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Überforderung des Individuums

Wir haben uns daran gewöhnt, von Prozessen der Individualisierung zu sprechen, wenn wir auf die modernen westlichen Gesellschaften blicken. Doch sehr viel seltener fragen wir, was damit gemeint ist, geschweige denn, was die Ursache dieser Prozesse sein könnte. Für den französischen Soziologen Alain Ehrenberg ist das seit längerem Thema.

Von Thomas Kleinspehn |
    Schon in seiner früheren Studie "Das erschöpfte Selbst", die in Deutschland unter Psychotherapeuten und anderen sozialen Berufen breit rezipiert wird, hat er nach dem Schicksal des Einzelnen in einer zunehmend abstrakter werdenden Gesellschaft gefragt. Auch in seinem jüngsten Buch geht er davon aus, dass sich die psychischen Strukturen von Menschen im letzten Jahrhundert gewandelt haben.

    Bei der Verschiebung von dem, was man darf, zu dem, was man kann, treten die persönliche Behauptung, die Selbstbehauptung ins Zentrum der demokratischen Gesellschaftsverfassung. Die Fähigkeit, sich auf beherrschte und angemessene Weise zu behaupten, wird zu einem wesentlichen Bestandteil der Sozialisation auf allen Ebenen der sozialen Hierarchie. Dieser Wandel der Normativität stellt das Individuum auf eine Linie, die von der Fähigkeit zur Unfähigkeit reicht. Wenn der Messschieber sich der Unfähigkeit nähert, lässt die Unfähigkeit sein Schuldgefühl hervortreten, der jeweiligen Sache nicht gewachsen zu sein.

    Gemeint sind hier jene psychischen Konflikte zwischen den hohen Erwartungen nach Erfolg, Befriedigung von Wünschen oder nach körperlichen Idealmaßen einerseits und die Verantwortung, die jedem Einzelnen für die Erfolge bei der Arbeit oder im Privatleben zugeschrieben wird, andererseits. Viele Psychoanalytiker verstehen inzwischen die zunehmenden Depressionen ihrer Patienten als Reaktion auf die hohen Erwartungen und die individuelle Verantwortung für jeglichen Misserfolg. Von dieser Seite aus versucht Ehrenberg das zu verstehen, was auch in Deutschland spätestens seit den Arbeiten des Soziologen Ulrich Beck als "Individualisierung der Gesellschaft" beschrieben wird. Deren Gegenpol wäre die Entsolidarisierung.

    Wer jedoch nach der Einleitung eine konkrete Analyse dieser Zusammenhänge etwa in der Arbeit, dem Gesundheitswesen oder in privaten Beziehungen erwartet, sieht sich getäuscht. Denn Ehrenberg unternimmt ausschließlich eine Sekundäranalyse. Er interessiert sich für den Diskurs, der über dieses Thema in Frankreich und den USA geführt wurde. Beide Länder sind für ihn deshalb von Interesse, weil in ihnen seelische Gesundheit und das Individuum zwar eine große Rolle spielen, aber eine gänzlich andere Bedeutung haben. In beiden Kulturen werden die gesellschaftlichen Bindungen schwächer und jeder Einzelne wird für sich selbst verantwortlich. Das nennt der französische Soziologe "Entinstitutionalisierung" auf der einen und die "Privatisierung des menschlichen Lebens" auf der anderen Seite. Beide Prozesse führen dazu, dass der Diskurs über psychische Leiden, die sich daraus ergeben, immer wichtiger wird. Doch diese scheinbaren Gemeinsamkeiten bedeuten in beiden Ländern etwas anderes. Ehrenberg geht es um die Unterschiede:

    Der erste liegt in der Stellung und dem Wert, die die beiden Individualismen der Autonomie zuweisen: Der Begriff der Autonomie spaltet die Franzosen, während er die Amerikaner vereint. Der zweite Unterschied besteht darin, dass die Persönlichkeit oder das Selbst (Self) die Stellung einnimmt, die die Institution in Frankreich besitzt. In Amerika ist der Begriff der Persönlichkeit eine Institution, während in Frankreich die Berufung auf die Persönlichkeit als Entinstitutionalisierung erscheint.

    Diese Unterscheidung entwickelt Ehrenberg, Forschungsleiter am renommierten CNRS in Paris, nun im großen Rundschlag durch die amerikanischen und französischen Diskurse der letzten 200 Jahre zum Individuum. Schon im Gründungsmythos der Vereinigten Staaten ist die Vorstellung vom autonomen Subjekt enthalten, das in Konkurrenz mit anderen sich auf sich selbst verlässt, gleichzeitig aber auch nur so zur Kooperation kommt. "Persönlicher Erfolg", sagt Ehrenberg, und der "Aufbau der Gesellschaft" seien unzertrennlich. In Frankreich dagegen hat sich seit der Revolution eher die entgegengesetzte Perspektive durchgesetzt. Der bürgerliche Staat bringt das Individuum oder das Selbst erst hervor, indem er seine Rechte garantiert. Ehrenberg spürt diese grundlegenden Unterschiede in der Auffassung vom Individuum in den Subjekttheorien der beiden Länder auf. Das sind in den USA vor allem die Ich-Psychologie und die sozialpsychologischen Theorien um die narzisstische Gesellschaft, wie sie Richard Sennett und Christopher Lasch schon in den späten Siebzigerjahren aufgestellt haben. Geht es hier um die Vorstellung von einem um sich selbst kreisenden Menschen, der daraus die Welt definiert, so betrachtet die französischen Psychoanalytiker in der Nachfolge von Jacques Lacan vor allem das Regelwerk der Gesellschaft, mit dem das Ich ringt. Bei allen Autonomieversuchen kann sich dieses Ich der Gesellschaft oder dem "Gesetz", wie Lacan das nennt, nicht entziehen.

    Die Autonomie des Individuums ist der Heteronomie des Subjekts untergeordnet. Die Wahrheit des Menschen ist nicht die Autonomie, die nur eine Illusion des Ich ist, sondern die Erkenntnis des Gesetzes, dem es unterworfen ist – vor allem wenn es das Gesetz der Begierde ist. Der Fokussierung der amerikanischen Psychoanalyse auf das Ego, das in der Lage ist, sich anzupassen, indem es die Frustrationen erträgt, steht die französische Unterwerfung des Subjekts unter ein Gesetz gegenüber, das seine Wahrheit ist.

    Beide Vorstellungen kämpfen mit der irrigen Annahme, Menschen könnten sich von wechselseitigen Abhängigkeiten befreien. Und hier genau liegt das "Unbehagen in der Gesellschaft", das der deutsche Buchtitel aufgreift. Aus dem Konflikt zwischen dem Individuum, das nach Eigenständigkeit sucht, und den Regeln der Gesellschaft, die sie selbst bilden, erwachsen Pathologien. Ihre Symptome sind unterschiedlich, im Kern haben sie aber gemeinsame Wurzeln. Diese Pathologien haben sich in den letzten 30 Jahren in Frankreich und den USA verändert. Je mehr sich der Neoliberalismus durchsetzt, geht es weniger um Gehorsam und Verantwortung – psychoanalytisch gesprochen um das Über-Ich -, sondern um Ansprüche und Ideale. Sie erscheinen vielen als nicht erfüllbar. Deshalb treffen Psychotherapeuten und Sozialarbeiter in Europa und Amerika immer mehr auf Menschen, die sich überfordert fühlen. Vor dem Hintergrund historisch entstandener Muster reagieren sie jedoch jeweils anders. Aus der Sicht Ehrenbergs führt der Individualismus in den USA eher dazu, dass Menschen auf Verantwortung verzichten, während Franzosen dazu neigen, die geschwächten Institutionen mit einem Übermaß an Verantwortung zu kompensieren. Beide Formen sind Ausdruck des Unbehagens oder sozialer Pathologien, die Ehrenberg als eigene Sprache ernst nimmt. Er will damit seelische Gesundheit von der Fixierung auf das Wohl des Einzelnen lösen, um die wechselseitige Abhängigkeit von Kultur, Institutionen und Individuen zu betonen. Eine differenzierte Perspektive auf Prozesse der Vergesellschaftung lässt Ehrenbergs Parforceritt durch die Diskurse der Individualisierung durchaus zu. Ob man jedoch "die Masse psychischen Leidens, das überall hervorquillt", wie der Autor das formuliert, tatsächlich begreifen kann, ohne die wirklichen Menschen anzuhören, ihre Biografie, ihre Geschichten und ihre Ängste, mag bezweifelt werden. Das Elend der Welt ist eben mehr als eine Theorie.

    Alain Ehrenberg: Das Unbehagen in der Gesellschaft
    Berlin, Suhrkamp Verlag, 2011, Preis: Euro 29,90