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Überlebenskampf eines südafrikanischen Straßenkindes

Der Südafrikaner Mbu Maloni hat mit 18 Jahren eine Autobiografie veröffentlicht. In dem Buch schreibt er von seiner Kindheit mit alkoholabhängiger Mutter, dem frühen Tod seines Bruders und der Zeit als Straßenkind. Er hat dieses Buch geschrieben, um anderen Kindern Mut zu machen.

Von Kerstin Poppendieck | 17.09.2011
    "Dieses Buch widme ich meinem Freund Abongile 'Atie' Rwanqa der erstochen wurde, als er 15 war. Von einem 17-Jährigen, einfach so." Mit diesen Worten beginnt das erste Buch von Mbu Maloni. Der 18-Jährige wohnt in Masiphumelele, einem der ärmsten Townships in der südafrikanischen Provinz Westkap. Der Name des Townships ist ein Wort aus der Xhosa-Sprache und bedeutet: 'Wir werden Erfolg haben', was klingt wie blanker Hohn. Denn die meisten der fast 40.000 Menschen hier sind arbeitslos und leben in Wellblechhütten ohne fließend Wasser und Strom. In einer der armseligsten Hütten wohnt Mbu´s Mutter mit seinem Stiefvater und seinen zwei Halbgeschwistern.

    "Endlich hatte sie die Holztür entriegelt, und wir gingen in das kleine Shack, das wie die meisten anderen auch aus Pappe, Holzplatten und einer Plastikplane als Dach gezimmert war. Drinnen war es dunkel und es roch nach schmutzigen Windeln. Als sich meine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, sah ich, dass in dem Shack gerade mal ein großes Bett und ein kleiner Schrank standen. Der Boden war bedeckt mit einem grauen Teppich, der alle sonstigen Farben verloren hatte."

    Hier gibt es keinen Platz für Mbu. Außerdem möchte er nicht mit ansehen, wie seine Mutter und ihr neuer Mann sich jeden Abend betrinken. Aus Mbu wird eines von Tausenden Straßenkindern in Südafrika. Es ist durchaus ungewöhnlich, mit 18 bereits eine Autobiografie zu schreiben, doch Mbu hat bereits viel durchmachen müssen: sein Vater hat früh die Familie verlassen, die Mutter ist alkoholabhängig. Sein Bruder, die wichtigste Person in seinem Leben, ist als Teenager gestorben. Aber es kam noch schlimmer: obwohl unschuldig, wird er des sexuellen Missbrauchs angeklagt und zu einer mehrmonatigen Gefängnisstrafe verurteilt. Mbu weiß, dass es in Südafrika viele Kinder wie ihn gibt, und für sie hat er das Buch geschrieben.

    "Ich wollte damit die anderen Straßenkinder inspirieren. Ich wollte ihnen sagen, dass sie nicht aufgeben sollen. Dass sie so lange kämpfen sollen, bis sie den richtigen Platz im Leben gefunden haben. Er kenne viele Kinder, bei denen es auch Ärger in der Familie gibt. Denen wollte ich Kraft geben und ihnen zeigen, wie ich all diese schlimmen Dinge überlebt habe."

    Mbu ist schüchtern, er vermeidet Augenkontakt. Es fällt ihm schwer, mit Fremden zu sprechen. Aus Nervosität lässt er ständig seine Finger knacken. Liebe und Freundschaft gab es bisher viel zu wenig in Mbu´s Leben. Auch als er den deutsch-niederländischen Schriftsteller Lutz van Dijk kennenlernt, ist Mbu erstmal skeptisch. Aber nachdem er in das von Lutz van Dijk geführte Kinderhaus in Masiphumelele zieht, ändert sich Mbu´s Leben zum Positiven - und es entsteht die Idee zum Buch. Van Dijk hat bereits mehrere Jugendbücher geschrieben und dafür verschiedene Preise bekommen. In seinem Buch "Themba" zum Beispiel geht es um einen HIV-infizierten Jungen, der davon träumt in der Fußballnationalmannschaft zu spielen. Zur Fußball-WM im vergangenen Jahr kam der Film zum Buch auch in die deutschen Kinos. Lutz van Dijk hätte nie damit gerechnet, dass der schüchterne Mbu ein Buch über sein Leben schreiben wollen würde.

    "Und das war dann sehr beeindruckend, als auf der Beerdigung seines besten Freundes Arti, nachdem der ermordet worden war nach einem Straßenkampf, Mbu auf der Beerdigung gesprochen hat. Er hat vor den Straßenkindern die Trauerrede für Arti gehalten. Und da hat er glaub ich gemerkt, welche Kraft seine Worte hatten gegenüber den Kindern, die da zugehört haben. Es war dann ein oder zwei Wochen später, dass er mich gefragt und gesagt hat: Lutz, du weißt doch, wie man Bücher schreibt. Kannst Du mir helfen, ein Buch für Arti zu schreiben. Und so hat es begonnen."

    Atie war Mbu´s bester Freund und wie er ein Straßenkind. Die Beiden hatten sich zusammen einen alten Bauwagen als Behausung umgebaut. In einer Welt voller Armut und Kriminalität, in der man nie weiß, ob und wie man den nächsten Tag überleben wird, ist wahre Freundschaft so wichtig. Diese Freundschaft allerdings wird durch Atie´s Tod jäh beendet. Da das Buch kein Roman ist, sondern der Lebensbericht eines 18-jährigen Jungen. Obwohl Mbu kein Schriftsteller ist, bei dem es um wohlklingende Formulierungen geht, ist das Buch ergreifend. Oder vielleicht gerade deshalb. Es tut weh zu lesen, welch Ungerechtigkeiten, Schmerzen und Trauer Mbu in seinem Leben bereits erleben musste.

    "Als ich das Buch geschrieben hab, wollte ich oftmals nicht darüber nachdenken, was ich da schrieb. Ich habe oft geweint. Deshalb hab ich oft Pausen gemacht beim schreiben. Aber ich hab mir immer wieder gesagt: Du musst weiter machen. Und dann hab ich gemerkt, dass mir das schreiben geholfen hat, mit meiner Vergangenheit fertig zu werden."

    "Die erste Lektion im Leben: Lerne deine Gefühle zu kontrollieren, hör auf mit Heulen – halte die Klappe. Sei ruhig. Rede nicht. Reden bringt nur Ärger. Erwachsene hören sowieso nicht zu. Warum also reden? Warum teilen, was du denkst, was du fühlst, wovon du träumst, wonach du dich sehnst? Vielleicht kannst du einen Freund finden zum Reden. Aber nicht die Familie. Nicht mit deiner Mutter. Und bestimmt nicht mit den Männern, die sie anschleppt. Halte den Mund. Schau einfach neutral. Eine Maske. Das ist gut. Dann kann dich niemand leicht verurteilen. Selbst wenn sie denken, dass du blöd bist, weil du nie den Mund aufbekommst. Kein Problem. Sei nur still."

    "Ich dachte manchmal an das Tagebuch der Anne Frank. Wirklich das Zeugnis eines Kindes, wie bei Anne Frank, wo Millionen jüdischer Kinder ein ähnliches Schicksal hatten. Aber kaum einer so eine starke Stimme gefunden hat wie dieses Mädchen. Und ich finde, dass Mbu eine besonders starke Stimme gefunden hat. In aller Bescheidenheit, in aller Ehrlichkeit auch. Und das hat mich noch mehr berührt als wenn er sehr ausführlich beschrieben hätte, wie weh bestimmte Erfahrungen tun."

    Obwohl es bereits viele wissenschaftliche Arbeiten über Straßenkinder gibt, passiert es nur ganz selten, dass ein Straßenkind selbst Einblick in sein Leben gewährt. Entstanden ist die traurige und ergreifende Geschichte eines Jungen, der versucht, einen Platz in der Welt zu finden ohne kriminell zu werden, wie so viele andere Straßenkinder. Ein bewegendes Buch, über eine Welt, in der niemand leben möchte.

    "Die schlimmste aller Nächte war jene, als ich nicht nur keinen vernünftigen windgeschützten Platz finden konnte, sondern es auch noch wie aus Eimern zu schütten begann. Der einzige Schutzraum, der mir schließlich einfiel, war eines der öffentlichen, dreckigen Reihenklos. Als ich aufwachte, war mir übel vom Gestank, und ich musste mich augenblicklich übergeben. Ich fühlte mich nur schrecklich. Wie der letzte Dreck, nein, schlimmer noch – wie Scheiße. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich nicht wusste, ob ich überhaupt weitermachen wollte. Dass ich einfach dachte: Genug ist genug. Vielleicht ist der Tod besser als das Leben. Wer weiß? Vielleicht."

    Mbu Maloni und Lutz van Dijk: "Niemand wird mich töten" Verlag: Hammer, 150 Seiten, 12,90 Euro