde auf die Welt und den anderen, das Fremde entdecken und akzeptieren, und um ein freudvolles Miteinander. Das Buch ist mit vielen heiteren Details im Bild ausgestattet.
    Jetzt im Herbst erscheint der Folgeband: "Viele Grüße vom Kap der Wale", hier stehen mehr Familie und Zusammenhalt im Mittelpunkt und eine Olympiade. Vor allem aber gibt es in beiden Büchern eine wichtige Figur, den Pinguin und seine Kumpels.
    Betrachte ich den Pinguin von 2007 und heute, so sind sich die Pinguine ziemlich treu geblieben, also klare Mühle-Pinguine. Allerdings war damals der Strich insgesamt etwas gröber und die Ausstattung der Hinter- und Untergründe hat sich verändert. Im Vergleich zu früher gibt es mehr Umgebung.
    Mühle: Na ja, das Buch sollte natürlich nicht aussehen wie die Arche. Trotzdem würde ich sagen, dass die Hintergründe auch hier sehr stark stilisiert sind: Es gibt viel Meer, Eisberge, große Savannenflächen. Bei vielen Entscheidungen, die ich fällen musste, habe ich mich für die reduzierteste Version entschieden. Manchmal werde ich gefragt, woher meine Ideen kommen. Bei Fremdtexten steht ja schon viel da: Giraffe futtert Blätter, der Himmel ist blau, weiße Wolken. Ich muss dann die Entscheidung treffen, wie die da sitzt und futtert und ich entscheide mich für die reduzierte Variante. Und freue mich dann immer, wenn keiner merkt, dass ich alles weggelassen habe.
    Wegmann: Dafür haben Sie sich auf die Figur konzentriert. Die Figur in ihren Eigenheiten ausarbeiten.
    Mühle: Das ist das, was mich interessiert. Gesichtsausdrücke, Stimmungen, das ein oder andere kleine Detail, um Stimmung zu erzeugen oder Irritationen zu schaffen. Für mich ist es eine gelungene Illustration, wenn der Betrachter diese Dinge einfach hinnimmt, akzeptiert, weil die Giraffe eben so lebt.
    Wegmann: Ebenfalls im Spätherbst erscheint ein neues Buch von Ulrich Hub, diesmal die Weihnachtsgeschichte, erzählt aus der Perspektive der Schafe, die sauer sind, dass sich die Hirten einfach vom Acker gemacht haben. Klingt vielversprechend. Titel: "Das letzte Schaf". Tiere haben ja immer Hochkonjunktur, im Bilderbuch gern Hasen und Bären, zur Zeit Wale und Schafe. Gibt es für eine solche Häufung eine Erklärung oder ist das Zufall?
    Mühle: Ich bin darüber froh, weil ich lieber Tiere als Menschen zeichne. Und wenn Menschen dann lieber Hexen, Ritter oder Zauberer als Kinder in der Schule. Aber das sind ganz persönliche Vorlieben. Ich kann nicht beurteilen, ob es Trends gibt. Aber Tiere haben den Vorteil, dass sie immer etwas Verallgemeinerndes haben: Die Giraffe ist weder klar Junge noch Mädchen. Das macht es einfacher.
    Wegmann: "Was liegt am Strand und redet undeutlich?" – so der Titel eines Buches, das Sie mit Moni Port gestaltet haben. Die Antwort auf die Frage: "Eine Nuschel". "Was ist süß, hoppelt über die Wiese und qualmt? Ein Kaminchen."
    Eine Frage links, ein Bild rechts. Schöner Nonsens. Ein veränderter Buchstabe im Wort führt zu Assoziationen und Bild. Was war zuerst: Wort oder Bild?
    Mühle: Klar das Wort. Das sind Witze, die Moni Ports Sohn mit nach Hause gebracht hat, vom Schulhof. Sie hat die gesammelt, eigene ausgedacht. Ich fand das super. Gleichzeitig stand die Frage im Raum, ob man Witzbücher machen kann, oder ob das doof ist. Und zum Glück gefiel es einer Verlegerin und zum ganz großen Glück gefällt es den Lesern. Es hat mir Spaß gemacht, die Bilder dafür zu suchen, weil neue Figuren gefragt waren. Es gibt zum Beispiel die Klomate, es war sehr beglückend eine Tomate zu beleben.
    Wegmann: Das Kaminchen ist ein über die Wiese hoppelndes Kaninchen, dem aus beiden Löffeln schwarzen Qualm steigt.
    Mühle: Was mich bei dem Buch überzeugt hat, dass das Bild eine eigenständige Funktion hat und hilft den Witz zu lösen. Durch das Bild wird es möglich, den teils cleveren Sprachwitz zu entschlüsseln. Und das hat mich überzeugt.
    "Es gibt nichts Schöneres als die Muße"
    Wegmann: In dem Erlebnissammelbuch von 2017 gibt es eine Doppelseite zum Thema "Langeweile ist Ansichtssache". Was bedeutet für Jörg Mühle Langeweile und wie wichtig ist sie für die Kreativität?
    Mühle: Langeweile ist schon negativ besetzt. Ich würde sagen: Muße, weil es positiv besetzt ist, das ist wichtig. Vielleicht ist auch Langeweile wichtig. Ich glaube, dass man diese Freiräume braucht, wo man den eigenen Gedanken nachhängen kann, um überhaupt eigenen Gedanken zu entwickeln. Trotzdem bin ich kein großer Freund der Langeweile, denn wenn man sie empfindet, ist sie doch oft quälend. Aber die Muße, es gibt nichts Schöneres als die Muße. Ich versuche immer, Muße in mein Leben einzubauen, aber leider lässt sich Muße auch nicht erzwingen.
    Wegmann: Mit Muße wenden Sie sich dem letzten Schaf zu in Ulrich Hubs neuer Geschichte. Herzlichen Dank, Jörg Mühle.
    Wir sprachen über eine Vielzahl von Büchern:
    Ulrich Hub: "An der Arche um Acht" Verlag Sauerländer, Frankfurt a.M. 63 Seiten
    Ulrich Hub: "Das letzte Schaf" Carlsen Verlag, Hamburg. 96 Seiten
    Megumi Iwasa: "Viele Grüße, Deine Giraffe" aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Moritz Verlag, Frankfurt a.M. 108 Seiten
    Megumi Iwasa: "Viele Grüße vom Kap der Wale" aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Moritz Verlag, Frankfurt a.M. 108 Seiten
    Moni Port: "Was liegt am Strand und redet und undeutlich?" Klett Kinderbuch, Leipzig. 48 Seiten
    Jörg Mühle: "Nur noch kurz die Ohren kraulen?" Moritz Verlag, Frankfurt a.M. 22 Seiten
    Jörg Mühle: "Zwei für mich, einer für dich" Moritz Verlag, Frankfurt a.M. 26 Seiten
    Labor Ateliergemeinschaft: "Voll gemütlich. Das KinderKünstlerBuch vom Wohnen und Bauen" Verlag Beltz & Gelberg, Weinheim. 256 Seiten
    Labor Ateliergemeinschaft: "Kinder Künstler Erlebnis Sammelbuch" Verlag Beltz & Gelberg, Weinheim. 112 Seiten
    Labor Ateliergemeinschaft: "Ich so Du so"
    Verlag Beltz & Gelberg, Weinheim. 176 Seiten