Die Kölner Synagoge, ein 120 Jahre alter Steinbau mit gewaltigem Rosettenfenster, spitzen Türmchen und goldenem Davidstern auf dem Dach, ist der Stolz vieler rheinischer Juden. Dennoch nimmt die Zahl der Besucher, die im Gotteshaus beten, jedes Jahr ab. Und zwar rapide: "Ich kann über die Statistik der Kölner Gemeinde sagen, dass es immer weniger Gemeindemitglieder sind", so Stella Shcherbatova. Sie leitet ein Begegnungszentrum der Synagogen-Gemeinde Köln. "2005 hatten wir fast 5.000 Gemeindemitglieder – heute sind es weniger als 4.000."
Die gebürtige Russin Shcherbatova klagt, es kämen immer weniger zu ihren Veranstaltungen – egal ob zum Sprachkurs, Tischtennistreffen oder zum Filmabend. Die Gemeinschaft sei einfach überaltert: "Weil die Gemeinde nicht so groß ist, kennen wir uns persönlich. Und wir bekommen als Gemeindemitglieder immer Newsletter über gestorbene Menschen – und da sehe ich sehr oft: Menschen gehen weg. Für immer."
Drohen Schließungen?
Ob in Köln, Lübeck oder Regensburg – die jüdischen Gemeinden haben ein demografisches Problem. Laut aktueller Statistik sind bundesweit 47 Prozent aller Mitglieder über 60 Jahre alt. Denn viele Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion kamen als gestandene Erwachsene oder als Rentner hierher. Kein Wunder also, dass 2017 rund 1.500 Menschen in den jüdischen Gemeinden gestorben sind, aber nur rund 250 Menschen geboren wurden.
Chajm Guski, jüdischer Blogger und Gemeindeaktivist aus Gelsenkirchen, spricht von einer dramatischen Entwicklung: "Ich denke schon, dass es vorkommen kann, dass im schlimmsten Fall die eine oder andere Synagoge geschlossen werden muss."
Guski, 40 Jahre alt und von Beruf Marketingfachmann, hat in seinem Blog "Chajms Sicht" die Mitgliederentwicklung kritisch unter die Lupe genommen, als einer der ersten überhaupt. Er weist daraufhin, dass es – aufgrund der Zuwanderung – heute über 100 jüdische Gemeinden in Deutschland gibt.
Ländliche Regionen und Ostdeutschland
"Das Problem ist, dass die Gemeinden natürlich große Infrastrukturen bereithalten, die für mehr Menschen ausgelegt sind", so Guski. "Das bedeutet, wenn ich eine Synagoge mit 200 Plätzen habe, ich habe aber nur zehn Beter, ist das erstmal deprimierend und zweitens wahrscheinlich auch relativ teuer. Das heißt, am Ende des gesamten demografischen Prozesses bleibt eine Handvoll Gemeinden übrig, in denen sich das gesamte jüdische Leben dann abspielen wird."
Der Gelsenkirchener Jude ist überzeugt: Viele kleine Gemeinden, die heute nur einige dutzend oder einige hundert Mitglieder haben, werden aufgeben müssen. Vor allem in ländlichen Regionen und in Ostdeutschland: "Das bedeutet, dass sich das jüdische Leben in Zukunft – und mit Zukunft meine ich 25 Jahre – eventuell auf verschiedene Ballungsgebiete beschränkt, das heißt verschiedene Städte, in denen jetzt schon große jüdische Gemeinden existieren."
Wird sich das jüdische Leben künftig auf Berlin, Düsseldorf oder Frankfurt am Main konzentrieren?
"Nicht dramatisch"
Berlin-Mitte, in einem Altbau mit großzügigem Marmor-Eingang und verwinkelten Fluren: ein Büro der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland, kurz ZWST. Der Verband - mit Hauptsitz in Frankfurt am Main - betreibt Sozialarbeit in den Gemeinden und veröffentlicht auch die Mitgliederstatistik. Günter Jek, der Leiter der Berliner Zweigstelle, macht sich allerdings keine Sorgen wegen der demografischen Entwicklung: "Also ich finde den Rückgang nicht sehr dramatisch."
Der ZWST-Vertreter räumt ein, dass die jüdischen Gemeinden jedes Jahr rund 1000 Mitglieder verlieren – und dies Konsequenzen hat. Jedoch spricht er nicht von Gemeindeauflösungen, sondern von einem Zusammenschluss kleinerer Gemeinden: "Es müssen Zusammenschlüsse geschaffen werden, gerade um die soziale Versorgung der immer älter werdenden, dort verbleibenden Bevölkerung zu realisieren. Warum nicht auch Verbandsgemeinden?"
"In guter Gesellschaft"
Sozialexperte Jek zeigt sich optimistisch, dass das jüdische Leben in Deutschland nicht einschlafen wird: In vielen größeren Gemeinden gebe es neue Initiativen – ob für junge Familien, für Studierende oder für Juden, die sich für Flüchtlinge engagieren. Und eine Umstrukturierung auf dem Lande sei nichts Ungewöhnliches.
Günter Jek: "Wenn wir uns den Umgang mit rückläufigen Mitgliederzahlen oder mit der Überalterung anschauen, dann gehen die Kirchen genau den gleichen Weg wie die jüdische Gemeinschaft. Es werden Gemeinden zusammengelegt, es werden Gottesdienste reihum an unterschiedlichen Standorten veranstaltet, es wird die Kooperation gesucht. Ich glaube, wir sind da in guter Gesellschaft."
Die jüdische Dachorganisation - der Zentralrat der Juden in Deutschland - erklärt, die "ungünstige demografische Struktur" sei regelmäßig Gesprächsthema in den eigenen Gremien. Für Gemeindeschließungen allerdings, lässt Rats-Chef Josef Schuster über seine Pressestelle ausrichten, sehe man "aktuell keinen Anlass".
Der jüdische Blogger Chajm Guski glaubt hingegen, dass sich viele jüdische Verantwortungsträger vor klaren Prognosen drücken: "Ich denke, dass man eventuell die Gemeindemitglieder nicht verunsichern möchte und sagen möchte: Das, was wir hier machen, das ist vielleicht nur temporär, das hat keinen dauerhaften Charakter und deshalb so ein bisschen Optimismus walten lässt. Da wäre es interessant, wenn man das noch einmal auf einer Ebene diskutieren kann, die alle erreicht – ohne Panik zu machen."
Integration - Probleme und Chancen
Ob jüdischer Aktivist oder jüdischer Funktionär - auffallend ist: Gar nicht diskutiert wird, ob die schwindende Mitgliederzahl durch neue Zuwanderung ausgeglichen werden könnte. Der Hintergrund: Die über 200.000 jüdischen Russen, Weißrussen, Ukrainer, Balten und ihre Angehörigen, die seit den 90er Jahren nach Deutschland kamen, haben – sofern sie Mitglieder wurden – die jüdischen Gemeinden vor große Integrationsprobleme gestellt. Denn viele Migranten sprachen anfangs kein Deutsch, fanden keine Arbeit und wussten außerdem wenig über die jüdische Religion.
So wurde der Zuzug ab 2005 wieder gedrosselt, auch auf Wunsch des Zentralrats. Und bis heute haben die Gemeinden mit Integrationsfragen zu kämpfen – weiterer "Nachschub" gilt deshalb als schwierig. Günter Jek von der Zentralwohlfahrtstelle der Juden bilanziert: "Wichtiger als Zuwanderung ist es, dass die jüdischen Gemeinden hier in Deutschland attraktiv sind, attraktiv bleiben und weiter, wie bisher, an der Rekonstruktion jüdischen Lebens in Deutschland arbeiten."
Die jüdischen Organisationen setzen vor allem darauf, Juden fester an ihre Gemeinden zu binden - auch jene tausende Israelis, meist junge Leute, die nach Deutschland gekommen sind und sich bislang eher selten in den Synagogen blicken lassen. So gibt es in den jüdischen Gemeinden inzwischen mehr Aktionen für junge Familien und Alleinerziehende, mehr geförderte Kultur- und Bildungsprogramme sowie mehr Angebote für Nichtjuden. Wie in Düsseldorf, wo die jüdischen Kindertagesstätten offen für alle Kinder der Stadt sind.