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"Überleben"

Klimawandel, Kriegen und Krisen: In diesem Bedrohungsszenario hat die Frage des Überlebens Konjunktur. Auf einem internationalen Symposium an der Akademie der Künste in Berlin fragten Kultur- und Sozialwissenschaftler nun vergangene Woche nach der Geschichte des Überlebensbegriffs und nach seiner Bedeutung für Gesellschaftstheorien und Menschenbild im 20. und 21. Jahrhundert.

Von Bettina Mittelstraß |
    "Es gibt für ältere Kulturen und natürlich auch für gegenwärtige Kulturen, die nicht sozusagen erfasst sind von der westlichen Zivilisation eine Evidenz des Überlebens, die ganz entscheidend ist, nämlich die, dass immer das Risiko besteht, die eigenen Kinder zu überleben, weil die Kindersterblichkeit so hoch ist und weil das Risiko, eben auch nur 21 Jahre alt zu werden, bestenfalls 50 zu 50 steht."

    Jahrtausendelang lebten die Eltern in allen Gesellschaften dieser Erde in dem Bewusstsein, dass sie die meisten der eigenen Kinder sehr wahrscheinlich zu überleben würden, sagt Thomas Macho, Professor für Kulturgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Damit bekamen überlebende Kinder eine enorme Bedeutung. Auf der einen Seite hatten sie die Funktion, das Überleben eines Familienkonzepts zu sichern. Das galt nicht nur für die Aristokratie, sondern auch für Bauernfamilien, in denen sämtliche Söhne den Namen des Vaters erhielten. Dahinter stand die Erfahrung, dass oft höchstens einer überlebte; und darin äußerte sich die Hoffnung, dass der zu einem abstrakten Wert überhöhte "Familienverband" von Dauer sein möge.

    Auf der anderen Seite erwies sich das Überleben als Konkurrenzunternehmen zu anderen Familien und den Erbansprüchen von Kindern. Überleben konnte zu eine Art Sucht mit paranoiden Züge werden: Ihre literarische Verarbeitung findet sich in der Figur des Macbeth.

    "Erst die Moderne hat die Überlebenssucht im Sinne des sozusagen paranoischen Machthabers, der alles als Anschlag auf seine eigene Person und seine eigene Position empfindet, in exemplarischer Hinsicht hervorgebracht."

    Und erst die moderne Welt westlicher Zivilisation hat dann auch innerhalb von kürzester Zeit die Kindersterblichkeit so drastisch zurückgedrängt, sodass sich die Frage des Überlebens so kaum noch stellt. Der Umschwung ist gravierend, und sollte von den Kultur- und Sozialwissenschaften daher intensiver reflektiert werden, sagt Thomas Macho.

    In den modernen Wissenschaften wird der Begriff des Überlebens erstmals in Charles Darwins Theorie über die Entstehung der Arten relevant und schließlich zunehmend für die Sozialwissenschaften bedeutsam. Falko Schmieder, Gastprofessor für Kommunikationsgeschichte an der Freien Universität Berlin, erläutert, dass der Begriff zu verschiedenen Zeiten in der Wissenschaften Konjunktur hatte:

    "Die erste setzt ein so in den 1860er Jahren im Anschluss an die Darwinsche Theorie, wo der Begriff auffällig häufig in vielen, verschiedenen Zusammenhängen etabliert wird: Kulturtheorie, Gesellschaftstheorie, natürlich in der Biologie. Und dann gibt es eine zweite Konjunktur dieses Begriffs im Zusammenhang mit der Shoa. Das ist ganz massiv zu beobachten, dass dort der Begriff des Überlebens - und zwar in völlig neuer Bedeutung - ins Spiel kommt und auch Parallelbegriffe nach sich zieht, Komposita nach sich zieht wie "Überlebensschuld", "Überlebendensyndrom", man spricht von einer "Generation von Überlebenden", wo ganz deutlich wird, was das für eine historische Zäsur ist."

    Die Vernichtungslager, in denen Überleben nicht vorgesehen war, veränderten das Denken. Die Erfahrung der Shoa schlug sich in Menschenbildern, Philosophien und Theorien nieder. Was zuvor ein Nachdenken über das Leben war, wurde durch die Realität der systematischen Vernichtung von Menschen durch Menschen zu einem Denken in neuen Kategorien des "Über"-lebens. Nachvollziehbar wird diese Wendung zum Beispiel im Werk des Dichters und Schriftstellers Elias Canetti, der 1960 in dem Buch "Masse und Macht" ein zuvor weitgehend friedliches Menschenbild verabschiedet, das auf "Selbsterhaltung" ausgerichtet war:

    "Wenn man den Perspektivenwechsel zum Begriff des Überlebens vollzieht, wie Canetti das sehr, sehr bewusst tut, kommen völlig andere Implikationen ins Spiel, nämlich die Implikation des Kampfes und sozusagen des Wettstreites, dass das Ich sozusagen immer schon auf ein Du bezogen ist, und zwar auf ein Du, das potentiell als Feind erscheint, gegen das das Ich sich sozusagen kämpferisch absetzt. Und das ist natürlich ein völlig anderes Menschenbild, als das, was an den Begriff der Selbsterhaltung gekoppelt ist."

    Im Zusammenhang mit der Shoa stellte sich auf der Tagung auch die bedrückende Frage nach möglichen Formen des Überlebens. Die Literaturwissenschaftlerin Christina Pareigis präsentierte dazu eine seltsam fröhliche und zugleich beeindruckende Antwort in einer Analyse des jüdischen Humors. Humor ist schon in der hebräischen Bibel angelegt, um allen Arten von Veränderungen im Leben und neuen Situationen mit einer gewissen Distanz und größtmöglicher Offenheit zu begegnen und um festgelegten Sinn immer wieder zu brechen.

    "Die überlebensstrategische Komponente bekommt der Humor dann, wenn diese Situation eben lebensbedrohlich ist. Das heißt, dadurch, dass man einer Situation das Komische oder das Humorvolle abgewinnt, bekommt man - allerdings nur zu einem gewissen Grad - eine Souveränität über die Situation, und das kann man als Überlebensstrategie bezeichnen. Es gibt zum Beispiel sehr, sehr viel Witze, die im Kontext des 11. Septembers entstanden sind, die für viele Amerikaner überhaupt nicht zu ertragen sind. Im Prinzip ist das nichts anderes als mit bestehenden, ja, Redeverabredungen zu brechen und dahingehend auch kein Tabu zu kennen. Und das ist eine Form von Freiheit."

    Die Bedrohungen des 21. Jahrhunderts - Klimawandel, die Erschöpfung natürlicher Ressourcen, Terror und Krieg - scheinen das Überleben der ganzen Menschheit in Frage zu stellen. Um ihr Überleben zu sichern, taucht in aktuellen Debatten immer wieder der Begriff der Nachhaltigkeit auf.

    Der Berliner Erziehungswissenschaftler Professor Christoph Wulf:

    "Mir scheint, dass es drei wichtige Problemkonstellationen gibt. Einmal ist das die Frage des Friedens. Die zweite wichtige Frage ist die, die im Rahmen der Globalisierung eine neue Bedeutung gewonnen hat: Wie gehen wir mit kultureller Diversität um? Und die dritte Frage ist die: Wie lässt sich eine Kultur der Nachhaltigkeit entwickeln?"

    Falko Schmieder aber betrachtet den Zusammenhang von so genannter "Nachhaltigkeit" und "Überleben" kritisch. Denn wenn alle zukunftsorientierten Überlegungen um das "Über"-leben der Menschheit kreisen, sind unter dem Diktat der Nachhaltigkeit auch zweifelhafte politische Entscheidungen denkbar.

    "Es scheint so zu sein, dass der Staat vor dem Hintergrund dieser aktuellen ökologischen Bedrohungslagen eben als einer ins Spiel kommt, der vielleicht unter Umgehung demokratischer Spielregeln sozusagen Ausnahmezustände auch herstellen kann - und dann eben auch ein staatliches Handeln vorbei an demokratischen Instanzen legitimieren kann. Und das könnte natürlich ein Zusammenhang sein, auf den der Begriff des Überlebens zielt."

    Zudem ist "die" Menschheit kein konkretes Subjekt sondern bleibt abstrakt und man muss vorsichtig sein, meint Thomas Macho, dass die Furcht, als "Menschheit" nicht zu überleben zukünftig nicht ähnlich zur Sucht wird, wie einst bei Macbeth:

    "Das würde ich durchaus auch so sehen als eine Paranoia, die auch die Außerkraftsetzung moralischer Normen und Verfassungsregeln und Grundrechte usw. dann in Kauf nimmt im Namen sozusagen dieses blanken und blinden Überlebenwollens."