Bislang gilt in Deutschland: Entweder man ist arbeitsfähig oder eben nicht. Dazwischen gibt es nichts, außer bei Wiedereingliederungsmaßnahmen nach langer Krankheit. Bei einer Teilkrankschreibung dagegen ist es möglich, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihrer beruflichen Tätigkeit lediglich für einige Stunden am Tag nachgehen. Auf diese Weise könnte der krankheitsbedingte Mitarbeitermangel in vielen Bereichen und Unternehmen abgeschwächt werden, sagen die Befürworter.
Kontroverse Diskussion
So hält der Präsident der Bundesärztekammer, Reinhardt, Krankschreibungen für nur einige Stunden am Tag bei kleineren Infekten für praktikabel. Dank Homeoffice könnte man demnach berufliche Aufgaben im begrenzten Umfang wahrnehmen, sich dennoch erholen und zugleich das Anstecken von Kollegen vermeiden, sagte Reinhardt den Zeitungen der Funke Mediengruppe.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund lehnt solche Überlegungen kategorisch ab. Die Idee sei schlicht absurd, sagte Vorstandsmitglied Piel der Nachrichtenagentur dpa. Wer krank und arbeitsunfähig sei, solle sich vollständig auskurieren. Ansonsten steige das Risiko, länger und ernsthafter zu erkranken sowie andere anzustecken. Schon heute gingen viel zu viele Menschen krank zur Arbeit oder arbeiteten krank von zu Hause aus.
Vorbild Skandinavien
Anders als in Deutschland setzen skandinavische Länder bereits seit Jahrzehnten auch auf Teilkrankschreibungen. So konnte Schweden offiziellen Angaben zufolge mit der Einführung der Regelung nicht nur die Höhe der Arbeitsunfähigkeit reduzieren, sondern auch die Krankengeldzahlungen. Rund ein Drittel der Krankgeschriebenen nutzt dort Teilkrankschreibungen.
Die Regelung in Schweden sieht so aus: Je nach Krankheit kann die Arbeitsfähigkeit bei 25, 50 oder 75 Prozent eingestuft werden. Ärzte stellen dabei die Diagnose und beurteilen das Arbeitsvermögen. Basis dafür sind Leitlinien der staatlichen Sozialversicherung, die gemeinsam mit Fachleuten entwickelt wurden. Die Sozialversicherung entscheidet dann auf Empfehlung der Ärzte über die Höhe der Arbeitsfähigkeit.
Einer der Gründe, warum das System in Schweden so erfolgreich ist, sind die Vorschriften beim Krankengeld. Anders als in Deutschland erhalten Menschen in Schweden von ihrem Arbeitgeber nur zwei Wochen lang etwa 80 Prozent ihres Gehalts als Krankengeld, danach tritt die staatliche Sozialversicherung Försäkringskassan ein. Manche möchten wohl auch deshalb teilweise arbeiten, um die eigenen Lohnverluste zu begrenzen.
In Deutschland dagegen bekommen Festangestellte in der Regel vom ersten Tag der Krankheit ihr Gehalt in voller Höhe sechs Wochen lang vom Arbeitgeber bezahlt. Danach zahlen die Krankenkassen etwa 70 Prozent des Bruttogehalts als Krankengeld – bis zu 78 Wochen innerhalb von drei Jahren.
Wirtschaftsexperte schlägt Freiwilligkeit vor
Diese Regelung könnte laut dem Arbeitsmarktexperten Ziebarth vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) ein Grund für den hohen Krankenstand sein: "Deutschland hat mit seiner sechs Wochen langen 100-prozentigen Lohnfortzahlung im Krankheitsfall eines der großzügigsten Lohnfortzahlungssysteme der Welt," sagte er der Berliner Morgenpost. Dadurch könne es dazu kommen, dass sich manche schon bei leichter Erkältung krankmeldeten. In anderen Ländern, wo es solche großzügigen Fortzahlungen nicht gebe, werde Krankheit eher zu einer ökonomischen Frage.
Ziebarth, der im ZEW den Forschungsbereich "Arbeitsmärkte und Sozialversicherungen" leitet, ist überzeugt, dass sich auch in Deutschland manche Arbeitnehmer imstande fühlen, "trotz Krankheit 4 Stunden zu arbeiten, wollen dies auch, aber dürfen es gesetzlich nicht".
Für Deutschland kann sich der Wirtschaftsexperte eine freiwillige Lösung vorstellen, auf die sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer einigen. Dies gelte nicht für alle Krankheiten, betont Ziebarth, aber wer beispielsweise mit seinem kranken Kind zum Arzt müsse, könne nach dem Besuch möglicherweise auch noch 4 Stunden arbeiten.
Prüfung durch das Bundesgesundheitsministerium
Das Bundesgesundheitsministerium der Vorgängerregierung hatte bereits 2018 prüfen lassen, ob die Teilarbeitsfähigkeit in Skandinavien auf Deutschland übertragbar wäre. Die Gutachter empfahlen, den Perspektivwechsel weg von "der Arbeitsunfähigkeit als Entweder-Oder-Entscheidung hin zur Konzentration auf die verbliebene Arbeitsfähigkeit" zu prüfen. Die Förderung der Rückkehr erkrankter Arbeitnehmer ins Arbeitsleben sei positiv.
Allerdings sahen die Fachleute damals noch viele offene Fragen und Hürden. Unter anderem, wie die individuelle Teilarbeitsfähigkeit je nach Krankheit adäquat eingeschätzt werden könne und wie Schnittstellen zwischen Arbeitgebern, Kranken- und Sozialkassen koordiniert werden können. Hier besteht ein weiterer Unterschied: In Schweden wird das Gesundheitssystem aus Steuern finanziert, in Deutschland von Arbeitnehmern und Arbeitgebern.
Diese Nachricht wurde am 31.10.2024 im Programm Deutschlandfunk gesendet.