Am Anfang stand eine immer wiederkehrende Frage von Nassehis Studierenden, die scheinbar schlicht daherkommt und doch klug ist, weil sie einen offensichtlichen Widerspruch aufzeigt: Wieso ist der Mensch trotz seines immensen Wissens, seiner Leistungsfähigkeit und seiner Ressourcen, über die er verfügt, nicht in der Lage, die großen Probleme unserer Welt, die von sozialer Verelendung über die Pandemie bis zur ökologischen Zerstörung reichen, zu lösen?
"Wie können die Menschen, kann die Menschheit, kann die Gesellschaft so viel Leid und Problematisches zulassen, während sie die Mittel dagegen doch in der Hand zu halten scheint? Warum streben die Handelnden, obwohl sie doch die Mittel dazu hätten, nicht nach dem summum bonum, das alle besserstellen und Lösungen wahrscheinlicher machen würde?"
Diese Frage zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch von Armin Nassehi, sie verursacht dieses "Unbehagen" – eine begriffliche Anleihe bei Sigmund Freud – das dem Buch seinen Titel lieferte: "Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft".
Zielgerichtetes Handeln ist oft nur eine Idee
Nassehi ist Professor für Soziologie an der Universität München und gehörte dem "Expertenrat Corona" der NRW-Landesregierung an. Immer wieder beobachtet der diese Überforderung der Gesellschaft:
"Wir haben ja so ein Selbstbild, dass wir uns ein Ziel vorstellen und dass wir dann angemessene Mittel anwenden und dann unser Ziel erreichen oder aber auch nicht. Das ist die Idee, die wir mit unserem Handeln verbinden, aber es ist meistens durch die komplexen Strukturen der Gesellschaft viel schwieriger, weil die Gesellschaft, aber auch unsere eigene Lebensform jeweils sehr starke Eigenlogiken haben, gegen die vorzugehen manchmal nicht so einfach ist."
Beispiele dafür gibt es viele: In der Corona-Pandemie etwa hat die Gesellschaft einerseits eine enorme Leistungsfähigkeit gezeigt, wenn man an die medizinischen Behandlungsmöglichkeiten oder die Entwicklung eines Impfstoffs denkt. Zugleich waren andere Bereiche - wie Familien oder Schulen - teils radikal überfordert. Auch Politik geriet an ihre Grenzen, weil sie erwünschtes Verhalten – Maskenpflicht, Abstandsregeln und Impfen zum Beispiel - nicht umfassend durchsetzen konnte.
Kollektive Herausforderungen überfordern
Doch warum herrscht ein so offensichtliches Missverhältnis zwischen Erkenntnis über das richtige Tun und der Praxis?
Nassehis These lautet: Unsere modernen Gesellschaften sind ziemlich gut darin, isolierte und spezielle Probleme zu lösen, aber mit der Bewältigung kollektiver Herausforderungen sind wir überfordert, weil in der Praxis unterschiedliche Interessen, Ziele, Erwartungen und Wertigkeiten kollidieren:
"Erst in Situationen, die wie (kollektive) Krisen aussehen, […] werden die strukturell bedingten Zielkonflikte und Überforderungen sichtbar, erst hier wird deutlich, wie wenig ‚die Gesellschaft‘ aus der Perspektive des politischen Systems erreichbar und steuerbar ist, erst hier wird sichtbar, wie brutal die Selbstbeschränkung auf die je eigene Logik wirkt, erst hier wird sichtbar, dass die Leistungsfähigkeit einer funktional differenzierten Gesellschaft zugleich die Quelle ihrer eigenen Überforderung ist."
Politik, Wissenschaft, Familien, Wirtschaft, Kultur: Sie alle folgen in der Pandemie ihrer eigenen Logik und das führt zu Zielkonflikten, wie wir in den Bund-Länder-Konferenzen der Vergangenheit immer wieder beobachten konnten.
Politik nur bedingt lenkungsfähig
Auf eine kollektive Herausforderung reagieren wir also nicht kollektiv, diagnostiziert Nassehi. Und das geht auch gar nicht, weil Gesellschaft aufgrund ihrer Ausdifferenziertheit nicht kollektiv handeln kann. Die Überforderung ist also quasi systemimmanent und somit Dauerzustand, lautet Nassehis These.
Ganz schön ernüchternd, diese Erkenntnis, vor allem, weil sie impliziert: Auch Politik ist nur bedingt lenkungsfähig:
"Wir erwarten zum Beispiel von Politik, dass sie unsere Probleme doch mal gefälligst lösen soll. Die Funktion von Politik ist eigentlich, kollektiv verbindliche Entscheidungen herzustellen. Und dann macht sie das, hat aber mit der Limitation zu kämpfen, dass sie sich vor einem Publikum bewähren muss, das sie dann auch wählt. Und dann sind wir mittendrin in einer komplexen Maschinerie, in der sich zum Teil gute Motive wechselseitig aufheben."
Wenn kollektives Handeln nicht möglich ist: Ist dann der Niedergang der demokratischen Systeme nicht programmiert, weil autoritäre Strukturen – siehe China – viel effizienter bei der Lösung von Problemen sind?
"Das Interessante an dem Argument ist, dass es logisch super funktioniert. Aber man muss sich die Kosten angucken und die Kosten bestehen genau darin, dass alles, was uns an unserer Lebensform lieb und teuer ist, nämlich individuelle Entscheidungsfreiheit, dass es so etwas wie Kreativität gibt, die auch abweichen kann. Das würde alles eingestampft und wir wissen, was dabei rauskommt: Man muss immer mehr Kontrolle aufwenden, und das kann nicht das sein, was wir wollen."
Veränderungen müssen attraktiv sein
Aber wie lässt sich das Dilemma dann lösen? Eine einfache Antwort hat der Soziologe Nassehi nicht parat. Das würde auch seiner Theorie widersprechen. Vielmehr will er mit dem Buch erklären, welchen Logiken unsere Gesellschaften folgen; warum wir mit dem Erkennen eines Problems und dem Formulieren von Zielen noch keinen Schritt weiter sind und wie man träge Kollektive trotzdem zu Veränderung bringen kann.
"Kollektive Verhaltensänderungen sind nur zu erreichen, wenn sich die Mittel dazu bewähren. Es ist fast zu banal, es hinzuschreiben: Der Umstieg vom eigenen Automobil auf ein öffentliches Verkehrsmittel ist unmittelbar abhängig von der Attraktivität der Alternative. Der Umstieg vom Kurzstreckenflug auf die Bahn setzt konkurrenzfähige Infrastrukturen voraus. Wenn Verzicht geübt werden müsste, dann muss der Verzicht wie ein Gewinn aussehen."
"Unbehagen" ist ein kluges Buch, dessen Erkenntnisse gerade angesichts einer möglichen neuen Corona-Welle im Winter und der drängenden Klimapolitik sehr wertvoll sind.
Armin Nassehi: "Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft"
C.H. Beck Verlag , 384 Seiten, 26 Euro
C.H. Beck Verlag , 384 Seiten, 26 Euro