Jörg Münchenberg: Auch für die Kanzlerin war das gestern sicherlich ein schwieriges Treffen mit den Angehörigen, ein Jahr nach dem Anschlag vom Berliner Breitscheidplatz, zumal Angela Merkel wiederholt vorgeworfen worden ist, sie zeige zu wenig Empathie für die Betroffenen. Doch jenseits der Debatte über die angemessene Anteilnahme am Schicksal der Hinterbliebenen stellt sich auch die Frage nach der inneren Sicherheit und den notwendigen Konsequenzen aus dem Attentat, zumal sich die Behörden im Rückblick massive Schlampereien vorwerfen lassen mussten.
Zugehört hat Herbert Reul (CDU), Innenminister von Nordrhein-Westfalen, unterwegs derzeit im Auto. Herr Reul, einen schönen guten Morgen.
Herbert Reul: Schönen guten Morgen!
Münchenberg: Herr Reul, Gefährder sollen heute besser und schneller eingeschätzt werden. Dazu sollen sie auch schneller abgeschoben werden. Würden Sie so weit gehen und sagen, ein Fall Amri würde sich heute so nicht wiederholen?
Reul: So von mir aus. Ansonsten hat Herr Maaßen ja vollkommen recht: Eine hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht. Wir haben heute mehr Polizisten, wir sind besser vorbereitet, wir haben die Erfahrungen hinter uns. Ich glaube, der eine oder andere Fehler, der so gemacht wurde, wird nicht wiederholt werden. Aber man weiß ja nie genau, wo welche Personen von uns überwacht werden müssen. Wir haben einen bestimmten Kreis von Gefährdern, die wir kennen, die wir im Auge haben. Wir haben bestimmte technische Möglichkeiten, personelle Möglichkeiten. Aber ausschließen, dass noch mal so etwas passiert, kann man nicht.
"Wir tun uns schwer damit, abzuschieben"
Münchenberg: Rund ein Drittel der sogenannten Gefährder, derzeit 720 an der Zahl, haben ja einen ausländischen Pass. Müssen die jetzt bald mit ihrer Abschiebung rechnen?
Reul: Eine Abschiebung ist ein ähnliches Problem. Wir tun uns schwer damit abzuschieben. Das fängt schon mit der Frage an, dass wir über die Frage, in welche Länder wir abschieben dürfen, streiten zwischen den Parteien und uns nicht einigen können. Es geht dann weiter über Gerichtsurteile. Wenn Sie sich mal einschlägige Gerichtsentscheide bis zu den höchsten Gerichten anschauen, unter welchen Bedingungen heute noch abgeschoben werden darf, dann bedauere ich diejenigen, die in den Ausländerämtern diese Entscheidungen vorbereiten müssen, weil es sehr schwer ist, das auch umzusetzen.
Münchenberg: Trotzdem gab es ja auch Kritik an den Behörden, dass die zu langsam abgeschoben haben. Nicht nur, dass die Herkunftsländer verantwortlich sind, sondern auch die Behörden.
Reul: Ja, auch ein Teil des Problems, dass man zügiger die Entscheidungen treffen muss. Aber in einem Rechtsstaat bedeutet das immer auch ein sehr aufwendiges Verfahren, und wir machen es uns da nicht leicht. Wir machen es uns sehr schwer, solche Entscheidungen zu treffen. Und wenn sie dann getroffen worden sind von den zuständigen Behörden, dann werden sie beklagt, noch mal beklagt und noch mal überprüft und dann realisiert. Und wenn Sie Pech haben, hat derjenige, der da abgeschoben werden soll, gesundheitliche Probleme. Also es ist nicht ganz einfach.
Ich glaube, wir müssen da intensiver ran. Wir müssen da auch mehr Spielräume haben. Ich glaube, auch bei der Frage der Überwachung müssen wir noch weiter uns mit der Frage befassen, welche auch technischen Möglichkeiten wir einsetzen dürfen. Ich meine, wir können nicht einerseits alle beklagen, dass wir die Gefährder haben, und andererseits denen, die beim Verfassungsschutz oder bei der Polizei unterwegs sind, die technischen Möglichkeiten nicht geben, weil wir sagen, der Datenschutz hat absolute Priorität, und zwar über allem.
"Die Zusammenarbeit der Behörden ist heute besser"
Münchenberg: Sie plädieren für eine weitere Gesetzesverschärfung?
Reul: Ja, das muss man sich im Detail genau anschauen. Das gibt es nicht generell, aber bei uns in Nordrhein-Westfalen zum Beispiel gibt es dringenden Handlungsbedarf. In anderen Ländern auch, manche Länder sind ein bisschen besser. Aber Sie können schlecht Menschen überwachen, Gefährder überwachen, die uns gefährden und die die Menschen hier in Deutschland gefährden, wenn Sie gleichzeitig immer sagen, aber man darf - nehmen Sie das Beispiel Vorratsdatenspeicherung, nehmen Sie das Beispiel Abhören von Telefongesprächen, nehmen Sie das Beispiel von Fußfesseln anlegen wann oder unter welchen Bedingungen. Wir müssen da dann auch ein Stück den Sicherheitsbehörden die Spielräume geben.
Münchenberg: Nun kam ja bei Anis Amri auch ein ziemliches Organisationschaos dazu. Sieben Anklagebehörden haben damals ermittelt. Hat sich hier inzwischen organisatorisch etwas verändert, das heißt die Zuständigkeiten sind heute klarer verteilt?
Reul: Ja, ich glaube schon. Die Zusammenarbeit zwischen den Behörden ist heute besser als damals, angefangen von den Tatbeständen, dass einer mit unterschiedlichen Identitäten durch Europa reist. Da sind viele Vorkehrungen getroffen worden, auch technische wiederum. Im Abgleich von biometrischen Daten kann man heute eher verhindern, dass jemand doppelt erfasst wird. Die Datensysteme der Länder untereinander in der Bundesrepublik Deutschland, aber auch in Europa sind, ich würde nicht sagen, optimal, aber das ist viel besser geworden, sodass solche Risiken heute viel geringer sind.
"Informationen müssen ausgetauscht werden"
Münchenberg: Trotzdem: Ist das Kompetenzwirrwarr gerade im Zuge des Föderalismus nicht vorprogrammiert?
Reul: Entschuldigung!
Münchenberg: Ist das Kompetenzwirrwarr im Zuge des Föderalismus letztlich nicht vorprogrammiert?
Reul: Na ja. Es war ein Problem, die unterschiedlichen Kompetenzen. Ich glaube, wenn man das präzise regelt und dafür sorgt, dass insbesondere bei den Daten keine unterschiedlichen Systeme sind, sondern dass da ein unmittelbarer Abgleich auch erfolgt, dann ist der Föderalismus kein Problem. Es muss halt nur abgesprochen sein, es muss untereinander funktionieren und die Informationen müssen ausgetauscht werden.
Münchenberg: Nun gab es ja, Herr Reul, auch menschliche Pannen. Das LKA in Nordrhein-Westfalen etwa hat bei der Auswertung von Anis Amris Handy mehrere Fotos übersehen, die ihn mit einer Schreckschusswaffe gezeigt haben. Ist das dann letztlich der menschliche Faktor bei den Ermittlungen, den man nicht ausschließen kann?
Reul: Erstens kann man den nie ausschließen. Aber zweitens war das Problem, was Sie gerade benannt haben und was ich vor ein paar Wochen ja entdeckt habe, ein Problem, das auch mit Technik zu tun hat. Wenn Sie eine Software haben - es waren ja über 10.000 Fotos, die da angeschaut werden müssen. Wenn Sie die durch einen Automatismus laufen lassen und haben keine Software, die zum Beispiel immer dann reagiert, wenn da eine Waffe auftaucht, dann ist viel verlangt, 12.000 oder wie viele Fotos einzeln durchzuschauen. Das heißt, wir haben da schon einen Nachrüstbedarf in moderner Technologie. Es gibt eine ganze Menge an Technik, die den Polizisten oder den Sicherheitsbehörden es leichter macht, aber dann muss man auch bereit sein und sagen, jawohl, solch eine Software ist erlaubt, und die Bedenken, die wir haben, aus Datenschutzgründen zum Beispiel, werden ein Stück zurückgestellt. Denn wir leben ja in einem Rechtsstaat, wo man sicher sein kann, dass der Staat mit den Daten sorgfältig umgeht.
"Wir können uns nur darauf vorbereiten"
Münchenberg: Herr Reul, wie groß ist die gegenwärtige Terrorgefahr in Deutschland einzuschätzen, jetzt, Ende 2017?
Reul: Na ja. Solche Aussagen sind schwer zu treffen. Fakt ist, dass der IS vor Ort die Schlacht verliert, mehr oder weniger, und dass er deswegen versucht, die Auseinandersetzungen jetzt nach Europa zu tragen. Es ist kein Zufall, dass gerade in Europa, in Frankreich, in Deutschland, Belgien jetzt verstärkt Anschläge stattgefunden haben im letzten Jahr, und ich gehe davon aus, dass diese Gefahr eine permanente Gefahr bleibt. Wir können uns nur darauf vorbereiten und die beste Vorbereitung ist, frühzeitig informiert zu sein über das, was diejenigen, die da unterwegs sind, planen. Wir müssen uns auseinandersetzen mit der Frage, dass wir eine Rückreise bekommen aus Syrien von Gefährdern. Wir werden da neue Gruppen bekommen, die wir bisher noch gar nicht so im Blick hatten, Frauen verstärkt, aber auch Kinder. Wir werden Kinder zurückbekommen nach Deutschland, die hochgradig gewalttätig sind, die mit Gewalt sozialisiert worden sind. Da ist auch, glaube ich, noch keine perfekte Antwort da.
Münchenberg: Sie haben die Rückkehrer angesprochen, ehemalige Kämpfer der Terrormiliz IS, die jetzt zurückkehren. Auch Frauen sind darunter, die jetzt nach Deutschland zurückkommen. Gibt es da eigentlich halbwegs verlässliche Zahlen?
Reul: Von einigen hundert, würde ich mal sagen. Es ist nicht ganz einfach zu beantworten, weil wir nicht wissen, wer da in den kriegerischen Auseinandersetzungen auch das nicht überlebt hat. Es gibt Zahlen von 300. Das ist eine Größenordnung, von der man ausgehen kann.
"Ausreichend ist das nicht"
Münchenberg: Trotzdem stellt sich die Frage: Sind da die Behörden personell gut genug aufgestellt, damit sie auch diese Rückkehrer überwachen können?
Reul: Das ist auch schwer zu beantworten. Ich sage ja, soweit wir das jetzt können, aber ich könnte mir auch noch mehr vorstellen. Es ist doch gar keine Frage. Wenn es viele Menschen sind, die überwacht werden müssen, brauchen Sie auch sehr viele Verfassungsschützer oder Polizisten, und die brauchen Sie immer mehr. Umgekehrt: Wenn Sie natürlich auch Technologie in stärkerem Maße einsetzen können, von Telefon abhören bis hin zu der Frage, ganz anderes Beispiel, Fußfesseln, dann verringert das den Personalaufwand, den wir betreiben müssen. Insofern: Das gehört zusammen. Ja, wir haben mehr Polizisten, wir sind besser ausgerüstet. Aber ich glaube, ausreichend ist das immer nicht.
Münchenberg: Herr Reul, nun waren Sie ja lange Zeit auch Abgeordneter in Europa, in Brüssel, und ein Kritikpunkt im Zuge der Terroranschläge in Europa war ja immer wieder die mangelnde Zusammenarbeit zwischen den einzelnen europäischen Sicherheitsbehörden. Würden Sie da sagen, da hat sich inzwischen wirklich nachhaltig etwas geändert?
Reul: Da hat sich was verbessert, weil der Druck, weil die Not groß wurde. Aber es ist noch lange nicht genug passiert. Ich bin da persönlich entsetzt, immer noch, wie im Europäischen Parlament einige politische Gruppierungen mit Hinweis auf Datenschutz bei jedem dieser Vorschläge, die von der Kommission kommen, auf der Bremse stehen und das verhindern. Ich halte das für verantwortungslos. Ich muss wirklich sagen, mir fällt dazu nichts mehr ein, wenn man mit dem Hinweis darauf, es wären persönliche Daten betroffen, verhindert, dass man zusätzliche Systeme hat, um sich auszutauschen. Wir brauchen diesen Austausch zwischen den Mitgliedsstaaten. Die Mitgliedsstaaten selber sind ein bisschen offener geworden. Ich glaube, bei den Staaten ist das Problem nicht zu sehen, weil alle Mitgliedsstaaten mehr oder weniger von dem Problem auch betroffen sind, sodass sie deswegen auch einsichtig sind.
Münchenberg: Nun ist das aber, Herr Reul, nicht nur ein Problem des Datenschutzes, sondern auch der Tatsache geschuldet, dass viele Sicherheitsbehörden einfach ihre Informationen nicht weitergeben wollen.
Reul: Ja, das ist der andere Teil. Das meinte ich mit Mitgliedsstaaten. Die Mitgliedsstaaten waren in großen Zeiten einfach egoistisch, trauten dem anderen nicht. Das muss man sich mal vorstellen. In einem Europa, das zusammenwächst, ist an der Stelle mangelndes Vertrauen. Das hat sich geändert, finde ich, ein Stück. Bei den Staaten hat sich das ein Stück geändert, ja einfach, weil auch jeder betroffen war und die Notwendigkeit dann anerkannt hat.
Münchenberg: … sagt Herbert Reul (CDU), Innenminister von Nordrhein-Westfalen. Herr Reul, besten Dank für das Gespräch.
Reul: Ich bedanke mich auch! Einen schönen Tag noch.
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