Überschwemmungen
Warum naturnaher Hochwasserschutz auf Widerstände stößt

Hohe Pegelstände über Wochen, großflächige Überschwemmungen: Viele Gebiete in Deutschland müssen künftig mit lange andauerndem Hochwasser rechnen. Experten fordern mehr natürlichen Hochwasserschutz, stoßen aber noch oft auf Mauern, auch im Denken.

    Luftaufnahme: Wasser breitet sich auf Feldern aus im Abendrot
    Hochwasser: Zu viele versiegelte Flächen und Landwirtschaft lassen den Flüssen in Deutschland wie hier der Leine bei Hannover oft zu wenig Platz. (picture alliance / dpa / Julian Stratenschulte)
    Dauerregen und großflächige Überflutungen haben Anfang 2024 vor allem Niedersachsen und Sachsen-Anhalt schwer getroffen. Nach wissenschaftlichen Prognosen wird es künftig im Winter öfter lang andauernde Hochwasserperioden geben – infolge des Klimawandels. Eine Gefahr dabei: Extreme Wasserstände über lange Zeit weichen die Deiche auf.
    Viele Maßnahmen, die das verhindern oder mindern könnten, sind seit langem bekannt. Doch Experten wie der Wasserbauingenieur Holger Schüttrumpf beschreiben folgendes Phänomen: Nach Katastrophen wie der Ahrtal-Flut gibt es eine große Betroffenheit. Dann aber setze die „Hochwasser-Demenz“ ein: „Das Thema wird vergessen.“ Schüttrumpf und andere Experten mahnen ein Umdenken an; Hochwasserschutz bestehe nicht nur aus Deichen.

    Was natürlicher Hochwasserschutz bedeutet

    Die Infrastruktur-Politik der vergangenen Jahrzehnte hat dazu geführt, dass Naturflächen, die die Wassermassen speichern könnten, zum großen Teil zerstört wurden. So wurden Flüsse begradigt und Moore trockengelegt, um die Flächen landwirtschaftlich nutzen oder bebauen zu können. Nun steht das Wasser in den Kellern vieler Häuser.
    Von den einstigen Flussauen in Deutschland existiert heute nur noch ein Drittel. Und auch von diesem Drittel funktionieren viele nicht mehr naturnah, wie der Hydrologe Ralf Merz berichtet. Teile davon sind zum Beispiel Äcker. Wirklich intakt ist nach Angaben des Ökologen Mathias Scholz tatsächlich nur noch ein Prozent der Auwälder in Deutschland.
    Die Fachleute sind sich in Anbetracht der künftig häufiger zu erwartenden Wetterextreme einig: Das Wasser muss in der Landschaft gehalten werden, Flüsse müssen wieder mehr Raum bekommen. Dann fließen sie langsamer, die Wasserstände sinken – und die Belastung der Deiche in besiedelten Gebieten nimmt ab.

    Deichverlegungen und "resiliente" Lebensräume

    Um Flussauen wiederzugewinnen, ist nach Angaben des Ökologen Scholz eine großflächig geplante Rückdeichung notwendig, ein Zurückverlegen der Deiche. Die Auen dürften dann auch nicht mehr konventionell als Maisacker genutzt werden - es müssen „resiliente Lebensräume“ entstehen.
    Dazu gehören Auwälder, die mitunter schon im Mittelalter zugunsten der Landwirtschaft gerodet wurden, wegen ihrer nährstoffreichen Böden. „Bis ein Auwald wieder richtig intakt ist, dauert es zum Teil über hundert Jahre. Wir müssen uns eingestehen, dass wir dafür auch Zeit brauchen“, betont Scholz.
    Doch der Experte kann auf einige Beispiele von Rückdeichungen verweisen, die Hochwasserwellen mindern und mehr Biodiversität schaffen sollen: an der Elbe in Lenzen (Brandenburg) oder bei Lödderitz (Sachsen-Anhalt) etwa. Auch in Nordrhein-Westfalen hat sich laut Scholz etwas getan. Beispielsweise wurde die Emscher-Mündung in den Rhein umverlegt und mit einer neuen Auenfläche von rund 20 Hektar versehen. Der Vorteil derartiger Gebiete ist auch im Sommer zu spüren: Sie sorgen in heißen Monaten für Abkühlung und wirken sich positiv auf das Mikroklima aus.

    Niedrigere Pegelstände in den Niederlanden

    Vorbild für nachhaltigen Hochwasserschutz könnten zum Beispiel die Niederlande sein: Nach dem Rhein-Hochwasser von 1995 begann das Land, das milliardenschwere Programm „Mehr Raum für den Fluss“ umzusetzen. Innerhalb von zwei Jahrzehnten gab es 35 Einzelprojekte, zum Beispiel mehr Seitenkanäle und vertiefte Flussauen.
    Studien zufolge vermindern die Maßnahmen die Pegelstände bei Hochwasser mitunter um ein bis zwei Meter. Im oberen Teil der Maas etwa sind die Risiken für ökonomische Schäden dadurch nach Angaben von Ralph Schielen, Forscher an der TU Delft und Mitarbeiter der staatlichen Behörde für Wassermanagement, enorm gesunken – um mehr als 600 Millionen Euro.
    Schielen erinnert an 2021, das Jahr der Flutkatastrophe an der Ahr, als im Westen Deutschlands und in Belgien mehr als 220 Menschen starben. Damals war auch Limburg im Süden der Niederlande betroffen: „Dort konnten wir tatsächlich feststellen: Unsere Maßnahmen haben den Hochwasser-Höchststand um etwa einen Meter verringert.“ Es habe zwar große Schäden gegeben, aber niemand sein Leben verloren, so Schielen.

    Skepsis gegenüber natürlicher Hochwasservorsorge

    Um naturnahen Hochwasserschutz zu erreichen, hält der Ökologe Mathias Scholz einen gesellschaftlichen Transformationsprozess für unausweichlich. Eine Studie des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung in Leipzig (UFZ) zeigt die Schwierigkeiten dabei auf (hier die lange englische Fassung).
    Die Forschenden wollten herausfinden, warum die ortsansässige Bevölkerung natürlicher Hochwasservorsorge oft kritisch gegenübersteht und eher technische Lösungen wie Deiche oder Rückhaltebecken befürwortet. Das Team befragte gut 300 Menschen in Sachsen-Anhalt an der Elbe, in deren Nähe Deiche rückverlegt und Auen renaturiert wurden.
    Das Ergebnis: Menschen, die sich durch Hochwasser bedroht fühlen oder es schon einmal erlebt haben, sind gegenüber naturnahen Maßnahmen eher ablehnend. Auch wer starke Ortsverbundenheit fühlt, äußert sich ähnlich. Die Eingriffe in die Landschaft erscheinen gravierend.
    Durch den rückverlegten Deich gelange das Wasser bei Hochwasserständen womöglich viel näher an das eigene Haus, so Risikoforscher Christian Kuhlicke, einer der Autoren der Studie: „Dass der Fluss nun sichtbarer ist, kann insbesondere Menschen, die schon häufiger von Hochwasser betroffen waren, Angst machen – obwohl die Sicherheit durch die neuen Maßnahmen tatsächlich höher sein kann als zuvor.“
    Die Studie ergab aber auch: Gute Kommunikation und Aufklärung tragen dazu bei, dass Menschen naturnahe Maßnahmen positiver bewerten.

    Selbst im Ahrtal wiederholt man alte Fehler

    Kuhlicke sieht hier ein großes Defizit bei Wasserbehörden, die selbst noch zu oft nur auf Mauern und Dämme setzten. Selbst im Ahrtal mache man wieder alte Fehler. Dort solle vieles wieder so aufgebaut werden wie es vorher war: “Damit tut man den Menschen wahrscheinlich keinen Gefallen. Deswegen ist es ehrlicher und auch langfristig besser, man befasst sich jetzt mit den Widerständen und Befürchtungen und den lokalen Identitäten, als wenn man so tut, als würde sich das Problem von allein lösen. Das wird es nicht tun. Das wird wiederkommen.“
    Kuhlicke und sein Team empfehlen den Verantwortlichen, in Gesprächen mit der Bevölkerung nicht den Klima- und Artenschutz in den Vordergrund zu stellen. Das sei zwar ein wichtiger Effekt. Noch wichtiger aber sei der Schutz von Menschen.
    Natürliche Hochwasservorsorge bedeutet nicht nur das Rückverlegen von Deichen, die Entsiegelung von Flächen oder das Aufforsten von Wäldern, damit sie wie ein Schwamm das Wasser halten: Es kann auch heißen, einmal eine ganze Ortschaft umsiedeln zu müssen. Dann geht es um Besitzverhältnisse und die Frage, wie die Interessen Einzelner mit denen der Gemeinschaft in Einklang zu bringen sind.
    Wer gibt freiwillig sein Haus auf? Müsste man Grundstücke im schlimmsten Fall enteignen? „Wir haben es an anderen Stellen über Jahrzehnte gemacht, dass Menschen enteignet worden sind, beispielsweise für die Kohletagebaue oder auch für den Autobahnbau“, gibt Deutschlandfunk-Korrespondentin Ann-Katrin Büüsker zu bedenken. Tatsächlich ist Enteignung in Deutschland nach Grundgesetz-Artikel 14 erlaubt – „zum Wohle der Allgemeinheit“, wie es da heißt. „Aber beim Hochwasserschutz ist das noch ein so heißes Eisen, dass da niemand ran möchte“, sagt Büüsker.

    Viele denken nicht an Eigenvorsorge

    Bei allen langfristigen Maßnahmen – wichtig ist erst einmal, überhaupt zu wissen, dass man potenzíell von Hochwasser betroffen sein könnte, so Wasserbauingenieur Holger Schüttrumpf. Er empfiehlt, in Hochwassergefahren- und -risikokarten zu schauen. Diese liegen für fast alle Flusseinzugsgebiete in Deutschland vor.
    Schüttrumpf ist sich sicher, dass das auch im Fall des Hochwassers im Januar 2024 „an der einen oder anderen Stelle“ geholfen hätte. Nach der Ahrtal-Flutkatastrophe 2021 habe sich gezeigt, dass siebzig bis achtzig Prozent der Betroffenen gar nicht wussten, dass sie betroffen sein könnten. Und wer das nicht weiß, hat auch keine Pumpe zuhause, um die schwersten Schäden im Keller zu vermeiden.

    bth