Die meisten von Ihnen wissen, wie Sigmund Freud aussah. Im dreigeteilten Anzug steht er da, mit sauber konturiertem, schneeweißen Vollbart, die linke Hand in die Hüfte gestemmt, in der rechten eine Zigarre und blickt aus dem Portraitbild heraus direkt in unsere Augen – durchdringend, durchschauend, analytisch eben.
Auch fällt umgehend ein, womit man es bei Freud zu tun hat: Neben der Verdrängung, dem Penisneid, Ödipuskomplex und dem Über-Ich verbinden wir mit Freud nicht zuletzt das Unbewusste; eine umfangreiche Theorie also und – die Couch. Die berühmte psychoanalytische Couch, auf der all das durchanalysiert wird.
Während der psychoanalytische Diskurs sich um 1900 in Europa einrichtete, kannte man die Couch bald auch in der nordöstlichen Ecke des indischen Subkontinents. Versatzstücke der Freud’schen Ideen waren schnell dorthin gelangt. Eine Gruppe junger bengalischer Intellektueller unter Führung von Girindrasekhar Bose formte sich 1917 in Kalkutta zu einem psychoanalytischen Lese- und Diskussionskreis.
Bose will mehr vom Meister
Drei Jahre später begann ein Briefwechsel zwischen Kalkutta und Wien. Bose wollte Freud seine Doktorarbeit zum Thema Verdrängung schicken und hatte mit einem Mangel an übersetzten Texten Freuds zu kämpfen, weshalb er mehr vom Meister erfahren, aber auch seine eigenen Ideen vortragen wollte. Zu Beginn der Beschäftigung mit psychoanalytischer Theorie und Praxis fragte man sich in Kalkutta aber auch etwas ganz Banales: Nämlich wie er wohl aussehen mag, dieser große Psychologe. Ein mit Bose befreundeter Künstler fertige eine Bleistiftzeichnung des Wieners an, die – letztlich hatte sie wenig mit seinem Äußeren zu tun – Freud sehr amüsierte. Flugs schickte er sein berühmtes Fotoportrait nach Kalkutta, um die Vorstellung von ihm zurechtzurücken.
Uffa Jensen betrachtet in seinem Buch die Globalgeschichte der frühen Psychoanalyse zwischen 1910 und 1940. Die kurios anmutende Grundkonstellation von gegenseitiger Imagination des konkreten Anderen und dessen Denken zwischen Wien und Kalkutta liefert hierfür die Blickrichtung. Jensen geht es um ebenjene Bilder, die man sich von Freud und der Psychoanalyse machte: In der Tat trieb die boomende Psychoanalyse, oder zumindest die mit ihr assoziierte Theorie, an verschiedenen Orten recht verschiedene Blüten.
Liegestuhl statt Couch
Und so lässt sich fragen, ob das denn alles noch "Psychoanalyse" sei – eine Frage, die sich Freud und Konsorten oft stellten. Ein Ringen um Definitions- und Deutungshoheit war vorprogrammiert. Das Beispiel Kalkutta macht dies besonders deutlich. Hier entstand eine Form von Psychoanalyse, die mangels zugänglicher Literatur eine eigene Entwicklung nahm, und doch gab es die psychoanalytische Couch im übertragenen Sinne auch dort. Allerdings in Form eines Liegestuhls, der vielleicht die Verschiedenheiten schon ausdrückt.
Jensen geht sogar noch weiter und behauptet, so eine These des Buches: Die Psychoanalyse wurde nicht nur in Wien, sondern auch zeitgleich in Kalkutta erfunden. Während Kalkutta dabei als nicht-westliches Kuriosum in Jensens Buch herhält, sind Berlin und London die weiteren Schauplätze an denen die Entstehung psychoanalytischer Theorie und Praxis nachvollzogen wird. Wien wird so zu einem Ort der Psychoanalyse, von dem aus ein Ideenschatz in die Welt aufbrach.
Etwa zeitgleich nutzen auch Psychoanalytiker in Kalkutta, Berlin und London ähnlich wie Freud die vielen Vorgängermethoden in der psychotherapeutischen Behandlung von Menschen und kamen laut Jensen so ebenfalls bei dem an, was wir Psychoanalyse nennen.
Epizentren der Psychoanalyse
Der Auftrag des Buches lässt sich dann wie folgt formulieren: Jensen möchte die Fixierung im Nachdenken über die Psychoanalyse auf die übergroße Figur Freud und das geographische Zentrum Wien auflösen. Kalkutta, Berlin und London werden somit zu ganz eigenen Epizentren der Psychoanalyse, wie auch Wien eines war – eines neben anderen.
"Eigentlich standen sie allesamt – also inklusive Freud – an dem gleichen Punkt, als sie mit der psychoanalytischen Technik zu experimentieren begannen, wenn auch zeitversetzt. Sicherlich spielte es eine Rolle, dass Freud diesen Schritt bereits einige Zeit zuvor unternommen hatte, so dass seine Nachfolger seinem Beispiel folgen und seine Erfahrung berücksichtigen konnten [...]. Das versetzte sie in die Lage, alles, was sie von ihm lernten, in ihrer sich entwickelnden Praxis auszuprobieren und ggf. zu übernehmen. In gewisser Hinsicht begründeten Bose, Juliusburger, Jones, Groddeck und Freud die Psychoanalyse parallel, aber nicht gleichzeitig! So konnte die Psychoanalyse an verschiedenen Orten nacheinander immer wieder aufs Neue entdeckt werden, und Freud war, wenn man so will, zwar ihr erster, aber nicht ihr einziger Erfinder."
Liebe, Liebe, Liebelei
Jensen plädiert dafür, die Psychoanalyse nicht über einen identifizierbaren, harten Kern an Ideen zu definieren und sich vornehmlich auf Freud zu fixieren. Er möchte sie als eine Art flexibler, durchlässiger Membran um ein bestimmtes Praxisfeld therapeutischen Arbeitens herum verstehen – mit einem nur "relativen" Kern.
So definiert sich die Psychoanalyse als Therapieform durch einen spezifischen Umgang mit den Patienten, energetische Sprache und ein bestimmtes Behandlungssetup. Dieser spezifische Umgang sei durch eine konkrete "Emotionstechnik" ausgezeichnet, die "therapeutische Emotionen" hervorbringe – nicht etwa die freie Assoziation als Zugang zum Unbewussten sei die wichtige Neuerung gewesen. Die Psychoanalyse sei so eine "Übertragungsmaschine". Die hier im Spiel von Übertragung und Gegenübertragung entstehende Emotion, sei vor allem eine "therapeutische Liebe".
"Die psychoanalytische Behandlung wird damit zu einer Art Wechselspiel aus heißen und kalten Elementen. Aufseiten der Patienten kommt es zu der ‚erhöhten Temperatur des Übertragungserlebnisses‘. Dagegen wird die Analytikerin – zumindest idealerweise – zum ‚vollkommen kühlen Objekt, um das der andere liebend sich bewerben muss‘. Weil die Beziehung der beiden emotional so aufgeladen ist, erweist sich das erste Aufeinandertreffen als derart bedeutsam. Die Analyse beginnt am besten – wenn man so will – als Liebe auf den ersten Blick. Deshalb war Freud ein Meister der ersten Begegnung."
Leser werden zu Voyeuren
Uffa Jensen hat ein interessantes, hier und da überraschendes und gut lesbares Buch geschrieben, das auch einem breiteren Publikum die globalen Wanderbewegungen der Psychoanalyse und ihrer Ausformungen näherbringen kann – dabei insbesondere auch die schon länger erforschte Wirkung in Asien. Er bleibt dabei stets transparent, was seine Vorgehensweise anbetrifft und wandert immer wieder anschaulich durch die Praxen, Kongresse und Vereinssitzungen im psychoanalytischen Wien, Berlin, London und Kalkutta.
In sogenannten "Schlüssellochtexten", die den fünf Kapiteln vorangestellt werden, macht Jensen seine Leser außerdem zu Voyeuren. In verfänglichen (und historisch ungesicherteren) Szenarien werden wir Zeugen davon, wie sich der Analytiker in die Zuneigung zur Patientin verstrickt oder wie aufregend die erste Begegnung mit Freud gewesen sein mag. Die kurzen Texte bringen noch mehr Farbe in die ohnehin schon immer mit literarischen Potentialen ausgestattete Geschichte der Psychoanalyse. Manche werden das mögen, manche nicht.
Aus wissenschaftlicher Sicht bewegt sich Jensen im Trend der Abweisung universeller Annahmen und im Kontext post-kolonialen Denkens. Dabei allerdings geraten einige Stippvisiten, etwa in der Emotionstheorie oder in die neurowissenschaftliche Forschung, etwas kurz. Zudem wirkt die Annahme der Freudfixierung etwas zu stark gedacht.
Der Herr Professor mit Zigarre
Freud hat selbst mehrfach mitgeteilt, dass die Grundlagen der Psychoanalyse von frühen Wegbegleitern wie Josef Breuer stammen und sie aus der Hypnose und anderen Methoden hervorgeht. Dass die Psychoanalyse viele unterschiedliche Ausprägungen hat und mitnichten nur von Freud dominiert wird, ist in der Forschung anerkannt.
Man kann auch fragen, ob die Definition der Psychoanalyse wesentlich als Praxisform angemessen ist. Denn es handelt sich bei ihr ja gerade um eine Therapieform, die dezidiert auf einen theoretischen Kern zurückgeht – damals wie heute. Genau dieser theoretische und immer schon bewegliche Überbau ist es, der die Psychoanalyse so interessant macht, weniger die reine Praxis – die ja vielmehr eine Folge der Theorie zu sein scheint.
Und da kommt dann auch wieder Freud ins Spiel, der vor dem Hintergrund vieler vorhergehender Ansätze der wesentliche theoretische Impulsgeber wurde. Ohne, dass es dem insgesamt lesenswerten Text schadet, muss deshalb auch Jensen trotz des Anspruchs, Freud keine übergroße Bühnenzeit einzuräumen, immer wieder zu ihm zurückkehren. Und dann steht er wieder da, der Herr Professor mit seiner Zigarre und dem durchdringenden, analytischen Blick, in dem die grundlegenden Annahmen der Psychoanalyse arbeiten und scheinbar direkt auf uns Betrachter angewendet werden.
Uffa Jensen: "Wie die Couch nach Kalkutta kam. Eine Globalgeschichte der frühen Psychoanalyse"
Suhrkamp, Berlin, 538 Seiten. 28 Euro.
Suhrkamp, Berlin, 538 Seiten. 28 Euro.