Nun sitzen wir also, die paar Überlebenden wie Noah in einer Arche, in die wir noch nicht einmal das Nötigste haben retten können; schlimmer ist, dass wir paar Noahs auch noch mit dem zusätzlichen Ungeschick behaftet scheinen, unsere Archen genau aneinander vorbei ins Nicht-Treffbare zu steuern. Und wenn ich auch dagegen bin, alle Noahs in eine Arche zu bringen, so hätte ich doch mehr als gerne gesehen, wenn man ein paar Schiffchen aneinander hätte binden können oder wenigstens so steuern, dass man sich noch Hallo oder Wie geht’s zurufen kann.
Aus einem Brief Hannah Arendts vom November 1946 an Gershom Scholem, worin sie dieses ebenso rührende wie treffende Bild für eine schwierige Freundschaft in schwierigen Zeiten findet. Deren Kursverlauf und letztendlichen Schiffbruch auf den Wässern der "Sintflut, nachdem die Welt untergegangen ist", kann der Leser in dem nun erstmals vorliegenden vollständigen Briefwechsel verfolgen. Ein Kurs, der stets mehr als nur die geografische Entfernung New York-Jerusalem zu bewältigen hatte. Denn zwischen der politischen Philosophin, die nach ihrer Emigration aus Deutschland 1933 seit ‘41 in den USA lebte, und dem Kabbalaforscher sowie überzeugten Zionisten, der bereits 1923 nach Palästina ausgewandert war, lagen noch ganz andere Distanzen.
Doch zunächst verbindet sie die unmittelbare Gewalt der Ereignisse. "Juden sterben in Europa und man verscharrt sie wie Hunde", schließt die knappe Mitteilung Arendts vom Oktober 1940, worin sie Scholem vom Selbstmord ihres gemeinsamen Freundes Walter Benjamin in Kenntnis setzt, der sich vier Wochen zuvor am spanischen Grenzort Port Bou das Leben genommen hatte. Es bildet den Anfang ihres Briefwechsels, den Beginn der persönlichsten und einträchtigsten Phase ihrer Korrespondenz, geprägt von der Trauer um den Freund und der Anstrengung, dessen literarisches Erbe zu retten, sowie von der Wucht der Zeit: dem Krieg in Europa, der Lage in Palästina, der Frage nach dem Fortbestand des Judentums.
Wir bereiten uns auf das Endstadium des Krieges vor. Was uns noch an Offenbarungen über den Stand des jüdischen Volkes in Europa bevorsteht, wissen wir ja nicht, aber krank macht der Gedanke an das, was wir da erfahren werden, schon jetzt. Dass wir hier von diesem unmittelbaren Wüten der Kriegsvorgänge nicht erreicht wurden scheint ja so gut wie endgültig sicher. Ein nicht wiederzugebendes Gefühl. Wofür sind wir hier nun aufgehoben worden?
Schreibt Scholem aus Jerusalem im Dezember 1943 nach New York. Eine wichtige Verbindungslinie aber bildet New York-Jerusalem vor allem deshalb, da angesichts der Vernichtung des europäischen Judentums Amerika und Palästina nun die beiden Pole darstellen, wo überhaupt noch "jüdische Dinge" zu wahren und fortzuführen sind. Spannungsträchtige Pole allemal, dennoch sind beide Denker als "Überlebende der Sintflut" froh darüber, über alle ideologischen Lager hüben und drüben hinweg, ihre Gedanken austauschen zu können.
Auf der Höhe der Zeit – und das bedeutet für beide, sich den geschichtlichen Einbrüchen und Herausforderungen zu stellen, die auch die durch die Jahrhunderte konservierten Traditionslinien jüdischen Selbstverständnisses nicht unberührt lassen. Scholems Ausgangspunkt dafür ist seine intensive Beschäftigung mit der Kabbala, der vom orthodoxen rabbinischen Judentum seit je als häretisch unterdrückten mystischen Strömung, und sein Versuch, dem jüdischen Leben mit der Erschließung dieser Quelle neue Wege zu öffnen.
Für Arendt, die Scholems 1942 erschienenes und Walter Benjamin gewidmetes Buch "Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen" mit großem Interesse gelesen und besprochen hatte, ist es dieser unorthodoxe, traditionskritische Blick auf die Vergangenheit des Judentums, den sie teilt. Doch sie ist keine Zionistin wie Scholem, obwohl sie nach ‘33 die Auswanderung und Errichtung einer jüdischen Heimstätte in Palästina unterstützt hatte. "Für das jüdische Volk in seinen besten Teilen ist es ungeheuer wichtig, dass Ihr da seid", schreibt sie nach Jerusalem, aber zugleich betrachtet sie die offizielle zionistische Politik dort – wie auch Scholem – mit wachsendem Unbehagen. Daneben geht es in ihren Briefen immer wieder um den Freund Benjamin, um die eigenen Arbeiten, die hin- und hergeschickt, gelesen und kommentiert werden, um Verlage, Veröffentlichungsmöglichkeiten und Rezensionen für Scholem in Amerika.
Und da beide kein Blatt vor den Mund nehmen, erfährt der Leser auch so manches vergnügliche Detail über missliebige Zeitgenossen wie etwa die Benjaminschen Nachlassverwalter, Adorno und Horkheimer, die sie beide nicht ausstehen können. Doch als Arendt 1946 ihren Aufsatz "Der Zionismus aus heutiger Sicht" veröffentlicht, kommt es zum ersten großen Krach. Scholem ist enttäuscht, verärgert, empört über ihre scharfe Kritik am Zionismus.
Ich (halte) Ihren Aufsatz für eine politische Narretei, gegen die ich nur meinen entschiedenen Protest vor Ihrer besseren Einsicht und Selbstkritik einlegen kann. Ich bekenne mich mit größter Ruhe der meisten jetzt von Ihnen dem Zionismus angekreideten Verbrechen schuldig. Ich bin Nationalist und völlig ungerührt von angeblich progressiven Deklamationen gegen eine Anschauung, die man mir seit meiner frühesten Jugend als überwunden immer wieder darstellt. Ich bin "Sektierer" und habe mich nie geschämt, meine Überzeugung, dass Sektierertum etwas sehr Entscheidendes und Positives darstellen kann, im Druck bekannt zu geben. Mir ist das Staatsproblem vollkommen schnuppe, da ich nicht glaube, dass die Erneuerung des jüdischen Volkes von der Frage seiner politischen, ja sogar von der Frage seiner sozialen Organisation abhängt. Mein politischer Glaube ist, wenn er irgendetwas ist – anarchistisch.
In ihrem Antwortbrief gibt Hannah Arendt ebenso deutlich zurück:
Das Erste und wichtigste an Ihrem Glaubensbekenntnis (denn etwas anderes haben Sie ja leider nicht für nötig gehalten, mir mitzuteilen), was ich nicht verstehen kann, ist Folgendes: Wie ist es möglich, dass ein Mensch sich sein Leben lang mit Philosophie und Theologie beschäftigt und ernsthaft beschäftigt, und dann sich als Bekenner eines Ismus herausstellt. Ich habe immer Ihre Stellung als Jude politisch zu verstehen geglaubt und vor Ihrem Entschluss, mit einer politischen Realität in Palästina ernst zu machen, großen Respekt gehabt. Ich kann Sie nicht daran hindern, ein Nationalist zu sein, obwohl ich auch nicht recht einsehe, warum Sie so stolz darauf sind. Dass bei der Lage der Dinge konsequenten Nationalisten nichts übrig bleiben wird, als Rassisten zu werden, steht zu befürchten. Und diese Gefahr, lieber Freund, wird nicht schwächer, wenn man außerdem noch Anarchist ist. Sie werden mir zustimmen, dass das mit Erneuerung verflucht wenig und mit Untergang verflucht viel zu tun hat.
Dennoch ist sie es, die nach dieser "Ehrlichkeits-Orgie", wie sie es nennt, versöhnliche Zeilen an Scholem richtet und ihm vorschlägt, es so zu halten wie sie, "nämlich dass einem Menschen mehr wert sind als ihre Meinungen, aus dem einfachen Grunde weil Menschen de facto mehr sind, als was sie denken oder tun." Eine Haltung, die sich in ihren Briefen aus dieser ersten Phase ihrer Korrespondenz aufs Schönste widerspiegelt, in denen sie den oftmals schwierigen Freund in Palästina mit Witz, Ironie und Wärme versucht, aus seiner zionistischen Verschanzung zu locken.
In den Jahren 1949 bis 1951, der zweiten Phase ihres Briefwechsels, sind beide – Arendt in New York, Scholem in Jerusalem – fest für "Jewish Cultural Reconstruction" engagiert, eine amerikanische Organisation, die sich um die geretteten Teile des jüdischen Kulturerbes in Deutschland kümmert mit dem Ziel, sie dem jüdischen Volk vor allem in Palästina zurückzuerstatten. Ihre Briefe sind jetzt hauptsächlich in der Geschäftssprache Englisch verfasst. Geschäftsmäßig ist auch deren Tonfall, aber sie vermitteln dem Leser einen bisher kaum bekannten, aufschlussreichen Einblick in ihre physisch wie psychisch zum Teil aufreibende Tätigkeit, die sie immer wieder ins Nachkriegsdeutschland führt.
Persönliches allerdings fließt in ihre Briefe nicht ein. Nach dem Ende ihrer Tätigkeit für "JCR" wird die Korrespondenz ab 1952 sporadisch, der Ton in dieser dritten Phase ist freundlich, aber unverbindlich. 1963 dann kommt es anlässlich der bekannten Kontroverse, die Arendts Buch "Eichmann in Jerusalem" und ihre Thesen zur "Banalität des Bösen" sowie zur Mitverantwortung der Judenräte und der jüdischen Organisationen an der Durchführung des "Holokausts" ausgelöst hatte, zum irreversiblen Bruch ihrer Freundschaft.
Was mich an Ihren Darlegungen zum Widerstand aufruft, ist die Herzlosigkeit und die Sicherheit Ihres Urteils, die mir an den entscheidenden Stellen total unbegründet scheint. Ich weiß nicht, welche Politik "richtig" gewesen wäre, und mein Argument gegen Sie ist, dass Sie es auch nicht wissen, obwohl Sie es behaupten.
Wo Scholem ihr intellektuelle Überheblichkeit, mangelnde Liebe und fehlende Empathie gegenüber ihrem Volk vorwirft, da bleibt Arendt dabei, dass weder Glaube noch Liebe im Raum des politischen-geschichtlichen Denkens und Handelns etwas zu suchen haben.
(Ich) habe nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv "geliebt", weder das deutsche, noch das französische, noch das amerikanische, noch etwa die Arbeiterklasse oder sonst was in dieser Preislage. Ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig.
Diesmal ist es Scholem, der in einem Brief vom Juli 1964 anlässlich eines New York Besuchs ein Treffen vorschlägt. Da sich kein Hinweis auf eine Antwort Arendts gefunden hat und auch kein Anhaltspunkt für ein Wiedersehen, scheinen ihre beiden Archen nun tatsächlich endgültig aneinander vorbei ins Nicht-Treffbare gesteuert zu sein.
Marie Luise Knott unter Mitarbeit von David Heredia (Hg.)
Der Briefwechsel. Hannah Arendt / Gershom Scholem
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2010
693 Seiten, Euro 39,90
Aus einem Brief Hannah Arendts vom November 1946 an Gershom Scholem, worin sie dieses ebenso rührende wie treffende Bild für eine schwierige Freundschaft in schwierigen Zeiten findet. Deren Kursverlauf und letztendlichen Schiffbruch auf den Wässern der "Sintflut, nachdem die Welt untergegangen ist", kann der Leser in dem nun erstmals vorliegenden vollständigen Briefwechsel verfolgen. Ein Kurs, der stets mehr als nur die geografische Entfernung New York-Jerusalem zu bewältigen hatte. Denn zwischen der politischen Philosophin, die nach ihrer Emigration aus Deutschland 1933 seit ‘41 in den USA lebte, und dem Kabbalaforscher sowie überzeugten Zionisten, der bereits 1923 nach Palästina ausgewandert war, lagen noch ganz andere Distanzen.
Doch zunächst verbindet sie die unmittelbare Gewalt der Ereignisse. "Juden sterben in Europa und man verscharrt sie wie Hunde", schließt die knappe Mitteilung Arendts vom Oktober 1940, worin sie Scholem vom Selbstmord ihres gemeinsamen Freundes Walter Benjamin in Kenntnis setzt, der sich vier Wochen zuvor am spanischen Grenzort Port Bou das Leben genommen hatte. Es bildet den Anfang ihres Briefwechsels, den Beginn der persönlichsten und einträchtigsten Phase ihrer Korrespondenz, geprägt von der Trauer um den Freund und der Anstrengung, dessen literarisches Erbe zu retten, sowie von der Wucht der Zeit: dem Krieg in Europa, der Lage in Palästina, der Frage nach dem Fortbestand des Judentums.
Wir bereiten uns auf das Endstadium des Krieges vor. Was uns noch an Offenbarungen über den Stand des jüdischen Volkes in Europa bevorsteht, wissen wir ja nicht, aber krank macht der Gedanke an das, was wir da erfahren werden, schon jetzt. Dass wir hier von diesem unmittelbaren Wüten der Kriegsvorgänge nicht erreicht wurden scheint ja so gut wie endgültig sicher. Ein nicht wiederzugebendes Gefühl. Wofür sind wir hier nun aufgehoben worden?
Schreibt Scholem aus Jerusalem im Dezember 1943 nach New York. Eine wichtige Verbindungslinie aber bildet New York-Jerusalem vor allem deshalb, da angesichts der Vernichtung des europäischen Judentums Amerika und Palästina nun die beiden Pole darstellen, wo überhaupt noch "jüdische Dinge" zu wahren und fortzuführen sind. Spannungsträchtige Pole allemal, dennoch sind beide Denker als "Überlebende der Sintflut" froh darüber, über alle ideologischen Lager hüben und drüben hinweg, ihre Gedanken austauschen zu können.
Auf der Höhe der Zeit – und das bedeutet für beide, sich den geschichtlichen Einbrüchen und Herausforderungen zu stellen, die auch die durch die Jahrhunderte konservierten Traditionslinien jüdischen Selbstverständnisses nicht unberührt lassen. Scholems Ausgangspunkt dafür ist seine intensive Beschäftigung mit der Kabbala, der vom orthodoxen rabbinischen Judentum seit je als häretisch unterdrückten mystischen Strömung, und sein Versuch, dem jüdischen Leben mit der Erschließung dieser Quelle neue Wege zu öffnen.
Für Arendt, die Scholems 1942 erschienenes und Walter Benjamin gewidmetes Buch "Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen" mit großem Interesse gelesen und besprochen hatte, ist es dieser unorthodoxe, traditionskritische Blick auf die Vergangenheit des Judentums, den sie teilt. Doch sie ist keine Zionistin wie Scholem, obwohl sie nach ‘33 die Auswanderung und Errichtung einer jüdischen Heimstätte in Palästina unterstützt hatte. "Für das jüdische Volk in seinen besten Teilen ist es ungeheuer wichtig, dass Ihr da seid", schreibt sie nach Jerusalem, aber zugleich betrachtet sie die offizielle zionistische Politik dort – wie auch Scholem – mit wachsendem Unbehagen. Daneben geht es in ihren Briefen immer wieder um den Freund Benjamin, um die eigenen Arbeiten, die hin- und hergeschickt, gelesen und kommentiert werden, um Verlage, Veröffentlichungsmöglichkeiten und Rezensionen für Scholem in Amerika.
Und da beide kein Blatt vor den Mund nehmen, erfährt der Leser auch so manches vergnügliche Detail über missliebige Zeitgenossen wie etwa die Benjaminschen Nachlassverwalter, Adorno und Horkheimer, die sie beide nicht ausstehen können. Doch als Arendt 1946 ihren Aufsatz "Der Zionismus aus heutiger Sicht" veröffentlicht, kommt es zum ersten großen Krach. Scholem ist enttäuscht, verärgert, empört über ihre scharfe Kritik am Zionismus.
Ich (halte) Ihren Aufsatz für eine politische Narretei, gegen die ich nur meinen entschiedenen Protest vor Ihrer besseren Einsicht und Selbstkritik einlegen kann. Ich bekenne mich mit größter Ruhe der meisten jetzt von Ihnen dem Zionismus angekreideten Verbrechen schuldig. Ich bin Nationalist und völlig ungerührt von angeblich progressiven Deklamationen gegen eine Anschauung, die man mir seit meiner frühesten Jugend als überwunden immer wieder darstellt. Ich bin "Sektierer" und habe mich nie geschämt, meine Überzeugung, dass Sektierertum etwas sehr Entscheidendes und Positives darstellen kann, im Druck bekannt zu geben. Mir ist das Staatsproblem vollkommen schnuppe, da ich nicht glaube, dass die Erneuerung des jüdischen Volkes von der Frage seiner politischen, ja sogar von der Frage seiner sozialen Organisation abhängt. Mein politischer Glaube ist, wenn er irgendetwas ist – anarchistisch.
In ihrem Antwortbrief gibt Hannah Arendt ebenso deutlich zurück:
Das Erste und wichtigste an Ihrem Glaubensbekenntnis (denn etwas anderes haben Sie ja leider nicht für nötig gehalten, mir mitzuteilen), was ich nicht verstehen kann, ist Folgendes: Wie ist es möglich, dass ein Mensch sich sein Leben lang mit Philosophie und Theologie beschäftigt und ernsthaft beschäftigt, und dann sich als Bekenner eines Ismus herausstellt. Ich habe immer Ihre Stellung als Jude politisch zu verstehen geglaubt und vor Ihrem Entschluss, mit einer politischen Realität in Palästina ernst zu machen, großen Respekt gehabt. Ich kann Sie nicht daran hindern, ein Nationalist zu sein, obwohl ich auch nicht recht einsehe, warum Sie so stolz darauf sind. Dass bei der Lage der Dinge konsequenten Nationalisten nichts übrig bleiben wird, als Rassisten zu werden, steht zu befürchten. Und diese Gefahr, lieber Freund, wird nicht schwächer, wenn man außerdem noch Anarchist ist. Sie werden mir zustimmen, dass das mit Erneuerung verflucht wenig und mit Untergang verflucht viel zu tun hat.
Dennoch ist sie es, die nach dieser "Ehrlichkeits-Orgie", wie sie es nennt, versöhnliche Zeilen an Scholem richtet und ihm vorschlägt, es so zu halten wie sie, "nämlich dass einem Menschen mehr wert sind als ihre Meinungen, aus dem einfachen Grunde weil Menschen de facto mehr sind, als was sie denken oder tun." Eine Haltung, die sich in ihren Briefen aus dieser ersten Phase ihrer Korrespondenz aufs Schönste widerspiegelt, in denen sie den oftmals schwierigen Freund in Palästina mit Witz, Ironie und Wärme versucht, aus seiner zionistischen Verschanzung zu locken.
In den Jahren 1949 bis 1951, der zweiten Phase ihres Briefwechsels, sind beide – Arendt in New York, Scholem in Jerusalem – fest für "Jewish Cultural Reconstruction" engagiert, eine amerikanische Organisation, die sich um die geretteten Teile des jüdischen Kulturerbes in Deutschland kümmert mit dem Ziel, sie dem jüdischen Volk vor allem in Palästina zurückzuerstatten. Ihre Briefe sind jetzt hauptsächlich in der Geschäftssprache Englisch verfasst. Geschäftsmäßig ist auch deren Tonfall, aber sie vermitteln dem Leser einen bisher kaum bekannten, aufschlussreichen Einblick in ihre physisch wie psychisch zum Teil aufreibende Tätigkeit, die sie immer wieder ins Nachkriegsdeutschland führt.
Persönliches allerdings fließt in ihre Briefe nicht ein. Nach dem Ende ihrer Tätigkeit für "JCR" wird die Korrespondenz ab 1952 sporadisch, der Ton in dieser dritten Phase ist freundlich, aber unverbindlich. 1963 dann kommt es anlässlich der bekannten Kontroverse, die Arendts Buch "Eichmann in Jerusalem" und ihre Thesen zur "Banalität des Bösen" sowie zur Mitverantwortung der Judenräte und der jüdischen Organisationen an der Durchführung des "Holokausts" ausgelöst hatte, zum irreversiblen Bruch ihrer Freundschaft.
Was mich an Ihren Darlegungen zum Widerstand aufruft, ist die Herzlosigkeit und die Sicherheit Ihres Urteils, die mir an den entscheidenden Stellen total unbegründet scheint. Ich weiß nicht, welche Politik "richtig" gewesen wäre, und mein Argument gegen Sie ist, dass Sie es auch nicht wissen, obwohl Sie es behaupten.
Wo Scholem ihr intellektuelle Überheblichkeit, mangelnde Liebe und fehlende Empathie gegenüber ihrem Volk vorwirft, da bleibt Arendt dabei, dass weder Glaube noch Liebe im Raum des politischen-geschichtlichen Denkens und Handelns etwas zu suchen haben.
(Ich) habe nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv "geliebt", weder das deutsche, noch das französische, noch das amerikanische, noch etwa die Arbeiterklasse oder sonst was in dieser Preislage. Ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig.
Diesmal ist es Scholem, der in einem Brief vom Juli 1964 anlässlich eines New York Besuchs ein Treffen vorschlägt. Da sich kein Hinweis auf eine Antwort Arendts gefunden hat und auch kein Anhaltspunkt für ein Wiedersehen, scheinen ihre beiden Archen nun tatsächlich endgültig aneinander vorbei ins Nicht-Treffbare gesteuert zu sein.
Marie Luise Knott unter Mitarbeit von David Heredia (Hg.)
Der Briefwechsel. Hannah Arendt / Gershom Scholem
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2010
693 Seiten, Euro 39,90