"Ein Supermarkt brennt. Und die Frau, die das Feuer gelegt haben soll, war erst wenige Monate zuvor aus der Sicherungsverwahrung entlassen worden…"
Der Fall schaffte es bis ganz nach vorne bei den SWR-Fernsehnachrichten in Baden-Württemberg: Eine 47-jährige Frau aus dem oberschwäbischen Ravensburg kommt nach jahrelanger Haft und darauf folgender Sicherungsverwahrung frei. Kurz darauf steckt sie wieder einen Supermarkt in Brand. Das Besondere an diesem Fall: Die Frau gehörte zu jenen 60 Personen bundesweit, die eine 'elektronische Fußfessel' tragen müssen. Die allerdings hat sich die Frau zuhause einfach abgestreift – unbemerkt.
"Oh Mist. Es war jetzt für mich nicht besonders überraschend, dass man die Fußfessel abschneiden kann. Das ist klar, dass das möglich ist. Ich war ein wenig überrascht, dass das nicht schneller aufgefallen ist."
Für Anne Bräuchle, Juristin am Institut für Kriminologie der Universität Tübingen, ist dies ein wichtiger Hinweis. Denn sie arbeitet an dem bundesweit einmaligen Forschungsprojekt "Evaluierung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung", eine etwas umständliche Bezeichnung für das, was landläufig als 'elektronische Fußfessel' bekannt ist: ein kleines Gerät am Fußgelenk eines Straftäters, das mit einem Sender stets die Position an die Ermittlungsbehörden funkt. Damit, so die Zielsetzung, steht der Betroffene unter einer 24-Stunden-Dauerüberwachung.
"Also wenn man ganz weit zurückgeht, dann wurde das in den frühen 60er-Jahren in den USA das erste Mal entwickelt, vom Psychologen Gable. Es gab am Anfang nicht den ganz großen Anklang dafür. Es hat sich dann aber vor allem in den USA seit Anfang der 80er-Jahre durchgesetzt, was, soweit ich weiß, auch mit einer Überpopulation der Gefängnisse zusammenhing."
Ersatz für Sicherheitsverwahrung
Fußfessel statt Knast – in der deutschen Justiz war dieses Modell bis vor wenigen Jahren kein Thema. Dann aber kam jener 17. Dezember 2009, an dem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ein richtungsweisendes Urteil verkündete: Demnach verstoße die deutsche Praxis der Sicherungsverwahrung, wonach als gemeingefährlich eingestufte Straftäter nach dem Absitzen ihrer regulären Haftstraßen hinter Schloss und Riegel bleiben, unter bestimmten Umständen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Ähnlich entschied wenig später das Bundesverfassungsgericht.
"Und diese beiden Urteile haben etwas vereinfach gesagt ausgedrückt, dass man so nicht weiter machen kann. Und in der Folge mussten einige Leute aus der Sicherungsverwahrung entlassen werden…"
…unter anderem Sexualstraftäter, aber auch die wegen mehrfacher Brandstiftung verurteilte 47-Jährige aus Ravensburg. Was aber tun, wenn solche Straftäter mit hoher Rückfälligkeits-Prognose nicht mehr, wie das im Amtsdeutsch heißt, "sicherungsverwahrt" werden dürfen? Professor Jürgen Kinzig, Leiter des Kriminologischen Institutes an der Uni Tübingen:
"Der Gesetzgeber hat reagiert, in dem er gesagt hat: Wir nehmen die Fußfessel zu einem Baustein, um zu einer Überwachung dieser Menschen, die aus der Sicherungsverwahrung gekommen sind."
Doch ist die elektronische Fußfessel tatsächlich ein sinnvoller 'Baustein', um die Allgemeinheit einerseits vor gefährlichen Straftätern zu schützen, andererseits aber auch die Freiheitsrechte der Strafgefangenen zu achten? Diesen Fragen wollen die Tübinger Forscher in den kommenden Jahren nachgehen. Ob das Ziel, die Gesellschaft vor rückfälligen Straftätern zu schützen, wirklich erreicht wird, daran lassen Meldungen wie die jüngst aus Ravensburg Zweifel aufkommen. Uwe Stürmer leitet die Kriminalpolizei beim Polizeipräsidium Konstanz:
"Die Fußfessel ist natürlich kein geeignetes Mittel, um die konkrete Ausführung einer Tat sofort zu verhindern. Denn die Reaktionszeit ... da vergeht eine gewisse Zeit, wenn es auch nur wenige Minuten sind…"
Das "perfekte Maß an Sicherheit"
Da bleibt ein schaler Nachgeschmack. In Göttingen gelang es zwar der Polizei, einen versuchten Mord an einer Rentnerin aufzuklären; die entscheidenden Hinweise bekamen sie durch die elektronische Fußfessel, die der Tatverdächtige trug. Allerdings konnten die Beamten den Überfall des Tatverdächtigen an sich auf die Rentnerin dennoch nicht verhindern. Jürgen Kinzig zieht aus solchen Fällen eine eher kritische Schlussfolgerung:
"Und jetzt versucht man, und das versucht die Rechtspolitik immer wieder, manchmal nicht ganz unproblematisch, zu erreichen, ein perfektes Maß an Sicherheit herzustellen. Und manchmal denke ich, wäre die Kriminalpolitik besser angeraten, wenn sie dem Bürger mehr vermittelt, dass man sich zwar dahingehend bemühen sollte, dass man eine perfekte Sicherheit zu einem vernünftigen rechtsstaatlichen Preis auf diesem Gebiet nicht wird herstellen können."
Und gerade für die Anwendung der elektronischen Fußfessel müsse die Gesellschaft einen hohen rechtsstaatlichen Preis bezahlen.
"Es ist schon eine weitere Ausweitung der Kontrolle, die wir erleben."
Hinzu kommt ein rechtsethisches Problem: Bei den 60 Trägern von elektronischen Fußfesseln in Deutschland handelt es sich zwar um rechtskräftig verurteilte Straftäter. Die aber haben ihre Haftstrafen abgesessen, gelten damit als Bürgerinnen und Bürgern mit dem Recht auf freie Bewegung. Dies könne nur unter ganz bestimmten Umständen eingeschränkt werden, beispielsweise wenn ein Bedrohungspotenzial für die Allgemeinheit vorliegt. Dem Recht auf Freiheit des Betroffenen bei gleichzeitigem Schutz der Allgemeinheit verschafft eine Fußfessel zweifelsohne mehr Geltung als die weitere Unterbringung im Gefängnis, zumindest beim ersten Hinsehen. Anne Bräuchle:
"Das würde ich prinzipiell auch erst einmal so sehen, aber ich halte den Vergleich für nicht ganz zulässig. Weil: Es handelt sich um Personen, die nicht mehr im Strafvollzug oder in der Sicherungsverwahrung sein müssen oder dürfen. Oder deswegen ist es schwierig zu sagen, alles ist besser als Gefängnis. Weil die Alternative wäre nicht Gefängnis. Die Alternative wäre Freiheit."
Probleme im Alltag
Die aber schränkt die elektronische Fußfessel nach wie vor ein. Dies kann deshalb dem Ziel der Resozialisierung eines in die Freiheit entlassenen Straftäters entgegenstehen. Nach Ansicht von Jürgen Kinzig wird das kleine Gerät am Fußgelenk schnell mal zum Klotz am Bein auf dem Weg in ein normales Leben.
"Stellen Sie sich vor, jemand trägt diese Fußfessel. Und die ist dann noch kombiniert mit einem Aufenthaltsgebot. Und dann findet er glücklicherweise Arbeit. Und dann sagt der Arbeitgeber mal kurzfristig, jetzt müsstest du mit uns mal auf Montage fahren in ein anderes Gebiet, der Arbeitgeber weiß nichts von dieser Fußfessel. Dann steht der Proband vor dem Problem: Jetzt kann er eigentlich nicht mitfahren. Denn dann würde das Alarm auslösen. Und da würde man auch sehen, dass die Fußfessel vielleicht kontraproduktiv sein kann für die Resozialisierung."
Inwiefern solche Befürchtungen tatsächlich berechtigt sind oder nicht, lässt sich nur anhand der Erfahrungen der Strafvollzugsbehörden, aber auch der Betroffenen über Jahre hinweg verlässlich sagen. Deshalb werden die Tübinger Forscher in nächster Zeit mit Richtern, Staatsanwälten, Bewährungshelfern und Polizisten sprechen, später auch mit den Betroffenen selbst. Die Ergebnisse sind offen. Allerdings möchte Projektleiter Jürgen Kinzig schon heute eine Anwendung der elektronischen Fußfessel im regulären Strafvollzug der Zukunft nicht ausschließen.
"Ich halte das schon grundsätzlich für denkbar. Das ist wie so eine Art Hausarrest. Andererseits muss man sehen: Unsere Gefängnisse sind nicht mehr so voll, was aber nicht ausschließt, dass die Politik, man denkt ja immer daran, zu sparen, darauf verfallen könnte, ob die Fußfessel vielleicht auch ein adäquates Mittel wäre, um den Strafvollzug weiter zu entlasten."