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Studie
Übermäßige polizeiliche Gewalt wird nur selten aufgearbeitet

Übermäßige polizeiliche Gewalt wird einer Studie zufolge nur selten aufgearbeitet. Dies sei unter anderem darauf zurückzuführen, dass es nur eine geringe Bereitschaft gebe, Anzeige zu erstatten, heißt es in der Untersuchung der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.

19.05.2023
    Verschwommene Polizisten des SEK Dresden. Davor eine Polizeiabsperrung. (Archivbild)
    Zu übermäßiger Polizeigewalt kommt es z.B. bei Großveranstaltungen, aufgearbeitet wird sie nur selten. (Archivbild) (IMAGO / xcitepress / IMAGO / xcitepress / benedict bartsch)
    Ein Großteil der Verdachtsfälle verbleibe dadurch im Dunkelfeld. Strafverfahren zu Verdachtsfällen werden den Angaben zufolge meist eingestellt, weil häufig Aussagen der Betroffenen denen der einsatzbeteiligten Polizisten gegenüberstünden und es an weiteren Beweismitteln fehle.

    Kriminologe Singelnstein: Leute denken, sie hätten keine Chance im Verfahren

    Der Leiter des Forschungsprojektes, Tobias Singelnstein, sagte dem Deutschlandfunk, die Leute dächten, sie hätten keine Chance in so einem Strafverfahren. Ein Grund sei, dass sie glaubten, dass Polizeibeamte ohnehin einen strukturellen Vorteil hätten und es nicht zu einer Verurteilung komme. Und tatsächlich ist es nach den Worten des Kriminologen und Strafrechtlers auch so, "dass wir eine unterdurchschnittliche Verurteilungsquote haben, also, dass deutlich weniger Fälle mit einer Verurteilung enden, als es im Durchschnitt der Fall ist."

    "Und für die bricht dann unter Umständen eine Welt zusammen."

    Singelnstein skizzierte in diesem Zusammenhang zwei Gruppen von Menschen. Die einen machen häufiger negativer Erfahrungen mit der Polizei und seien entsprechend "häufig relativ desillusioniert", weshalb sie eher auf Anzeigen verzichteten. Auf der anderen Seite gebe es Leute, die eigentlich ein sehr positives Bild von der Polizei hätten und dann schlechte Erfahrung mit ihr machten. "Und für die bricht dann unter Umständen eine Welt zusammen." Allerdings erhoffen sie sich noch eher, dass sie auf juristischem Wege zu ihrem Recht kommen und erstatteten häufiger Anzeige. Für sie sei es jedoch eine entsprechend "drastische Erfahrung", wenn sie erlebten, dass sie scheiterten.
    Zu übermäßiger Polizeigewalt kommt es der Studie zufolge vor allem bei Großveranstaltungen wie Demonstrationen und Fußballspielen sowie in Konfliktsituationen oder bei Personenkontrollen. Vor diesem Hintergrund gibt es laut Singelnstein Menschen, die häufiger solche Erfahrungen machten. Das liege etwa daran, dass sie regelmäßiger auf solche Versammlungen gehen oder dass sie Menschen mit Rassismuserfahrungen in weißen Mehrheitsgesellschaften sind - sogenannte People of Color - die sagten, dass sie häufig von der Polizei kontrolliert werden.

    Mehr als 3.300 Betroffene befragt

    Das Forschungsteam hatte mehr als 3.300 Betroffene sowie Polizeikräfte, Richter und Opferberatungsstellen befragt. Der Begriff "übermäßige Gewaltanwendung" wird definiert als "Handlungen, die Grenzen des Akzeptablen überschritten haben, aber nicht zwingend rechtswidrig sind".
    Die Forscher hatten bei der Erhebung ihrer Daten nach eigenen Angaben wenig Widerstände innerhalb der Polizeibehörden zu überwinden. Man könne sich da nicht beschweren, betonte Singelnstein. Man habe den Zugang in hinreichendem Maße bekommen. Natürlich habe man auch Abwehr gespürt. Aber eine ganze Reihe von Beamtinnen und Beamten hätten auch gesagt, es sei gut, dass mal jemand einen Blick auf das Themenfeld werfe.

    "Polizei sorgt sich um ihr Bild in der Öffentlichkeit"

    Für die Polizei sei es ein schwieriges Thema, führte der Professor aus, weil sie Sorge um ihr Bild in der Öffentlichkeit habe, um die Legitimität ihres Handelns oder die Wahrnehmung der Legitimität ihres Handelns. Die Polizei strebe danach, Situationen, Einsätze zu dominieren, dort die Hoheit zu haben. Wenn diese Hoheit in Frage gestellt werde, liege es schnell nahe, die Autorität durch einen Gewalteinsatz wiederherzustellen. Für die Beamtinnen und Beamten sei es dann häufig schwierig, so Singelnstein, "noch einen Schritt zurückzugehen und noch mal durchzuatmen, noch mal zu überlegen: Geht es nicht vielleicht doch anders?"
    Nach den Worten des Wissenschaftlers ist die Gesellschaft generell sensibler für Gewalt geworden. Vor 30 oder 40 Jahren seien Wirtshaus- und Schulhofschlägerei "noch relativ sozialadäquate Erscheinungen" gewesen. Heute empfinde man das als problematisch. Und das gelte auch für polizeiliche Gewalt.

    Mehr Transparenz gefordert

    Singelnstein fordert, jetzt mehr Transparenz zu schaffen, was polizeiliche Gewaltausübung überhaupt ausmache. Man wisse zum Beispiel nicht, wie häufig die Polizei überhaupt Gewalt einsetze. Es sei nicht einmal bekannt, wie viele Menschen in Deutschland im Zusammenhang mit Polizeieinsätzen zu Tode kämen.

    Studie auch Thema in den "Systemfragen" im DLF

    Eine Zusammenfassung des Forschungsprojektes können Sie hier nachlesen. Im Deutschlandfunk befasst sich die Sendung "Systemfragen" am Donnerstag, 18. Mai, ausführlich mit dem Thema - dann können sie auch das ganze Interview mit Tobias Singelnstein hören.
    Diese Nachricht wurde am 16.05.2023 im Programm Deutschlandfunk gesendet.